Stirbt der Friedhof? | FAZ

7

Wo sich früher Grab an Grab reihte, klaffen nun immer wieder grüne Lücken. Die alte Ordnung, in der jede Familie eine Grabstelle mit Stein und Blumenbeet besaß, ist längst aufgehoben. Susanne Schmuck-Schätzel – Perlenkette, Bluse – hat den Wandel miterlebt.

Die evangelische Dekanin ist hier in Alzey und Umgebung seit mehr als zwanzig Jahren Seelsorgerin. „Das sind alles freie Plätze, das wären früher Gräber“, sagt sie über die grünen Flächen, während sie auf einer Lindenallee immer weiter in den Friedhof hineingeht. „Wobei: Es gibt auch neue Gräber.“ Sie zählt durch und kommt auf fünf in unmittelbarer Nähe. „Aber die Lücken sind da.“

Wie im rheinhessischen Alzey sieht es auf vielen deutschen Friedhöfen aus. 78 Prozent der Verstorbenen werden in Krematorien verbrannt. Gewohntes verschwindet, Neues kommt hinzu: Urnenwaldstücke, Bereiche für Sternenkinder und für Muslime. Der Wandel vollzog sich bislang hinter Friedhofsmauern, aber die sollen in Rheinland-Pfalz bald eingerissen werden. Die Landesregierung will das Bestattungsrecht reformieren. Dann können Angehörige die Asche zu Hause ins Regal stellen, sie im Rhein beisetzen oder zu einem Diamanten pressen lassen. Die Frage ist, was das alles für die Bestattungs- und Trauerkultur bedeutet. Stirbt der Friedhof?

„Er stirbt nicht, aber er wird viel kleiner“, sagt die Dekanin. Die Gesetzesnovelle gehe schon ziemlich weit, aber es sei die Reaktion auf die Bedürfnisse vieler Leute. „Was sich verändert, ist der Wunsch nach Individualität – das fing mit den Fried- und Ruhewaldbestattungen an.“ Als das aufkam, rechnete sie nicht damit, dass es sich durchsetzen würde. Es kam anders. Auch auf dem Alzeyer Friedhof stehen in einem Abschnitt junge Bäume, unter denen Urnen bestattet werden, mal mit kleinen Namensschildern im Boden, mal anonym.

Ein Ort für die Trauer

Wenn Urnen ohne Markierung bestattet werden, kann das für Angehörige manchmal belastend sein. Die Dekanin erinnert sich an eine Begegnung mit einer Dame mit Rollator in einem großen Friedwald. Die habe sie gefragt: Frau Pfarrer, können Sie mir mal zeigen, wo mein Mann ist? Die Frau fand den Baum nicht mehr. In dem Fall sei die Urne mitten im Wald gewesen, nicht etwa an einem Weg. „Da hat sich niemand darüber Gedanken gemacht, dass dieser Ort so schwer zugänglich ist“, sagt Schmuck-Schätzel. „Und darunter leiden viele.“ Sie kenne eine Reihe von älteren Frauen, die sagten: Das würden wir nicht mehr machen. Ihnen fehle ein Ort, zu dem sie kommen könnten, und auch die Möglichkeit zur Fürsorge, um Blumen aufzustellen.

Wenn jemand eine Bestattung im Meer oder in einem Fluss möchte, kann Schmuck-Schätzel damit gut leben. Sie hadert damit, dass Angehörige durch die Wahl des Bestattungsortes andere Trauernde ausschließen könnten: „Wir gehören ja niemandem, deswegen tue ich mich sehr schwer damit, jemanden nicht öffentlich zu bestatten, und das verändert sich momentan in der Sichtweise der Hinterbliebenen.“ Jeder soll sich verabschieden können. Ihr ist darum wichtig, dass Trauerfeiern und -orte möglichst für alle zugänglich sind.

Urnen im Bestattungsinstitut Brand
Urnen im Bestattungsinstitut BrandLando Hass

Schon vor vielen Jahren wurde die Seelsorgerin zu einer Familie gerufen, in der es einen Todesfall gab, und gleich am Anfang hieß es: Das sagen wir Ihnen gleich: die Bestattung wird nicht öffentlich sein. Das hatte mit familiären Unstimmigkeiten zu tun. Ein Wunsch, der zunehmend geäußert werde, sagt Schmuck-Schätzel. Das Anliegen der Dekanin ist, dass alle die Möglichkeit haben, Abschied zu nehmen, die sich einer Person verbunden fühlen und einen Ort haben, an dem sie trauern können.

Clemens Hoch, Gesundheitsminister von Rheinland-Pfalz, kennt die Bedenken. „Der Wunsch nach einem öffentlich zugänglichen Trauerort wie dem traditionellen Friedhof ist vollkommen nachvollziehbar“, sagt Hoch, der als Minister für das Bestattungswesen zuständig ist. Wo der Wunsch von Angehörigen und Freunden nach einem Trauerort mit dem Wunsch des Verstorbenen nach einer alternativen Möglichkeit kollidiert, gebe es ja durchaus andere Formen des Gedenkens. Der SPD-Politiker Hoch schlägt vor, dass es auf Friedhöfen Gedenkplatten für Personen geben könne, die gar nicht dort bestattet wurden.

Der Ausstellungsraum des Bestattungsinstituts Brand in Alzey
Der Ausstellungsraum des Bestattungsinstituts Brand in AlzeyLando Hass

Das Gesetzgebungsverfahren ist paradox. Während die Kirchen und die Opposition im Landtag die Reform scharf kritisieren, erreichten Hochs Ministerium so viele Zuschriften wie noch nie in einem Gesetzgebungsverfahren und sie seien fast ausschließlich positiv, fast dankbar, wie es heißt. Ein Mann jenseits der 90 soll dem Minister geschrieben haben, dass er hofft, erst zu sterben, wenn das Gesetz in Kraft getreten ist. Schließlich will er, dass seine Asche im Rhein beigesetzt wird.

Unter einem Beitrag des SWR auf Instagram zur Reform schreiben viele, dass sie sich gewünscht hätten, dass das Gesetz bereits gegolten hätte, als ihre Eltern oder Partner gestorben seien. „Früher war ziemlich klar, wie eine Beerdigung ablaufen soll – heute wünschen sich viele Menschen mehr Freiheiten, um ganz individuell Abschied nehmen zu können“, sagt Hoch. „Viele Menschen wollen am Ende ihres Lebens selbst entscheiden können, was mit ihren Überresten geschehen soll und wie die Trauer der Hinterbliebenen geregelt wird.“

Als Hoch die ersten Eckpunkte des Gesetzes im vergangenen Jahr vorstellte, war in einer Mitteilung vom „modernsten Bestattungsrecht“ die Rede. Auch wenn das Ministerium die Formulierung längst meidet, beziehen sich Kritiker noch immer darauf. „Nicht in jedem Bereich brauchen wir das ,Modernste‘“, sagte Christoph Gensch, gesundheitspolitischer Sprecher der CDU im Landtag. „In manchen Bereichen braucht es auch eine Ordnung und Vorgaben, um etwas Bleibendes zu schaffen. Gerade in diesem Bereich sollten die Kriterien Pietät und Würde sein, nicht Modernität.“ Die CDU argumentiert, Friedwälder und Seebestattung gebe es schon. „Mit der Abschaffung der Friedhofspflicht schafft die Landesregierung mittelfristig die Friedhöfe ab.“

Eine Lücke in einer Gräberreihe auf dem Alzeyer Friedhof
Eine Lücke in einer Gräberreihe auf dem Alzeyer FriedhofLando Hass

Der Friedhof ist nicht nur ein Ort von Pietät und Würde, seine Pflege und Unterhaltung kostet auch Geld. Konkrete Zahlen können die kommunalen Verbände nicht vorlegen, führen aber an, dass den Städten und Gemeinden durch die Friedhöfe vielerorts ein Defizit entsteht. „Eine veränderte Bestattungskultur hat ganz klar Auswirkungen auf die Finanzlage der kommunalen Friedhöfe“, teilt der Städte- und Gemeindebund auf Anfrage mit. Da auch andere Bundesländer wie Sachsen-Anhalt an einer Reform arbeiten, mahnt der Spitzenverband, die Finanzierung der Friedhöfe zu diskutieren. „Die Kommunen haben weiterhin die Pflicht, bestimmte Bestattungskapazitäten vorzuhalten“, so der Städte- und Gemeindebund. Die Finanzierung müsse erfolgen – durch die Bürger oder die Länder, die neue Gesetze erlassen.

In Alzey merkte man über Jahre, dass die Einnahmen sanken, während die Kosten für die Pflege der Flächen stiegen. Hans Werner Stark, Beigeordneter der Stadt mit rund 20.000 Einwohnern, erkannte Handlungsbedarf. 2018 begann eine Bürgerbeteiligung, um gemeinsam ein Bild des Friedhofs der Zukunft zu erarbeiten. Stark sagt, dass das nur gemeinsam gehe. Am Friedhof hingen viele Emotionen, sagt der pensionierte Arzt. Eine Änderung, die erarbeitet und später im Stadtrat beschlossen wurde, lautete, dass der Friedhof naturnäher gestaltet werden sollte. Das sei für eine ältere Generation, die sich englischen Rasen wünsche, nicht leicht gewesen, sagt Stark. Vor ein paar Jahren wurden auch neue Bäume gepflanzt, um künftig mehr Urnenbestattungen unter Bäumen zu ermöglichen.

Den Alzeyer Friedhof gibt es seit 1810

Vor allem änderte die Stadt die Gebührenordnung. Nachdem das Vorhaben bei den meisten auf Zustimmung stieß, machte man das Urnengrab deutlich teurer. Kostete eine solche Beisetzung auf einer Wiesenfläche bis dahin rund 530 Euro, stieg die Gebühr auf 1200 Euro. Das klassische Grab hingegen mit Stein und bepflanzter Fläche, für das Hinterbliebene bis dahin rund 1700 Euro entrichten mussten, sank im Preis auf 750 Euro. „Das sind schließlich Flächen, die der Bauhof nicht pflegen muss. Darum kümmern sich die Angehörigen. Deshalb lohnt sich der Anreiz dafür“, sagt Stark. Das zeigte Wirkung. Die Zahl der Sargbestattungen stieg laut Stark wieder leicht an. Gebühren für die Nutzung des Wegenetzes und der Toiletten kommen obendrauf. Insgesamt sei der Friedhof finanziell gerüstet.

Während in anderen Städten darüber diskutiert wird, ungenutzte Teile von Friedhöfen zu bebauen, schließt Alzey das aus. Der Friedhof soll so bleiben, schließlich werde er intensiv genutzt. Das hat aus Starks Sicht auch damit zu tun, dass er zwar modern ist (es gibt ebenso ein muslimisches Gräberfeld wie einen Teil für Sternenkinder), aber auch Geschichte habe. Der Friedhof ist seit 1810 dort.

Bestatter Christian Brand
Bestatter Christian BrandLando Hass

Zehn Minuten Fußweg vom Friedhof entfernt liegt das Bestattungsinstitut Brand. Im institutseigenen Café ist schon alles für einen Trauerkaffee gerichtet, gefaltete Servietten stehen auf den Tellern. Christian Brand, weißes Hemd, schwarze Hose, führt über den Hof zur Trauerhalle. Bänke, Rednerpult, Blumen. Hier werden Verstorbene aufgebahrt und Trauerfeiern abgehalten.

Der Bestatter sieht dem neuen Bestattungsgesetz gelassen entgegen. Er glaubt nicht, dass der Friedhof stirbt. Auch in Ländern mit liberalen Regelungen, etwa in den Niederlanden, gebe es nach wie vor Friedhöfe und sogar besonders schöne Anlagen wie den Venloer Naturbegräbniswald. An der Aufteilung von Feuer- und Erdbestattungen werde sich so viel nicht mehr ändern, vermutet er. Bei jeder fünften Beerdigung wird ein Sarg in den Boden gelassen, in den übrigen Fällen sind es Urnen.

Bestatter Christian Brand zeigt eine kleine Gedenkurne.
Bestatter Christian Brand zeigt eine kleine Gedenkurne.Lando Hass

Brand findet es gut, dass künftig Bestattungen im Fluss möglich sein sollen. Das Interesse daran ist groß. Mehr als ein Dutzend Leute hätten sich schon erkundigt, was sie tun müssten, wenn sie später einmal im Rhein beigesetzt werden wollen. Für die Bestattungen im Fluss gibt es spezielle Urnen aus einem Ton, der bei niedriger Temperatur gebrannt wurde und sich rasch im Wasser auflöst. Die Reform wird bei Brand zu einer Erweiterung des Warensortiments führen. Nicht zuletzt weil eine Schmuckurne fürs Wohnzimmer mehr hermachen muss als eine, die man vergräbt. Brand nimmt eine kleine türkise Urne aus dem Regal. „Das ist eine kleine Gedenkurne“, sagt er. Bislang kann man nur ein Teelicht daraufstellen, aber wenn das neue Gesetz kommt, darf auch Asche hinein.

Im Anhörungsverfahren im Landtag argumentierte der Bestatterverband strikt dagegen, dass die Asche aufgeteilt werden kann – ein Teil kommt in ein Grab, ein Teil darf mit nach Hause genommen werden. Es stehe zu befürchten, dass diese Alternative in den Entwurf aufgenommen worden sei, um die bisherige Bestattungs- und Friedhofspflicht für Totenasche aufzuheben. Die Bestatter schlagen einen Kompromiss vor, der unter anderem vorsieht, dass die Asche des Verstorbenen für einen klar definierten Zeitraum in Privaträumen aufbewahrt werden darf.

Auch andere Punkte im Gesetz sehen sie kritisch. Etwa, dass die Beisetzung von Sternenkindern an die Dauer der Schwangerschaft und Gewichtsgrenzen gekoppelt werden soll. Das stelle eine psychologische Belastung für die Eltern dar. Das Ende der Sargpflicht begleitet der Verband kritisch. Bislang ist es nur Muslimen möglich, sich im Tuch bestatten zu lassen. Die Verwesung dauert deutlich länger, weshalb bislang für Leichen, die auf diese Art beigesetzt werden, wesentlich längere Liegezeiten vorgesehen sind. Die Bestatter fordern, dass für Tuchbestattungen ein Holzverbau im Boden vorgeschrieben sein soll. Wenn das nicht geschehe, so erklärt es Bestatter Brand, entstünden Wachsleichen. „Wenn es keinen Sauerstoffaustausch gibt, wird der Verwesungsprozess mit hoher Wahrscheinlichkeit gestoppt werden“, erklärt Brand. Was später mit den Leichen geschieht, ist nicht geklärt.

Eine weitere Frage ist ebenfalls nicht geklärt: Wenn eine Frau einen Teil der Asche ihres Mannes mit nach Hause nimmt und zwei Jahre später selbst stirbt, was passiert dann damit? Die Pfarrerin Schmuck-Schätzel sorgt sich darum, dass der Umgang damit eine gewisse Beliebigkeit erfahre. Das Bild der Totenruhe habe sich ja schon verändert. Die Kirchen und die oppositionelle CDU haben inzwischen dazu aufgerufen, das Gesetzgebungsverfahren in die Zeit nach der Landtagswahl im März kommenden Jahres zu verschieben. Bislang zeichnet sich keine Bewegung innerhalb der Ampelkoalition ab, dass es so kommen könnte.

Bestatter Brand hat sich schon seine Gedanken gemacht, wie er bei den Flussbestattungen einsteigen kann. Er überlege, für Beisetzungen im kleinen Kreis auf dem Rhein ein Boot zu kaufen, sagt er. „Das wäre dann unser vierter Bestattungswagen.“