Attac und Trump: Wie die Globalisierungskritik die Seiten wechselte

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Womöglich wird man irgendwann einmal sagen, dass mit diesem 27. Juli eine neue Epoche der Weltgeschichte angefangen hat. Bislang waren es ja lediglich Behauptungen gewesen, dreiste Forderungen des nicht mehr ganz so neuen US-Präsidenten, der den Rest der Welt mit Zollforderungen überzog. Aber an jenem Sonntag hat der größte Binnenmarkt der Welt, der zweitgrößte Wirtschaftsraum nach den Vereinigten Staaten, diese Wünsche ganz offiziell akzeptiert.

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kam als Bittstellerin aufs private Golfresort des zwielichtigen Immobilienunternehmers, um seinen Wünschen ein ganzes Stück entgegenzukommen: Einseitig 15 Prozent Zoll auf die allermeisten Waren, das galt für die Europäer jetzt schon als Erfolg. Der Schweiz, die der EU nicht angehört, ihr aber wirtschaftlich eng verbunden ist, will Trump sogar einen Zollsatz von 39 Prozent abverlangen.

Angesichts der Kräfteverhältnisse, vor allem wegen der Abhängigkeit des alten Kontinents von amerikanischer Militärhilfe, war das wohl schwer vermeidbar. Aber es ist eben auch das Ende einer ganzen Epoche, der Epoche einer fortschreitenden Globalisierung. Seit 1945 hatte es unter den führenden westlichen Politikern als Gemeinplatz gegolten, dass die protektionistische Reaktion auf die Wirtschaftskrise nach 1929 die Welt in Diktatur und Verwüstung geführt hatte, dass die Zukunft nur in Freihandel und wachsender Arbeitsteilung liegen könne.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.


Der Fortschritt verlief bisweilen mühsam, er beschleunigte sich seit den Achtzigerjahren nicht bloß mit Thatcherismus und Reaganomics, sondern vor allem auch mit dem damaligen Präsidenten der EU-Kommission Jacques Delors und der Idee des europäischen Binnenmarkts. Der Zusammenbruch der staatssozialistischen Regime in Ostmitteleuropa und das Aufblühen eines chinesischen Staatskapitalismus beschleunigten den Prozess.

Dagegen gab es schon länger wachsenden Widerstand, aber viel interessanter als diese Diagnose als solche ist die politische Richtung, aus der die Marktkräfte nun gestoppt werden. Heute sind es die Rechtspopulisten, die sich dem Freihandel am stärksten entgegenstemmen. Am prominentesten geschieht das in der Figur des US-Präsidenten, an weiteren Spielarten dieses Phänomens fehlt es allerdings nicht. Fragte man die mutmaßlich verhinderte französische Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen, sie könnte lange Vorträge darüber halten, welchen Schaden Gemeinschaftswährung und Binnenmarkt an der französischen Volkswirtschaft angeblich anrichten. Noch prononcierter vertritt das die AfD, und die Liste einschlägiger Wünsche aus derselben politischen Richtung ließe sich lange fortsetzen.

Kritik an der „neoliberalen Art der Globalisierung“

Vielen ist zuletzt gar nicht mehr aufgefallen, dass damit ein erstaunlicher politischer Richtungswechsel einherging. Denn lange Zeit galt die Kritik an der Globalisierung, die jetzt als Domäne der politischen Rechten erscheint, als ein bevorzugtes Spielfeld der Linken, zumindest in ihren radikaleren Ausprägungen. So trifft sich der Europäische Rat der Regierungschefs seit 2004 vor allem deshalb fast nur noch in Brüssel, weil die Gipfel an wechselnden Orten stetig wachsende Proteste linker Gruppierungen hervorriefen, die den Binnenmarkt als bloßes Spielfeld vermeintlich illegitimer Konzerninteressen betrachteten.

Ähnliches galt für die Gipfeltreffen der führenden westlichen Industrienationen und Russlands, der damaligen G 8: Vor allem die Zusammenkunft in Genua 2001 zog linke Protestgruppen aus der ganzen westlichen Welt an, die in den hier versammelten demokratischen Staats- und Regierungschefs bloße Agenten des Groß­kapitals vermuteten.

Schon damals gab es im progressiven Milieu eine Debatte, ob sich hinter der Abwehr der Globalisierung nicht eine bloße Besitzstandswahrung der westlichen Wohlstandszone gegenüber dem ärmeren Rest der Welt verbarg. Die Hellsichtigeren unter den Aktivisten verwahrten sich deshalb schon bald gegen den Vorhalt, sie seien „Globalisierungsgegner“, und betonten, sie betrieben lediglich „Globalisierungskritik“ – oder, noch einmal abgeschwächt, Kritik an der „neoliberalen Art der Globalisierung“.

Bis heute hält sich in den fortschrittlichen Milieus europäischer und nordamerikanischer Großstädte die Vermutung, der Globalisierungsprozess der zurückliegenden vier Jahrzehnte habe im Wesentlichen in einer schändlichen Ausbeutung der Entwicklungs- und Schwellenländer durch die Wohl­stands­gesell­schaften der alten Industrienationen bestanden.

Das ist nicht nur falsch, sondern auch politisch auf fatale Weise irreführend. Betrachtet man die Kurve der globalen Einkommensentwicklung in diesem Zeitraum, so fallen vor allem zwei Dinge auf: Die außereuropäische Welt hat enorm an Wohlstand gewonnen. Und wenn es eine Gruppe auf dem Globus gab, die derweil auf der Stelle trat, dann war es vor allem jene untere Mittelschicht in den entwickelten Ländern, die jetzt überproportionale Zustimmungsraten zu den rechtspopulistischen Bewegungen aufweist.

Die Überbleibsel der Globalisierungskritik

Nun ist der globale Wohlstandsgewinn vor allem ein chinesisches Phänomen. Rechnet man die Volksrepublik aus den Statistiken heraus, fällt der Aufschwung schon deutlich bescheidener aus. Aber jene Verelendung, die von den radikaleren Globalisierungsgegnern behauptet wurde, hat es eben auch nicht gegeben. Manche machen sich heute ein gutes Gewissen, wenn sie ein T-Shirt aus Portugal kaufen, dem neuen Armenhaus Westeuropas, statt aus einem aufstrebenden Schwellenland mit seinen gewiss defizitären Arbeitnehmerrechten. Ob sie damit zu mehr globaler Gerechtigkeit beitragen, steht auf einem anderen Blatt. Die Leute aus Bangladesch oder Vietnam wurden jedenfalls nicht gefragt, ob sie auf die Einkünfte aus der Näherei lieber verzichten mögen.

Diese Formen eines romantischen Lokalismus sind allerdings nur die müden Überbleibsel der Globalisierungskritik von einst. Im Ganzen hat der Antiglobalismus einen erstaunlichen Richtungswechsel vollzogen, und zwar von beiden Seiten: In dem Maße, in dem die Rechte vom Freihandel abgerückt ist, hat sich die Linke mit ihm angefreundet.

Der entscheidende Umschwung vollzog sich mit der Finanz- und anschließenden Staatsschuldenkrise vor anderthalb Jahrzehnten. Der Bankencrash von 2008 hätte zum Triumph der Globalisierungsskeptiker werden können, hatten sie doch immer auch vor den Risiken entfesselter Finanzmärkte gewarnt. Aber die Rolle übernahm die etablierte Politik schon selbst. Die westlichen Staats- und Regierungschefs riefen die führenden Schwellenländer hinzu und etablierten die Runde der G 20, die fortan an einer Regulierung des Finanzsektors arbeitete. Das alles war aus Sicht von Kritikern gewiss unvollkommen, aber die Rollen hatten sich nun vertauscht. Statt als Agenten des Kapitals galten die Regierungen nun als dessen potentielle Bändiger.

Das letzte Aufbäumen des linken Antiglobalismus

Den Rest besorgte seit dem drohenden griechischen Staatsbankrott im Frühjahr 2010 die europäische Staatsschuldenkrise, die bis zum rettenden Machtwort des Zentralbankpräsidenten Mario Draghi zwei Jahre später die politische Debatte beherrschte. Obwohl sich an dem Mechanismus des einst kritisierten Binnenmarkts nicht das Geringste verändert hatte, genügten schon die Rufe nach gesamteuropäischer Solidarität mit den Krisenländern, um das Gemeinschaftsprojekt in einem freundlicheren Licht erscheinen zu lassen.

In Deutschland trug dazu ganz erheblich ein „Verein zur Unterstützung der Wahlalternative 2013“ bei, der sich nach geglückter Euro-Rettung im Herbst 2012 gründete und alsbald in „Alternative für Deutschland“ umbenannte. In erstaunlicher Verkehrung der Fronten waren es auf einmal auch vermeintlich liberale Wirtschaftsprofessoren, die eine „geordnete Auflösung des Euro-Währungsgebiets verlangten“ – als hätte sich die wohlstandsstiftende Rolle des Binnenmarkts über einen solchen Crash hinwegretten lassen. Der Sparkurs, den die damalige deutsche Bundeskanzlerin den Krisenländern abverlangte, stieß in Teilen der Linken zwar auf erhebliche Kritik. Dass sie ein Auseinanderbrechen Europas aber vermeiden wollte, bereitete jenem Linksmerkelianismus den Boden, der sich mit der Flüchtlingsdebatte des Jahres 2015 endgültig durchsetzte.

Ein letztes Aufbäumen des linken Antiglobalismus erlebte die Bundesrepublik in der Debatte um das geplante transatlantische Freihandelsabkommen TTIP, das in der zweiten Amtszeit Barack Obamas in greifbarer Nähe schien. Man konnte seinerzeit Politiker vom linken Flügel der Grünen erleben, die im vertraulichen Gespräch die Kritik daran für plattesten Antiamerikanismus erklärten – um wenig später in die Kampagne einzustimmen, als sich deren Massentauglichkeit erwies. Eine verpasste Chance war das vermutlich nicht, weil Donald Trump ein solches Abkommen ohnehin aufgekündigt hätte, sehr wohl aber ein Ausweis fundamentaler politischer Fehleinschätzungen.

Die Abwehr hat die Seiten gewechselt

Den Rest erledigte dann der Wahlsieg Trumps im November 2016. Dass auf einmal ein Politiker von rechts außen als erklärter Antiglobalist auftrat, ließ die Globalisierung für viele Linke endgültig in einem milderen Licht erscheinen. Jede Zollforderung des US-Präsidenten ließ die Schar der Freihandelsfreunde aufseiten seiner Gegner anwachsen. Die Abwehr gegenüber einer globalen Arbeitsteilung hatte nun endgültig die Seiten gewechselt, von der alten Linken zu einer neuen Rechten. Selbst als „Kritiker“ der Globalisierung würde sich heute kaum noch ein Vertreter des progressiven Spektrums bezeichnen, jedenfalls in dessen moderateren Ausprägungen.

Allerdings haben sich in einigen Ländern inzwischen neue Bewegungen eta­bliert, die sich selbst als politisch links verorten und gleichwohl mit trumpistischen Positionen sympathisieren. Als deutsche Vertreterin dieses Phänomens tritt die frühere Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht auf, die an europäischem Binnenmarkt, weltweiter Arbeitsteilung und dem Aufstieg der außereuropäischen Welt so wenig ein gutes Haar lässt wie die Globalisierungskritiker von einst, als wäre im vergangenen Vierteljahrhundert rein gar nichts geschehen. Im westlichen Nachbarland vertritt diese Richtung Jean-Luc Mélenchon, Parteichef des „Unbeugsamen Frankreich“, der in seinem radikalen Antiglobalismus die Positionen Le Pens inzwischen noch übertrumpft.

Weitere Beispiele aus anderen Ländern ließen sich aufzählen – inzwischen nicht bloß aus Europa und Nordame­rika, sondern beispielsweise auch aus ­lateinamerikanischen Ländern, wo sich der traditionelle Wettbewerb zwischen gleichermaßen kosmopolitischen Mitte-links- und Mitte-rechts-Bewegungen ebenfalls auf die globalisierungsskep­tischen Ränder verlagert hat. Auch das ist Teil jener Zeitenwende, die in dem „Deal“ zwischen dem US-Präsidenten und der EU-Kommissionschefin vorige Woche ihre notarielle Beglaubigung erfahren hat.