Vor einigen Wochen war Gideon Saar in Berlin zu Besuch. Auf der Pressekonferenz sagte er, was ein israelischer Außenminister in diesen Zeiten sagt. Er warnte vor Iran und wies der Hamas die Verantwortung für die Lage im Gazastreifen zu. Zudem beschwerte sich Saar, dass manche versuchten, das Opfer, also Israel, als Täter darzustellen.
Die wichtigere Veranstaltung fand etwa zur selben Zeit nicht weit entfernt statt. In einem Café in Berlin-Mitte kamen junge Palästinenser und junge Israelis zu einem Podiumsgespräch zusammen. Sie hatten an einem Nachwuchsprogramm der Organisation Parents Circle Family Forum teilgenommen, einer Vereinigung von Familien, die Mitglieder im israelisch-palästinensischen Konflikt verloren haben. Auch die Jugendlichen haben solche Verluste erlitten, manche erst vor kurzer Zeit. Dennoch sprachen sie an jenem Abend nicht nur über persönlichen Schmerz, sondern auch über geteiltes Leid und gemeinsame Hoffnung.
Und sie sagten Dinge, die manche nicht gerne hören dürften. Ein junger Israeli, dessen Großvater am 7. Oktober von der Hamas als Geisel genommen und später wohl durch einen israelischen Luftangriff in Khan Yunis getötet wurde, kritisierte diejenigen, die sich „von außen auf eine Seite schlagen, obwohl sie absolut nichts über den Konflikt wissen“. Ja, man müsse sich für eine Seite entscheiden, fügte der Teenager hinzu. Aber „das ist nicht die palästinensische Seite und es ist nicht die israelische Seite – es ist die Seite des Friedens“. Gemeinsam bekämpfen müsse man den Krieg, die Besatzung und machtversessene Politiker.
Achtzig Millionen Nahostexperten
Das ist leichter gesagt als getan, bei so viel Hass, der um sie herum herrscht. Die in Berlin zusammengekommenen Jugendlichen gehören einer Minderheit von Friedenswilligen an. Viele in Deutschland würden sie daher vermutlich als naiv bezeichnen. Vielleicht sind sie aber auch einfach noch nicht von einem Phänomen ergriffen, das den Nahostkonflikt international mehr denn je prägt und das der junge Israeli treffend beschrieb: Je weiter vom Konfliktgeschehen entfernt die Menschen sind, desto stärkere Meinungen haben sie oft. Im Falle Deutschlands könnte man sagen: Früher hieß es, wir hätten achtzig Millionen Bundestrainer – heute wirkt es mitunter so, als gebe es achtzig Millionen Nahostexperten.
Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Viele Deutsche wissen jedoch eigentlich nicht viel über Israel und Palästina. Der dort tobende Konflikt wird daher zum Objekt ihrer Projektionen und Vorurteile. Das ist schon oft beschrieben und bemängelt worden. Die einen stören sich an einer Vergangenheitsfixierung des offiziellen Deutschlands und sprechen von einem Schuldkomplex, der Kritik an Israel verhindere. Die anderen geißeln Linke und Akademiker, deren antikoloniale Haltungen sie zu einer undifferenzierten Unterstützung des palästinensischen Befreiungskampfs bis zur Verklärung von Terrorismus verleiteten. Oft fällt aber auch diese Kritik einseitig aus. Denn beide Phänomene gibt es tatsächlich. Wer aber stets nur eines davon thematisiert, ist unaufrichtig oder kann zumindest nicht für sich in Anspruch nehmen, ausgewogen zu urteilen.
Auf diese Weise ist die deutsche Debatte über Israel und Palästina nach dem 7. Oktober entgleist, mit verheerenden Folgen. Es ist ein tragisches Versagen, dass es nicht gelang, moderate Kräfte aus beiden Lagern umgehend etwa zu einer gemeinsamen Kundgebung oder Erklärung zu bewegen. Stattdessen haben sich antiisraelische Haltungen mit ungeheurer Geschwindigkeit radikalisiert und das Niveau körperlicher Gewalt gegen Juden erreicht. Die überforderte Politik hat die Lage durch einseitige Solidaritätsbekundungen und Eingriffe in die Meinungsfreiheit schlimmer statt besser gemacht. Wahnwitzige Maßnahmen wie Kufiya-Verbote an Berliner Schulen wurden verkündet. Bis heute greift oft Hysterie um sich, sobald es um palästinensische Symbole geht.
Ein grundsätzliches Missverständnis
Das hat nicht nur die Gräben vertieft. Es hat auch einem grundsätzlichen Missverständnis Vorschub geleistet: Die Begriffe „propalästinensisch“ und „proisraelisch“ werden immer öfter im Sinne einer einseitigen, exklusiven Parteinahme verstanden. So hat sich die Auffassung verbreitet, dass propalästinensisch im Grunde das Gleiche sei wie antisemitisch oder dass proisraelisch automatisch Unterstützung für Netanjahu bedeute.
Auch hier kann man von den Jugendlichen in Berlin lernen. Denn das Gegenteil ist der Fall: Es gibt eine Seite des Friedens, und sie ist sowohl proisraelisch als auch propalästinensisch. Wer immer sich als Vertreter oder Unterstützer einer der Konfliktparteien präsentiert, vom Kufiya tragenden Studenten bis zum israelischen Außenminister, sollte danach befragt werden, ob er diese Ziele teilt: Versöhnung, Gleichberechtigung und Koexistenz. Nur das wäre eine Haltung, die die Vorsilbe „pro“ verdient hat.