Nach 100 Tagen im Amt erhält die schwarz-rote Regierung von Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) schlechte Noten von Ökonomen. Im F.A.Z.-Ifo-Ökonomenpanel werten 42 Prozent der befragten Volkswirte die Wirtschaftspolitik der ersten 100 Tage als eher oder sehr negativ. Nur 25 Prozent der Ökonomen sehen die wirtschaftspolitische Bilanz eher positiv. Als Hauptkritikpunkte kristallisieren sich ausbleibende Reformen der Sozialsysteme und die Reform der Schuldenbremse heraus, die Merz entgegen seiner Wahlversprechen noch vor seiner Wahl zum Bundeskanzler im alten Bundestag initiiert hatte.
„Die Regierung stolpert planlos in die Schuldenfalle“, sagt der emeritierte Professor Wolfgang Scherf von der Universität Gießen. „Einigkeit zeigt die Regierung hauptsächlich bei höherer Staatsverschuldung“, betont Alfons Weichenrieder von der Universität Frankfurt. „Das wird nicht reichen für eine Wirtschaftspolitik aus einem Guss, auch weil die Handlungsspielräume schnell aufgebraucht sind.“
Unter den positiven Stimmen wird der stärkere Fokus vor allem auf mehr öffentliche Investitionen, aber auch auf die Verteidigung genannt. Doch fast genauso viele Ökonomen, welche die öffentlichen Investitionen loben, sehen in der bisherigen Wirtschaftspolitik gar nichts Positives. Besonders negativ stoßen den wirtschaftlichen Kritikern die Ausweitung der Mütterrente und die Rentenpolitik auf, die auf eine Stabilisierung des Rentenniveaus bis zum Jahr 2031 unter gleichzeitiger Ausweitung des steuerfinanzierten Rentenzuschusses hinausläuft.
„Dass die Koalitionäre die Wirtschaftsministerin in der aktuellen Debatte um Rente und Lebensarbeitszeit ins offene Messer laufen lassen, obwohl die demographischen Fakten klar auf dem Tisch liegen, ist ein Alarmsignal“, sagt Mario Bechtel von der Leuphana-Universität-Lüneburg. „Ohne schnelle und umfangreiche Reformen des Sozialversicherungssystems läuft es gegen die Wand“, erklärt Gunther Markwardt von der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Hamburg.
Das Urteil der Ökonomen über die wirtschaftspolitische Kompetenz der Regierung fällt insgesamt mäßig aus. 53 Prozent der Befragten werten die Kompetenz in der Wirtschaftspolitik als mittelmäßig, 31 Prozent als eher oder sehr gering und nur 15 Prozent als eher oder sehr hoch. Manche Ökonomen in der Umfrage loben die Kompetenz des Kanzlers und der Wirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU), verweisen aber zugleich auf die Schwierigkeiten, in der Koalition eine klare Linie durchzusetzen.
Eine echte Wirtschaftswende, wie sie die Union angekündigt hatte, hat die Regierung darum aus Sicht der Volkswirte bislang nicht geschafft. Es fällt Schwarz-Rot offenbar schwer, sich von der vorherigen Regierung wirtschaftspolitisch abzusetzen. Weitgehend ausgeglichen antworteten die Ökonomen auf die Frage, wie stark sich die schwarz-rote Regierung von der vorherigen Ampelkoalition von Union, SPD und FDP unterscheide. 41 Prozent sehen eher oder sehr starke Unterschiede, und ein ebenso hoher Anteil sieht eher oder sehr wenig Unterschiede. Als wichtigste Änderung nennen die Befragten die Erhöhung des Verteidigungsetats. Die Steuer- und Sozialpolitik wird nach Einschätzung der Ökonomen dagegen überwiegend durch das Motto „Weiter so“ geprägt.
Viele Konjunkturforscher erwarten, dass die Bundesregierung die Wirtschaft im kommenden Jahr mit den schuldenfinanzierten Investitionsmilliarden kräftig anschieben wird. Diese Einschätzung teilt die Hälfte der befragten Ökonomen. 34 Prozent sehen die Auswirkung der bisherigen Wirtschaftspolitik dagegen als neutral und 13 Prozent als eher oder sehr negativ. „Die beschleunigten Abschreibungen setzen einen Investitionsimpuls in der gegenwärtigen schlechten konjunkturellen Lage. Mittelfristig macht die Senkung des Körperschaftsteuersatzes Investitionen attraktiver“, kommentiert Dominika Langenmayer von der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt: „Allerdings kann das nur ein kleiner erster Schritt sein. Jetzt müssen große Reformen zum Beispiel beim Bürgergeld und bei der Rente angegangen werden.“
Die Wachstumsaussichten auf mittlere Frist schätzen die Ökonomen weit skeptischer ein als die kurzfristige Konjunkturentwicklung. Nur 35 Prozent gehen davon aus, dass die Wirtschaftspolitik der ersten 100 Tage das Wachstum dauerhaft stärken werden. 26 Prozent vermuten dagegen, dass die bisher getroffenen Maßnahmen das Wachstum mittelfristig eher belasten werden. Positiv nennen die Ökonomen den möglichen Wachstumseffekt durch zusätzliche Investitionen in die Infrastruktur. Auf der negativen Seite wird betont, dass strukturelle Reformen zur Steigerung des Arbeitsangebots oder zur Förderung von Innovationen bislang ausgeblieben seien.
Uwe Cantner von der Universität Jena bemängelt den ausbleibenden Innovationswillen. „Man versucht bisher, den ‚Patienten‘ zu stabilisieren; die ‚Medizin‘ für die entscheidenden Innovationssprünge wurde noch nicht in ausreichendem Maße verabreicht“, sagt er: „Unternehmen haben (noch) hohe Rücklagen, die es gilt, für Deutschland in moderne Technologien und Weiterentwicklungen zu investieren.“ Doch Cantner verweist darauf, dass die Unsicherheiten noch zu hoch seien, um die Unternehmen zu Investitionen anzuregen.
Für die Umfrage, die das Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung in München in Zusammenarbeit mit der F.A.Z. erstellt, wurden rund 700 Volkswirte an deutschen Universitäten per E-Mail befragt. 170 der Befragten beteiligten sich in dieser Runde.