Durchbruch im Donbass: Wo die Frontlinie verläuft, weiß niemand so genau

5

Vor dem letzten Abschnitt bremsen die Soldaten noch einmal ab. Der Fahrer hält unter einem schützenden Baum am Straßenrand. Dann raunt er in das Funkgerät: „Wie sieht der Himmel aus, Männer?“ Nach ein paar Sekunden gibt es Entwarnung. Da oben ist nichts zu sehen, es kann losgehen. „Einen Americano mit Milch, wir sind gleich da“, funkt er zurück und drückt aufs Gas.

Das Rauschen des leicht geöffneten Fensters wird stetig lauter, die Tachonadel steigt: 110, 140, 160. Die Befehlshaberin auf dem Beifahrersitz zieht emotionslos an ihrer E-Zigarette. Der Presseoffizier liegt auf der Ladefläche des Pritschenwagens, damit die Reporter im Inneren Platz haben.

Die größte Gefahr sind die Drohnen

Der morgendliche Himmel ist sonnig und klar. Perfektes Drohnenwetter. Auf der löchrigen Piste sieht man hier und da die Überreste abgestürzter Exemplare. Die beiden Soldaten auf der Vorderbank suchen den Himmel deshalb permanent mit ihren Blicken ab. Die Piste in Richtung Geschützdonner ist zumindest von schützenden Bäumen umrahmt. Nur der letzte Teil ist knifflig. Von der asphaltierten Straße geht es auf einen Feldweg. Hier muss man langsam fahren. Zudem gibt es keine Bäume mehr, die Schutz bieten.

Vollgas: Wer den Drohnen entwischen will, der drückt auf die Tube
Vollgas: Wer den Drohnen entwischen will, der drückt auf die TubeDaniel Pilar

So ein voll beladener Pickup ist für russische Drohnenpiloten eigentlich ein lohnendes Ziel. Doch noch ist der Himmel frei, der dunkelgrüne Wagen verschwindet im Gestrüpp einer Baumreihe. Das kleine Wäldchen zwischen zwei Feldern haben die Artilleristen der 32. Mechanisierten Brigade zu einer Stellung ausgebaut. In einer Erdmulde steht ihre Haubitze. Dutzende Meter weiter – ebenfalls unter der Erde – ihr Verließ voller Feldbetten.

Sie verteidigen hier die Reste des Gebiets Donezk, die noch unter ukrainischer Kontrolle stehen. Die größte Gefahr hier sind die vielen Drohnen am Himmel. Mit jedem Monat werden es mehr. Die Nulllinie liegt rund sechs Kilometer entfernt, sagen sie. So ganz genau wisse man das aber nicht. Denn zum einen verändert sich die Lage täglich. Zum anderen ist die Abgrenzung insgesamt schwerer geworden.

Alles im Blick: Im Drohnenkontrollraum der 32. Mechanisierten Brigade
Alles im Blick: Im Drohnenkontrollraum der 32. Mechanisierten BrigadeDaniel Pilar

In der Theorie folgt auf den letzten – voll besetzten – ukrainischen Schützengraben der erste russische. In der Realität ist die Lage weitaus dynamischer, mitunter chaotisch. Sorgsam ausgehobene, breite Gräben und Stellungen im offenen Gelände sind oft verwaist. Sie sind zu exponiert, sie zu verteidigen käme einem Himmelfahrtskommando gleich. Die Soldaten verschanzen sich in versteckten Kellern oder Baumreihen. Funkverbindungen reißen ab, Kommandeure belügen sich gegenseitig, die Soldaten im Graben sind in der Regel „blind“.

Ohne die Augen der Drohnen wissen sie nicht, was um sie herum passiert. Und selbst von oben sind die Stellungen schwer auszumachen. Man hört in diesen Wochen im Donbass von Mörsereinheiten, die sich plötzlich russischen Infanteristen gegenübersehen. Oftmals ist selbst Drohnenpiloten nicht klar, wie viele bemannte Positionen noch zwischen ihnen und dem Feind liegen.

Aufklärungsgruppen im Rückraum

Die Russen setzen auch ganz gezielt auf den Überraschungseffekt. Mechanisierte Angriffe sind selten. Kleine Gruppen stoßen in der Dunkelheit zu Fuß vor. Anstatt frontal anzugreifen, umgehen sie ukrainische Positionen, um sich dahinter festzusetzen. Die einst klare Grenze zwischen russisch und ukrainisch kontrolliertem Territorium verschwimmt zunehmend, die „graue Zone“ weitet sich aus.

Zu diesem Zweck setzen die Besatzer auch auf sogenannte „DRGs“, Ablenkungs- und Aufklärungsgruppen. Sie schleichen sich hinter feindliche Linien, verlegen dort Minen und greifen feindliche Soldaten aus dem Hinterhalt an. Ihr Effekt im Informationskrieg ist enorm. Als vor Wochen vereinzelte Videos solcher Hinterhalte aus Pokrowsk durch das Netz gingen, verbreiteten sich die Aufnahmen rasant. Mit der Veröffentlichung versuchte Moskau, Chaos und Verwirrung unter den Verteidigern zu stiften. Immerhin vermuteten Beobachter die russischen Truppen noch weit außerhalb der Stadt.

An Nachschub mangelt es hier nicht: Die 155mm-Granaten legt man per Hand ein
An Nachschub mangelt es hier nicht: Die 155mm-Granaten legt man per Hand einDaniel Pilar

Die Artilleristen bei Pokrowsk haben ihre M-109-Haubitze („Palladin“) sorgsam in einem Erdloch versteckt. Darüber sind Baumstämme gestapelt. Nur das Rohr schaut ein wenig heraus. In der Baumreihe stehen auch andere Erdlöcher bereit, so können sie die genaue Position verändern und den Russen das Zielen erschweren. An Munition mangelt es nicht. Gut 150 Schuss am Tag sind nicht die Regel, aber auch keine Seltenheit. Am schnellsten nutzt sich das Rohr der Geschütze ab, erzählen sie. Noch Monate zuvor waren sie mit einer alten, sowjetischen D-20-Kanone an einem ruhigen Frontabschnitt eingesetzt. Die junge Befehlshaberin Tesla erzählt, ihre Männer hätten sich dadurch „unzerstörbar“ gefühlt. Mit den amerikanischen Haubitzen an einem der heißesten Abschnitte aber wehe nun ein anderer Wind.

Operativer Durchbruch nördlich von Pokrowsk

Vor ein paar Wochen hat es ein paar Jungs ihrer Kompanie auf dem Weg zur Position erwischt. Weil die Drohne nicht in das Auto, sondern nur in einen Baum daneben einschlug, hätten aber alle überlebt. Der Abschnitt bei Pokrowsk gehört zu den umkämpftesten entlang der gesamten Front. Lange sah es so aus, als würde die zunehmend zerstörte und entvölkerte Stadt als nächstes der russischen Eroberung zum Opfer fallen.

Seit Wochenbeginn zeichnet sich aber nördlich der Stadt ein operativer russischer Durchbruch ab. Laut den Analysten der ukrainischen Plattform „Deepstate“ sind die Russen rund 15 Kilometer tief in die ukrainische Verteidigung zwischen Dobropilija und Kostjantyniwka vorgestoßen. Bevor sich die Verteidiger also aus dem gut befestigten Pokrowsk zurückziehen müssen, könnte nun sogar Dobropilija an die Russen fallen. Berichten zufolge sind die Positionen dort weniger vorbereitet und oftmals unbesetzt. Der Mangel an Infanterie macht sich mittlerweile überall bemerkbar.

Versorgungsroute abgeschnitten

Die ukrainische Armeeführung dementierte am Dienstag einen Durchbruch. Es handele sich lediglich um Ablenkungs- und Aufklärungsgruppen, die Positionen umgangen hätten. Trotzdem wurde die Verlegung kampfstarker ukrainischer Brigaden in die Region publik. Sollte es den Besatzern gelingen, den Keil noch tiefer in die Verteidigung zu schlagen, könnte dies eine weitere Verschlechterung bedeuten.

Käfigaufbauten sollen vor FPV-Drohnen schützen: Ein gepanzertes Fahrzeug der Ukrainischen Armee im Donbass
Käfigaufbauten sollen vor FPV-Drohnen schützen: Ein gepanzertes Fahrzeug der Ukrainischen Armee im DonbassDaniel Pilar

Russische Kriegsblogger erinnern euphorisch an den Durchbruch von Otscheretyne im vergangenen Jahr, der nach dem Fall von Awdijiwka weitere Eroberungen in der direkten Umgebung ermöglichte. Sollten die Russen sich festsetzen, dürfte das die Logistik im Donbass weiter erschweren. Die wichtige Versorgungsroute zwischen Dobropilija und Druschkiwka wäre abgeschnitten. Besorgte ukrainische Beobachter sehen durch den russischen Vorstoß die gesamten Reste des ukrainisch kontrollierten Donbass in Gefahr.

Die Drohnen erkennen sie am Surren

In einer Feuerpause sitzen die Artilleristen unter einem Netz getarnt im Schatten. Es gibt Kaffee. Auf den Bechern ist die Landschaft abgebildet. Oben der blaue Himmel, unten gelbe Weizenfelder. Blau-gelb wie die ukrainische Fahne. Die Männer und ihre Kommandantin erzählen, es ergäbe keinen Sinn, es sich hier allzu gemütlich zu machen. Die Front verschiebe sich stetig, deshalb müsse man oft die Position wechseln. Außerdem seien die westlichen Geschütze etwas reparaturbedürftiger als die sowjetischen.

Garderobe voller Waffen: Die Soldaten richten sich am Einsatzort häuslich ein
Garderobe voller Waffen: Die Soldaten richten sich am Einsatzort häuslich einDaniel Pilar

Plötzlich blicken hoch. Vom Himmel ist ein unangenehmes Geräusch zu vernehmen. Ein mechanisches, lautes Brummen, von einem riesigen Insekt. „In den Bunker“, ruft noch jemand. Schon stürzen alle die erdigen Stufen hinab in den Unterschlupf. Die Analyse ist schnell und eindeutig. Eine FPV-Drohne, mit Sprengsatz – das erkennen sie am Klang; Unbeladene, leichte Drohnen seien leiser.

Immer erreichbar: Für die Koordination verwenden „Kum“ und „Tesla“ auch ihre Mobiltelefone
Immer erreichbar: Für die Koordination verwenden „Kum“ und „Tesla“ auch ihre MobiltelefoneDaniel Pilar

„Wenn sie uns bemerkt hat, dann wird es gleich laut“, sagt einer. Denn dann würden die Russen diese Baumreihe die nächsten Stunden immer wieder anfliegen. Die Drohnen suchen dann im Tiefflug nach Tunneleingängen. Haben sie Ziele ausgemacht, kommt eine Drohne nach der nächsten. Einer der Männer geht mit der Schrotflinte wieder nach draußen, um die „Vögelchen“ notfalls vom Himmel zu holen. Explosionen aber hört man weiter nur in der Ferne. Der Pilot hat sich offenbar ein anderes Ziel gesucht. Der Drohnendetektor in der Ecke gibt kein Geräusch von sich. Das Katz-und-Maus-Spiel mit den Radiofrequenzen ist auch für die Soldaten unberechenbar.

Alles wird getarnt: Munition und Geschütz dürfen aus der Luft nicht leicht zu erkennen sein
Alles wird getarnt: Munition und Geschütz dürfen aus der Luft nicht leicht zu erkennen seinDaniel Pilar

Die Journalisten sollen sich jetzt auf den Weg machen. Auf dem Weg durch das Dickicht zum Wagen lauschen die Kombattanten auf jedes Geräusch. Der Fahrer hat seine Flinte im Anschlag. Immer wieder ist ein leises Surren zu hören, mal näher mal ferner. Manchmal ist es so leise, dass man es kaum von den echten Insekten unterscheiden kann, die auch hier herumfliegen. Nur das dichte Unterholz spendet etwas Deckung.

Der Weg zurück steht dem Hinweg in nichts nach. Vollgas – und ein waches Auge auf den Himmel. Mit 150 Sachen Richtung Westen. Die angenommene Reichweite der feindlichen Drohnen bestimmt, bis wohin das Gefahrengebiet reicht. Ausnahmezustand und Normalität liegen dabei unglaublich nah beieinander.

Von der mit Drohnenresten übersäten Schotterpiste braucht es nur rund zwanzig Minuten Autofahrt, bis man die ersten Menschen beim Angeln oder beim Autoputz sieht. Neben den dunkelgrünen Pickups der Armee tauchen wieder alte, bunte Ladas auf. In vermeintlicher Sicherheit dann doch noch eine Explosion. „Das war eine FPV-Drohne, vielleicht 300 Meter von uns“, sagt der Mann am Lenkrad.

Mitarbeit: Yulia Serdyukova