Der große gelbe Bagger auf dem Trümmerkegel greift nur kurz in die Fassade des heruntergekommenen Backsteinhauses im Gelsenkirchener Stadtteil Bismarck, schon stürzt wieder ein Stück Mauer herunter. Mit einem breiten Wasserstrahl fängt ein Arbeiter die Staubwolke ab. Ein ganzer Block sogenannter Schrottimmobilien wird derzeit in der Straße Ahlmannshof abgerissen. Im Hintergrund ragt der alte Förderturm der 1993 stillgelegten und zum Stadtteilpark umgebauten Zeche Consolidation in den Himmel.
Vom gegenüberliegenden Gehsteig aus beobachtet Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) einige Augenblicke lang wortlos die Szene. Bas ist in Gelsenkirchen, um ihre sozialdemokratische Parteifreundin Andrea Henze im Kommunalwahlkampf zu unterstützen und das Signal zu senden: „Wir sehen die Menschen und ihre Probleme.“
Vor wenigen Jahren noch war Gelsenkirchen für die SPD eine sichere Bank, regelmäßig erreichte sie bei Wahlen mehr als 50 Prozent. Die Zeiten sind vorbei. Im Februar konnte SPD-Mann Markus Töns zwar sein Gelsenkirchener Bundestagsdirektmandat mit etwas mehr als 31 Prozent der Stimmen gegen seinen Konkurrenten von der AfD verteidigen. Doch bei den Zweitstimmen verdrängte die in Teilen rechtsextreme Partei die Sozialdemokraten knapp von Platz eins.
Die AfD dürfte erheblich hinzugewinnen
Wenn am 14. September in Nordrhein-Westfalen Kommunalwahlen stattfinden, dürfte die AfD vielerorts erheblich hinzugewinnen, gerade auch in Gelsenkirchen – weil dort besonders viele Bürger von den anderen Parteien oder pauschal von „der Politik“ enttäuscht sind. Die AfD bedient diese Stimmung mit Slogans wie „Wähl die Lösung, nicht das Problem“ auf ihren Plakaten. Viel mehr Wahlkampf braucht sie gar nicht zu machen. Ihr Oberbürgermeisterkandidat Norbert Emmerich scheint bessere Chancen zu haben, in die Stichwahl zu kommen als die CDU-Kandidatin Laura Rosen. Dabei wird der 73 Jahre alte Bankkaufmann kaum als ernsthafter Aspirant wahrgenommen.
Seit vielen Jahrzehnten wird Gelsenkirchen, wo in den besten Zeiten der Montanindustrie beinahe 400.000 Menschen lebten und das heute nur noch 260.000 Einwohner zählt, besonders früh und heftig von Krisen getroffen. Gilt der FC Schalke 04 – obwohl zur Spielzeit 2023/24 wieder einmal in die zweite Liga abgestiegen – seinen Anhängern als deutscher Fußballmeister der Herzen, dann ist Gelsenkirchen der Meister der Härten. Keine Stadt hat unter der Montankrise so sehr gelitten wie Gelsenkirchen.
Wie nur wenige andere Städte – überwiegend ebenfalls im Ruhrgebiet – hat Gelsenkirchen ein zusätzliches Problem obendrauf gepackt bekommen: die Armutsmigration aus Südosteuropa. Deutschland profitiert erheblich von der Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU. Noch mehr Fachkräfte als ohnehin schon würden fehlen, wenn nicht auch aus Rumänien und Bulgarien in den vergangenen Jahren so viele fleißige Leute nach Deutschland gekommen wären. Die Beschäftigungsquote unter Rumänen und Bulgaren liegt im deutschen Durchschnitt in etwa so hoch wie jene der Gesamtbevölkerung.
In Ruhrgebietskommunen wie Duisburg, Hagen und Gelsenkirchen ist das anders. Besonders niedrig ist der Wert in Gelsenkirchen – wo nur 13 Prozent der etwas mehr als 12.000 Rumänen und Bulgaren sozialversicherungspflichtiger Arbeit nachgehen und wo die Arbeitslosenquote mit mehr als 15 Prozent besonders hoch ist und ohnehin schon viele Bewohner auf Sozialhilfe angewiesen sind. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit habe sich aus Gelsenkirchener Perspektive zu einer „Sozialleistungsfreizügigkeit“ entwickelt, resümierte die scheidende Oberbürgermeisterin Karin Welge (SPD) vor einiger Zeit bitter. Immer wieder warnte sie davor, dass in Gelsenkirchen der soziale Friede in Gefahr sei.
Skrupellose Geschäftemacher und ein mafiöses Ausbeutungssystem
Vor der Abrissbaustelle in Gelsenkirchen-Bismarck fasst Bundesarbeitsministerin Bas zusammen, was Armutsmigration mit Schrottimmobilien zu tun hat: Seit der EU-Osterweiterung gibt es skrupellose Geschäftemacher, die es verstehen, die Arbeitnehmerfreizügigkeit gezielt für ein mafiöses Ausbeutungssystem auszunutzen und den deutschen Staat gleich mehrfach zu melken. Sie kaufen heruntergekommene Häuser, um sie dann zu horrenden Preisen vorwiegend an Roma-Familien zu vermieten.
„Die Menschen werden gezielt hierhin gelockt, erhalten eine Bruchbude, kriegen – wenn sie Glück haben – einen Miniarbeitsvertrag und ergänzen dann mit Sozialleistungen, die ihnen am Ende abgezockt werden“, sagt Bas. Es handle sich um komplette Strukturen. „Denen gehört das Haus, von denen stammen die oft fingierten Arbeitsverträge.“ Die Armutsflüchtlinge sind also Opfer eines perfekten Ausbeutungssystems: Denn oft behalten die Kriminellen das geringe Einkommen, die aufgestockte Sozialhilfe, die vom Staat erstatteten Kosten für Miete, Heizung und auch das Kindergeld. Den Armutsflüchtlingen, die oft weder lesen noch schreiben können, bleibt meist nur, was sie mit Schwarzarbeit verdienen.

Das Ergebnis dieser Zuwanderung sind überfüllte Kitas, überforderte Schulen und wachsender Frust in der Nachbarschaft, sagt Axel Barton, der Vorsitzende der SPD-Fraktion im Gelsenkirchener Rat. „Ein Riesenproblem sind auch die Müllberge.“ Täglich müsse die Stadtreinigung Dutzende wilde Müllhaufen entfernen, und am Tag darauf sehe es wieder genauso aus. „Leider gibt es in meiner Partei immer noch Genossen, die das Problem beschönigen und glauben, wir könnten diese Menschen integrieren. Diese Menschen wollen sich gar nicht integrieren lassen, weil sie in der Erwartung leben, dass sie wie seit Generationen am Rand der Gesellschaft leben, egal wo sie sind.“
Barton verweist auf die hohe Fluktuation: Während im vergangenen Jahr 8766 Personen aus Südosteuropa neu nach Gelsenkirchen kamen, verließen 7652 die Stadt wieder. „Diese Menschen ziehen in andere Kommunen weiter.“ Immer und immer wieder müsse von Neuem mit der Integration begonnen werden. „Absurderweise müssen sie nach Definition des Landes und des Bundes gar nicht integriert werden, weil sie im bestehenden Migranten-Verteilungsschlüssel als EU-Bürger gar nicht berücksichtigt werden“, sagt Barton, der seine Sorgen und Nöte schon im Februar in einem dreizehnseitigen Brandbrief an die Bundesvorsitzenden von CDU und SPD aufgelistet hat.
Nach der Bundestagswahl sandte die Gelsenkirchener Verwaltung einen Forderungskatalog zu den Themen Altschulden, Armutsmigration und Abbruchhäuser an die Unterhändler der Parteien, ausdrücklich auch stellvertretend für Kommunen mit ähnlichen Problemen.
Bas will die „mafiösen Strukturen“ zerschlagen
In ihrem Koalitionsvertrag versprachen Union und SPD dann immerhin, das Vorkaufsrecht bei Schrottimmobilien zu stärken und konsequent gegen groß angelegten Sozialmissbrauch vorzugehen. Bärbel Bas, die aus Duisburg kommt und die Probleme von dort gut kennt, kündigt auch in Gelsenkirchen an, die „mafiösen Strukturen“ zu zerschlagen. Wie genau das gelingen soll, bleibt nebulös. Sie spricht von besserem Datenaustausch zwischen den beteiligten Behörden wie Finanzämtern, Jobcentern, Familienkassen und Sicherheitsbehörden. An der Arbeitnehmerfreizügigkeit wolle niemand rütteln, sagt Bas.
Doch die Regeln für die Umsetzung will sie verändern. „Das Ziel der Arbeitnehmerfreizügigkeit kann nicht das Aufstocken mit Sozialleistungen sein. Wenn jemand für einen Fünf-Stunden-Arbeitsvertrag nach Deutschland kommt, find ich das schräg.“ Die Bundesarbeitsministerin spielt auf die aktuelle Verdienstuntergrenze an. Auf den Vorschlag ihres Genossen Barton, Armutsmigranten künftig nach dem Königsteiner Schüssel über ganz Deutschland zu verteilen, geht Bas ebenso wenig ein wie die SPD-Oberbürgermeisterkandidatin in Gelsenkirchen, Andrea Henze.
Die 49 Jahre alte Henze ist seit 2021 Dezernentin für Arbeit, Soziales und Gesundheit in Gelsenkirchen und also auch vertraut mit dem Problemknäuel Problemimmobilien. Ihr Slogan im Oberbürgermeisterwahlkampf, in dem sie auch von den Grünen unterstützt wird, heißt „Anpacken. Aufsteigen.“ Der Gelsenkirchener Selbstwahrnehmung, die Stadt der tausend Härten zu sein, setzt sie ein verwegenes Versprechen entgegen: einen „Aufstiegsplan“. Die Stadt brauche das Gefühl des Aufstiegs, glaubt Henze.
„Aufbruch durch Abriss“
„Wir sehnen uns wieder nach einem Aufstieg. Nicht nur auf Schalke in Königsblau.“ Schritt für Schritt soll es aufwärtsgehen – mit neuen Kitas und Schulen, die sie „Fördertürme für Zukunft“ nennt, durch Ansiedelung von Unternehmen und Mittelstandsförderung, durch mehr Sicherheit, Sauberkeit und Zusammenhalt. Konsequent gehe man gegen windige Geschäfte mit Problemimmobilien vor, sagt Henze.
In Bismarck fällt Henze vor der Baustelle ein weiterer Slogan ein: „Aufbruch durch Abriss.“ Denn dort, wo sich gerade dröhnend der Abrissbagger dreht, soll bald mit dem Bau einer neuen Kita begonnen werden, um den Stadtteil aufzuwerten. Das sei ein gutes Beispiel dafür, wie man aus einer schweren Krise einen Aufbruch schaffen könne, findet Henze, während gegenüber wieder ein Stück Schrottimmobilie auf den Trümmerkegel kracht. „Es ist selbstverständlich ein Übergang, der nicht einfach ist. Deshalb haben wir ein großes Fest organisiert, eine Abrissparty, um bei den Anwohnern um Verständnis zu werben und über die Entwicklungsperspektiven für ihr Viertel zu reden.“

Wie viel noch zu tun ist beim „Aufbruch durch Abriss“ in der geschrumpften, vom Leerstand geplagten Stadt, macht ein Blick auf die Zahlen deutlich: Mehr als 500 Schrottimmobilien gibt es in Gelsenkirchen. Dass die klamme Kommune das Problem in großem Maßstab angehen kann, ist der „Zukunftspartnerschaft“ zu verdanken, die sie Ende 2022 mit dem Land Nordrhein-Westfalen und dem Bund eingegangen ist. Seither hat Gelsenkirchen allein vom Land 30 Millionen Euro bekommen, um heruntergekommene Häuser kaufen zu können, um sie abzureißen oder zu modernisieren.
„Die wichtigste Botschaft an die Menschen ist: Wir geben euch nicht auf!“, sagt Bundesarbeitsministerin Bas. Einer älteren Frau, die sich darüber beschwert, dass sich der Abriss der Häuserzeile schon so lange hinzieht, versichert Bas: „Es wird bald besser.“
Dann muss Bas weiter. Ihre Termine sind eng getaktet. Zeit für ein längeres Gespräch mit Anwohnern bleibt nicht. Uwe Schmelz hat gar nicht mitbekommen, dass die Ministerin im Viertel war. „Ist nicht schlimm, es bringt uns ja nix, dass sie hier große Reden schwingt“, sagt er. Gelsenkirchen-Bismarck sei im besten Sinne multikulti gewesen. „Doch dann gab’s die Freizügigkeit auch für Südosteuropäer.“ Der Abriss von Problemimmobilien sei ein Lichtblick für das Viertel. „Denn hier haben wir auch sehr viel guten Wohnraum.“ Trotzdem hätten die allermeisten im Viertel die Hoffnung verloren, dass sich nun wirklich etwas zum Besseren wendet. Weil immer noch so viel Müll herumliegt. Weil Großfamilien jetzt im Sommer manchmal bis ein Uhr in der Nacht in lärmenden Rudeln die Straße bevölkern.
Mit seiner Lebensgefährtin und Freunden hat Schmelz die Bürgerinitiative „Kehrwoche“ gegründet. Sie kümmert sich um die Brache, auf der sich nach dem Abriss eines Eckhauses an der Robergstraße der Müll immer höher türmte. Nach und nach soll sich die Fläche in einen Stadtgarten verwandeln. Der Zaun steht, es gibt schon Hochbeete, einen Geräteschuppen. „Und einen Bauwagen haben wir gerade gekauft. Von der Stadt bekommen wir nicht viel Hilfe, die hat ja kein Geld“, sagt Schmelz.

Neben dem Gärtnern gibt es ein Sommerprogramm: Regelmäßig macht das „Kunst- und Kulturmobil“ (Kukumo) der Kunstschule Gelsenkirchen auf der Fläche Station für die Kinder aus den heruntergekommenen Häusern gegenüber. Für deren Eltern organisieren Schmelz und seine Mitstreiter „Bürgergespräche“, als Nächste sind Streifenbeamte der Polizeiwache Bismarck zu Gast. Nur zehn bis zwölf Kinder kämen zum Kukumo oder zu den Straßenputzaktionen, erzählt Schmelz. „Ziemlich enttäuschend. Trotzdem: Aufgeben gilt nicht!“
Über den Müll, den jemand letzte Nacht direkt unter das Schild „Ablagern von Müll und Schutt verboten!“ am Zaun gelegt hat, mag sich Schmelz ebenso wenig aufregen wie über das abgemeldete schrottreife Auto, das schon seit Tagen auf dem Gehsteig steht. Auf der Windschutzscheibe klebt eine orangefarbene Bußgeldandrohung. Am Ende wird wieder die Stadt das Auto verschrotten müssen, weil der letzte Eigentümer nicht auffindbar ist.
„Viele Alteingesessene sind resigniert, erwarten nichts mehr, weil es einfach zu viele Armutsmigranten sind“, sagt Schmelz. „Deshalb fürchte ich, dass viele die AfD wählen, selbst Leute mit Migrationshintergrund.“ Für ihn komme das aber unter keinen Umständen infrage. Und wenn im ersten Wahlgang die AfD viele Stimmen bekomme, seien wieder alle erschrocken, prophezeit Schmelz. „Frau Henze wird es im zweiten Durchgang, weil sich dann auch die anderen demokratischen Parteien für sie aussprechen.“
„Der Aufstieg ist keine Utopie“
An einem anderen Tag ist Henze mit Fraktionschef Barton in dessen Wahlkreis in Buer mit dem Bollerwagen auf Tour durch Schrebergärten und zu Vereinen. Die Chance, dort Leute zu treffen, die sich dazu motivieren lassen, zur Wahl zu gehen, sich für ihren „Aufstiegsplan“ interessieren, ist in Buer größer als in anderen Gelsenkirchener Vierteln. Nein, verwegen finde sie ihren Slogan „Anpacken. Aufsteigen“ ganz und gar nicht, sagt Henze. „Das ist das Motto, das sich durch mein eigenes Leben zieht.“
Henze stammt aus Dessau in Sachsen-Anhalt. Nach der Wende machte sie in Ludwigshafen am Rhein eine Ausbildung zur Verwaltungsfachangestellten, später holte sie ihr Abitur auf dem zweiten Bildungsweg nach, studierte, zog allein ihre Tochter groß, stieg in Dessau bis zur Chefin der städtischen Wirtschaftsförderung auf, wechselte zurück in den Westen, wurde Geschäftsführerin des Jobcenters in Hagen, leitete die Sozialämter in Duisburg und Bochum und wurde schließlich Dezernentin für Arbeit, Soziales und Gesundheit in Gelsenkirchen.
„Gelsenkirchen hat den Aufstieg verdient! Und wir schaffen den Aufstieg“, sagt Henze, als sie beim Verein „Grünlabor“ auf dem Gelände der ehemaligen Steinkohlenzeche Hugo angekommen ist. In den vergangenen zehn Jahren haben Ute und Peter Boeff und die rund zwanzig weiteren aktiven Mitglieder dort eine Gartenoase geschaffen, die besonders gern von Familien aus einer nahen Hochhaussiedlung genutzt wird. Für Kinder bieten die Ehrenamtler Spiel- und Lernangebote wie Koch- oder Pflanzenbestimmkurse an. „Auch weil es solch herausragendes Engagement in der Stadt gibt, ist der Aufstieg keine Utopie“, glaubt Henze.
Peter Boeff unterrichtete bis zur Pensionierung an der legendären DFB-Eliteschule Berger Feld Latein und Sport. Auch alle, die später ganz groß rausgekommen sind, hat Boeff unterrichtet: Manuel Neuer, Julian Draxler, Mesut Özil. Namen, die an die bislang letzte große Zeit erinnern, bevor die Königsblauen den Anschluss an die nationale Spitze verloren und vor etwas mehr als vier Jahren in die 2. Liga abstiegen. Schalke 04 gelang zwar der direkte Wiederaufstieg – um den Klassenerhalt in der Saison darauf wieder zu verspielen. Schafft Gelsenkirchen den Aufstieg?Boeff überlegt einen Moment. „Im Fußball jedenfalls nicht mehr so schnell.“