Aserbaidschan fordert Entschuldigung von Putin

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Für Aserbaidschan steht fest, was offiziell noch eine Untersuchungskommission klären soll: Eine russische Luftabwehrrakete hat am Mittwochmorgen ein Embraer-E190AR-Passagierflugzeug der Azerbaijan Airlines über der russischen Teilrepublik Tschetschenien beschossen. Bei der Notlandung im westkasachischen Aktau kamen dann 38 der 67 Menschen an Bord ums Leben. „Das Flugzeug wurde auf dem Gebiet Russlands abgeschossen, im Himmel über Grosnyj“, der Hauptstadt Tschetscheniens, sagte der Parlamentsabgeordnete Rassim Mussabekow der aserbaidschanischen Nachrichtenagentur Turan am Donnerstag. Die Verantwortlichen müssten bestraft und Entschädigung bezahlt werden. Wenn das nicht geschehe, würden die Beziehungen beider Länder „auf ein anderes Niveau“ absinken.

Im kontrollierten System von Machthaber Ilham Alijew ist die Forderung des langjährigen Abgeordneten nicht als eigenständiger Vorstoß zu sehen, sondern als Position Bakus, die diplomatisch-niederstufig übermittelt wird – zugleich aber mehrstimmig. Denn auch der Sender Euronews berichtete unter Berufung auf „aserbaidschanische Regierungsquellen“, dass die Rakete auf Flug J2-8432 von Baku nach Grosnyj abgefeuert und neben dem Flugzeug explodiert sei, während „Drohnenaktivität“ herrschte.

In den vergangenen Wochen war Tschetschenien mehrfach Ziel ukrainischer Drohnenangriffe geworden. Erst vor Kurzem waren daher Panzir-S1-Abwehrsysteme in die Teilrepublik verlegt worden, wie sie etwa auch strategisch wichtige Einrichtungen in Moskau schützen. „Wenn die Luftabwehr arbeitet, muss der Flughafen geschlossen sein, es muss angesagt werden, dass niemand dorthin fliegt“, sagte der Abgeordnete Mussabekow nun.

Die Piloten werden als Helden gefeiert

Die Nachrichtenagentur Reuters berichtete unter Berufung auf eine mit den Ermittlungen vertraute aserbaidschanische Quelle, ein Panzir-System sei verwendet worden, um das Flugzeug zu beschießen. Das geschah offenbar versehentlich. Doch wenn stimmt, was die „Regierungsquellen“ in Baku Euronews weiter sagten, begann danach eine Vertuschungsaktion, in der die Opfer verschwinden und nicht zu unbequemen Zeugen werden sollten: Bitten der Piloten, auf russischen Flughäfen notzulanden, sei nicht stattgegeben worden, berichtete der Sender. Das Flugzeug sei vielmehr angewiesen worden, über das Kaspische Meer nach Aktau zu fliegen. Zugleich wurden die GPS-Navigationssysteme des Flugzeugs gestört. Dies geschah schon während des Anflugs auf Grosnyj, berichtete Reuters.

F.A.Z.

Der Einsatz militärischer Störsender erklärt, warum das Flugzeug von den Radarschirmen verschwand und erst kurz vor Aktau wieder auftauchte. In diesem Lichte wird die Leistung von Piloten und Besatzung besonders gewürdigt: In Aserbaidschan werden sie als Helden bezeichnet. Die Piloten, Igor Kschnjakin und Alexandr Kaljaninow, steuerten die beschädigte Maschine über das Meer, nur drei Kilometer fehlten ihnen am Ende bis zur Landebahn des Flughafens von Aktau. Beide kamen ums Leben, ebenso die Chefflugbegleiterin Hokuma Alijewa, die während des Fluges versucht hatte, die Passagiere zu beruhigen; zwei ihrer Kollegen wurden verletzt. Die fünf waren aserbaidschanische Staatsbürger, ebenso 37 Passagiere; an Bord waren nach Angaben der Fluggesellschaft zudem 16 russische, sechs kasachische und drei kirgisische Staatsangehörige.

Putin scheigt zum Geschehen

Niemand spreche von Absicht, zitierte Reuters ihre aserbaidschanische Quelle. Doch erwarte man, dass „die russische Seite“ zugebe, das Flugzeug abgeschossen zu haben. Der Abgeordnete Mussabekow beklagte auch, dass „einige“ über Medien „Spuren verwischen“ wollten. Russlands Staatsfernsehen verbreitet unter anderem, dass Vögel den Absturz verursacht hätten. Präsident Wladimir Putins Sprecher sagt, es sei falsch, „Hypothesen aufzustellen“, bevor die Ermittlung abgeschlossen sei. Der Herrscher von Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, ging am Mittwoch und Donnerstag in die Offensive, auf seine Art: Er zeichnete neuerlich Familienmitglieder seines herrschenden Clans aus, unter ihnen den Sekretär seines Sicherheitsrats, seinen Neffen Chamsat Kadyrow, der am Mittwoch in sozialen Medien mit Blick auf den neuen Drohnenangriff geprahlt hatte, „alles ist abgeschossen worden“. Am Freitagmorgen wurde gemeldet, dass der Flughafen in Grosnyj zeitweise den Flugverkehr ausgesetzt habe; von einem neuen Drohnenangriff war dabei freilich keine Rede. Entsprechende Maßnahmen wurden aus Sotschi und Kasan gemeldet.

Für Putin, der zum Absturz schweigt, ist der Vorfall äußerst peinlich. Aserbaidschan ist ein wichtiger Partner Moskaus im Südkaukasus, auch wenn der Einfluss Ankaras dort in den vergangenen Jahren stark gestiegen ist – zulasten des in der Ukraine gebundenen Moskaus. Machthaber Alijew, der mit dem Rückhalt des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan 2020 und 2023 die Armenier aus Nagornyj Karabach und umliegenden aserbaidschanischen Gebieten vertrieben hat, war selbst gerade im Flugzeug auf dem Weg von Baku nach Sankt Petersburg, um dort an einem Treffen der Spitzen der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten bei Putin teilzunehmen, als er von dem Absturz von Aktau informiert wurde. Er habe sofort, noch in der Luft, befohlen umzudrehen und nach Baku zurückzufliegen, sagte Alijew nach seiner Rückkehr am Flughafen.

Bei zwei Gelegenheiten hat Alijews Militär in den vergangenen Jahren russische Soldaten getötet, angeblich versehentlich: Anfang November 2020, am Ende des sogenannten 44-Tage-Kriegs mit Armenien, schoss es einen Hubschrauber der russischen Luftwaffe über dem Gebiet des Feindeslands ab, zwei Besatzungsmitglieder kamen ums Leben, ein weiteres wurde schwer verletzt. Im September 2023 erschossen die aserbaidschanischen Streitkräfte während ihrer Blitzoffensive in Karabach fünf Soldaten der russischen Friedenstruppen in deren Geländewagen, unter ihnen den stellvertretenden Kommandeur des Kontingents. Jeweils entschuldigte sich Baku und versprach, die Verantwortlichen zu bestrafen, wovon man freilich dann nichts weiter hörte. Doch erinnerte der Abgeordnete Mussabekow nun an Aserbaidschans Entschuldigung für den Vorfall von 2020 als Beispiel für einen „zivilisierten“ Umgang miteinander.