„Wir können mit grünem Strom bestehen“

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Herr Hartel, Ihr Unternehmen Wacker Chemie zählt zu den größten Stromverbrauchern in Deutschland. Wie hart hat Sie der Preisrekord am 12. Dezember getroffen, als eine Megawattstunde mehr als 900 Euro kostete?

Solche extremen Preisspitzen und die Volatilität, die wir gesehen haben, sind natürlich eine echte Herausforderung. Uns hat das Strompreis-Hoch allerdings nicht allzu sehr getroffen, weil wir vorgesorgt haben. Wir verfolgen beim Stromeinkauf eine vorausschauende Strategie, die wir über Jahre entwickelt haben. Wir kaufen unseren Strom zum Großteil über langfristige Verträge weit im Voraus ein, das macht uns ein Stück weit unabhängig von Preisschwankungen. Dazu kommt, dass wir einen Teil unseres Stroms selbst erzeugen; zum Teil über Wasserkraft. Wir betreiben aber auch ein eigenes Gaskraftwerk, das gibt uns eine gewisse Flexibilität. Und die dritte Komponente: In Zeiten, in denen der Strom besonders teuer ist, können wir die Produktion in begrenztem Umfang anpassen.

Christian Hartel hat Chemie in Konstanz, Genf und Frankfurt studiert. Seit 2003 arbeitet er für den Konzern Wacker Chemie, der mehrheitlich der Gründerfamilie gehört.
Christian Hartel hat Chemie in Konstanz, Genf und Frankfurt studiert. Seit 2003 arbeitet er für den Konzern Wacker Chemie, der mehrheitlich der Gründerfamilie gehört.Thomas Dashuber

Windstill und wolkig wie vergangene Woche ist es in Deutschland oft. Wie kann das gut gehen, wenn es in den 2030ern nur noch Strom aus Windparks und Solaranlagen geben soll?

Die Welt ist nicht schwarz-weiß. Wir brauchen natürlich auch in Zukunft Reservesysteme. Dazu gehören grundlastfähige Kraftwerke, die anfangs mit Erdgas und später vielleicht mit grünem Wasserstoff betrieben werden. Auch Atomkraftwerke kommen dafür prinzipiell infrage. Aber noch viel interessanter werden dezentrale Speichersysteme sein. Ich denke nicht an einen Riesenstromspeicher für ganz Deutschland, sondern eher an dezentrale Speicher, und nicht zu vergessen die vielen Elek­troautos, die als Batteriespeicher dienen könnten. Wenn wir da mehr Gehirnschmalz reinstecken, dann können wir mit Sonnen- und Windkraft vielleicht nicht 100 Prozent, aber bestimmt 70 oder 80 Prozent unseres Energiebedarfs decken. Da bin ich pragmatisch genug zu sagen: Dann sind es eben nur 80 Prozent. Hauptsache, es funktioniert.

Wie viel Dunkelflaute können Sie abfangen, indem Sie Anlagen drosseln?

Diese Möglichkeit wird in der öffentlichen Diskussion nach meiner Ansicht überschätzt. Wir können unsere Produktion mit gewissen Schwankungen daran anpassen, welche Annahmen über die Preisentwicklung am Strommarkt sich anhand von Wetterprognosen anstellen lassen. Nur wird es da nie von hundert runter auf null gehen. Mehr als 10 oder 20 Prozent halte ich für unrealistisch. Das liegt übrigens auch daran, dass wir unsere Anlagen über Jahrzehnte so sehr auf Effizienz getrimmt haben.

Das müssen Sie erklären.

Die größtmögliche Effizienz erreichen wir in der chemischen Industrie mit möglichst konstanten Prozessen. Das ist leider genau das, was wir für die Nutzung erneuerbarer Energien gerade nicht brauchen. Das ist ein Dilemma.

Was halten Sie von der Idee, die Industrie nicht mehr für konstanten Verbrauch, sondern für Flexibilität mit niedrigen Preisen zu belohnen?

Ich finde, man kann diesen Wandel nicht einseitig auf die Industrie abwälzen. Die Anlagen wurden so gebaut, weil wir dadurch im Gesamtsystem eine hohe Effizienz erreicht und damit das Energiesystem gestärkt haben. Deswegen sollten wir jetzt auch gemeinsam an neuen Lösungen für dieses System arbeiten und nicht eine Seite die Zeche zahlen lassen für etwas, was früher alle wollten.

Was wäre dann Ihr Beitrag?

Wir haben ein Gaskraftwerk in Burghausen, dort machen wir Strom und Dampf aus Erdgas. Den Dampf brauchen wir einerseits für viele chemische Prozesse. Wir haben andererseits aber auch viele Prozesse, bei denen Energie entsteht, die wir wieder einsammeln können. Diese überschüssige Energie könnten wir mit einer sehr großen Wärmepumpe dazu nutzen, Dampf zu erzeugen oder in andere Dampfstufen umzuwandeln. Dann brauchten wir unser Kraftwerk nur noch für den Strom. Und wenn wir den auch noch von außen beziehen würden, dann könnten wir das Kraftwerk als Teil der nationalen Netzreserve nutzen. Das wäre gesamtgesellschaftlich viel attraktiver, als die Netzentgelte zu erhöhen und irgendwo ein neues Kraftwerk zu bauen.

Sie reden im Konjunktiv. Lässt sich das denn auch praktisch so machen? Haben Sie es durchgerechnet?

Ich brauche dafür eine große neue Wärmepumpe. Das ist eine Investition von mehreren hundert Millionen Euro. Und für diese Wärmepumpe brauche ich Strom, der zumindest weitestgehend klimaneutral und gleichzeitig bezahlbar sein sollte, sonst habe ich ja nichts gewonnen. Unterm Strich: Wenn wir das heute alleine stemmen wollten, würden wir ohne Frage draufzahlen.

Können wir uns das Gedankenspiel dann nicht gleich sparen?

Die Frage, wie so etwas möglich gemacht werden kann, halte ich für relevant. Denn wir müssen in Zukunft sehr viele Dinge anders machen als bisher, um klimaneutral zu werden. Man muss über einen möglichen Zuschuss für solche Großinvestitionen reden. Und vor allem über einen planbaren Strompreis für die kommenden Jahre.

Soll dafür der Steuerzahler blechen?

Wir brauchen vor allem mehr unternehmerische Dynamik, um die Industrie klimaneutral zu machen. Aber es ergibt weder für uns noch für das Klima einen Sinn, wenn wir in eine neue Anlage investieren, die vom ersten Betriebstag an Verlust machen würde, weil der Strompreis zurzeit eben noch zu hoch ist.

Für grüne Pilotprojekte gibt es doch schon jede Menge Fördermittel.

Aber die Regeln dafür sind stellenweise absurd. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Wir wollten, wiederum in Burghausen, aus Kohlendioxid grünes Methanol machen, das wir dann für die Silikonproduktion einsetzen könnten. Es gibt am Inn, nur 20 Kilometer entfernt, ein Wasserkraftwerk, das wir dafür anzapfen wollten. Unser Förderantrag ist gescheitert. Unter anderem weil es nur Geld gibt, wenn man Grünstrom verwendet, der zusätzlich produziert wird. Vorhandene Kapazitäten darf man nicht nutzen. Was ist das denn für eine Logik? Ich dachte, es geht darum, die Industrie CO2-neu­tral zu machen. Da hätten wir einen großen Schritt weiterkommen können.

Klimaschutz geht auch billiger.

Na klar. Verbesserte Dampfrückgewinnung ist ein Beispiel dafür. Oder dass wir zur Siliziumschmelze in Zukunft nicht mehr Steinkohle beigeben, um den chemischen Prozess am Laufen zu halten, sondern Pellets aus Holzresten und anderer Biomasse. Wir rechnen stets durch, wie viel wir jeweils investieren müssen, um eine Tonne CO2 zu sparen. In einigen Fällen geht das für 50 Euro je Tonne oder sogar weniger. Die CO2-Abscheidung zur Methanolherstellung wäre bei den derzeitigen Strompreisen 10- bis 100-mal so teuer.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.


Sie haben die wichtigsten Produkte von Wacker genannt, Silikon und Silizium, vor allem für Computerchips. Die Herstellung ist energieintensiv. Von Kapriolen wie vergangene Woche abgesehen: Wie kann ein deutscher Standort da global mithalten?

Weil wir dafür hocheffiziente Strukturen aufgebaut haben. Das gilt gerade für unser Gründungswerk in Burghausen, das seit mehr als 100 Jahren besteht und für unsere Position auf dem Weltmarkt nach wie vor sehr wichtig ist. Dazu müssen Sie wissen: Wir setzen voll auf Halbleiter. Unser Marktanteil für reinstes Silizium, das wir zu zwei Dritteln in Burghausen herstellen und zu einem Drittel in einem Werk in den USA, liegt bei etwa 50 Prozent. Wir sind also in etwa jedem zweiten Computerchip vertreten und sehen uns zudem auch als Technologie- und Qualitätsführer.

Im größten Chemiewerk der Welt, bei BASF in Ludwigshafen, stehen 20 Prozent der Anlagen wegen zu geringer Auslastung und hoher Kosten in Frage. Wie ist das bei Ihnen?

Die Auslastung liegt in Deutschland zwischen 80 und 85 Prozent. Das ist nicht berauschend, aber in der Spezialchemie, die wir machen, ganz vernünftig.

In Burghausen haben Sie gerade noch einmal 300 Millionen Euro in die Erweiterung der Siliziumproduktion investiert. Wie kann sich das rechnen?

Die neue Anlage, die wir nächstes Jahr in Betrieb nehmen wollen, entspricht der Nachfrage unserer Kunden; die zusätzlichen Mengen sind zum großen Teil schon langfristig verkauft. Noch etwas kommt hinzu: In der neuen Anlage wird das Silizium in einem speziellen Verfahren an seiner Oberfläche gereinigt. Dieser letzte Schritt ist nicht besonders energieintensiv. Das hilft Burghausen.

Die Schritte davor verbrauchen dafür umso mehr Strom.

Das stimmt. Zuerst müssen Quarzkristalle bei rund 1600 Grad Celsius zu flüssigem Silizium reduziert werden. Das machen wir in Norwegen, mit so viel grüner Wasserkraft, wie man zur Stromversorgung einer mittelgroßen Stadt braucht. Dann wird dieses Silizium zu einem Gas umgewandelt, Chlorsilan, und dann wieder destilliert, weil sich nur so der gewünschte Reinheitsgrad erreichen lässt. Das machen wir in Burghausen, und das bringt uns auf einen Stromverbrauch von drei Terawattstunden, knapp ein Prozent des gesamten in Deutschland verbrauchten Stroms.

Im Ausbau des Halbleitergeschäfts stecken Risiken. Wie lange trägt der aktuelle KI-Boom noch?

Interessanterweise hat sich die Siliziumfläche, die jährlich von der Halbleiterindustrie eingesetzt wird, noch überhaupt nicht nennenswert verändert, seit so viel über Künstliche Intelligenz geredet wird. Es wurden zuletzt zwar mehr Grafikchips verkauft, mit denen sich höhere Margen erzielen lassen. Bei den Speicherchips verlief das Geschäft dagegen schwächer. Auch deshalb bin ich sehr zuversichtlich, dass die Mengen in den kommenden Jahren steigen werden, weil uns Digitalisierung und KI so viele neue Möglichkeiten eröffnen werden.

Zahlen die Kunden Ihnen für Silizium mehr als Lieferanten aus Ländern mit günstigerem Strom?

Wir können die Kosten zumindest teilweise weitergeben, ja. Denn erstens gibt es nicht viele andere Unternehmen auf der Welt, die Silizium in der benötigten Reinheit herstellen können. Und zweitens liefern wir dieses Produkt exakt nach den Vorgaben unserer Kunden, die daraus zuerst sogenannte Wafer und dann Computerchips herstellen. In dieser Lieferkette gibt es von Stufe zu Stufe sehr genaue Vorgaben, wie das Material beschaffen sein muss. Das wird vorher monate- oder sogar jahrelang getestet.

Auf Dauer mutet die Lage aber aussichtslos an, falls Deutschland an seinem Klimaschutzkurs festhält, während es in China und in den USA billigen Strom in Hülle und Fülle gibt.

Das sehe ich anders. Wir können auch mit grünem Strom bestehen, davon bin ich überzeugt. Wir müssen etwas gegen den Klimawandel tun, und dafür müssen wir die Energiegewinnung von der Freisetzung von Kohlendioxid entkoppeln. Die gute Nachricht ist: Technologisch ist dieses Thema gelöst. Es weht genug Wind, es scheint genug Sonne auf unserem Planeten und wir wissen, wie man Windräder, Solarzellen und Stromnetze baut. Das ist alles keine Raketenwissenschaft. Auch wenn wir gerade beim Netzausbau manchmal so tun, als ob wir zum Mond fliegen wollten. Dabei geht es, vereinfacht gesagt, doch bloß darum, einen Draht zu spannen. Das Ziel, genug günstige erneuerbare Energie für unsere Industrie zu erzeugen, können wir in den 2030er-Jahren in Europa erreichen. Was uns in Deutschland fehlt, ist der Mut und der Wille, die Chance zu ergreifen, die sich da bieten. Stattdessen rechnen wir uns gern vor, wie schwierig das ist und dass woanders die Sonne mehr scheint. Aber das löst das Problem nicht.

Bald wird gewählt. Die Union liebäugelt mit einer Renaissance der Atomkraft. Die Grünen könnten sich wohl für einen Industriestrompreis erwärmen, einen Rabatt auf die Stromrechnung der Firmen. Was wäre besser?

Lassen Sie mich zwei Sätze zur Atomkraft sagen. Es ist bedauerlich und ein Fehler, dass bestehende, abgeschriebene, sichere Kraftwerke abgeschaltet wurden. Falls sich diese alten Atomkraftwerke reaktivieren lassen, bin ich dafür; ich bin aber skeptisch, was den Neubau von Atomkraftwerken angeht. Salopp formuliert: Wenn wir in Deutschland 15 Jahre für einen neuen Flughafen brauchen, wann würde dann wohl das erste neue Atomkraftwerk ans Netz gehen? Unsere Probleme beziehen sich aber auf die nächsten zehn Jahre, in denen es absehbar noch nicht genug günstigen Strom aus erneuerbaren Quellen geben wird.

Wer hat dafür das bessere Konzept: Grün, Schwarz oder Rot?

Auf die Farbe kommt es mir dabei nicht an. Wichtig ist: Bezahlbare und möglichst CO2-freie Energie ist der Garant für unseren Wohlstand, deshalb muss das Thema Chefsache sein. Wir müssen den Wandel anpacken, anstatt ihn auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu verschieben. Mit einem Industriestrompreis könnten wir daraus eine erfolgreiche Geschäftsidee für Deutschland machen.