Was die Poliofunde im Abwasser bedeuten

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In Deutschland wurden im Abwasser zuletzt immer wieder Polioviren gefunden. Zunächst waren Gensequenzen der Erreger in München, Bonn, Köln und Hamburg festgestellt worden. Nun berichtete das Robert-Koch-Institut (RKI), dass auch Proben aus Kläranlagen in Dresden, Düsseldorf und Mainz positiv waren. Die Viren seien nicht auf echte Infektionen zurückzuführen, so das Institut. Sie stammten vielmehr von Menschen, die zuvor mit einer Schluckimpfung gegen die Kinderlähmung immunisiert worden waren.

Da diese Impfform in Deutschland nicht mehr eingesetzt wird, liegt der Schluss nahe, dass sie von Menschen stammen, die in ihren Heimatländern zuvor Schluckimpfung erhalten hatten. Für die breite Bevölkerung in Deutschland besteht keine Ansteckungsgefahr, da die Immunisierungsrate hoch ist. Allenfalls Menschen, die nicht gegen Polio geimpft wurden, könnten sich anstecken.

In der Schluckimpfung werden abgeschwächte Viren verwendet, die normalerweise keine Erkrankung auslösen können. Man verwendet diese Art der Impfung, weil sie einfach oral verabreicht werden kann – und somit auch in Ländern mit schlechter medizinischer Ausstattung. Dass sich diese abgeschwächten Viren zu intakten Polioviren umwandeln, die eine Polioinfektion und die dabei typischerweise erfolgende Lähmung hervorrufen, ist sehr selten. Es kommt aber vor. Im Jahr 2018 war beispielsweise ein sechsjähriger Junge in der Provinz Morobe in Papua-Neuguinea nach einer Schluckimpfung erkrankt. Im Stuhl weiterer Kinder waren die Viren nachgewiesen worden.

Geringes Risiko für Geimpfte

Roman Wölfel, Oberstarzt und Leiter des Institutes für Mikrobiologie der Bundeswehr in München, schätzt die Gefahr in Deutschland allerdings als sehr gering ein: In den vergangenen Jahrzehnten seien auf der ganzen Welt Milliarden von Schluckimpfungen ausgegeben worden. Damit seien Millionen Fälle von Kinderlähmung vermieden worden. „Sehr selten kam es zu Ausbrüchen von Impfpolio mit insgesamt bislang wenigen Tausend Fällen weltweit“, sagt er in einem Statement für das Science Media Center.

Um dieses sehr geringe Risiko völlig auszuschließen, würde man auf die per Injektion und damit etwas schwieriger zu verabreichende Impfvariante (IPV-Polioimpfstoff) umsteigen, sobald es eine hohe Immunität in der Bevölkerung gebe. „In Deutschland verwenden wir deshalb seit vielen Jahren auch nur noch den IPV-Polioimpfstoff. Dessen Impfschutz schützt auch gegen eine Impfpolio durch mutierte OPV-Impfviren.“

Wölfel erklärt auch, dass die “Rückverwandlung“ von Viren aus der Schluckimpfung in der Regel nicht einfach so geschehe, sondern dass Impfviren nacheinander auf mehrere, gegen Polio ungeschützte Menschen übertragen werden müssten. “Dabei kann es passieren, dass diese Impfviren durch mehrere Mutationen schrittweise wieder gefährliche Eigenschaften des ursprünglichen Poliovirus zurückerlangen.“

In Deutschland hatten, so Wölfel, laut einer RKI-Studie im Jahr 2013 mehr als 85 Prozent der Bevölkerung einen Schutz gegen Polio. „Es wäre besser, diese Quote läge noch höher. Allerdings ist es auch nicht sehr wahrscheinlich, dass die OPV-Impfviren bei so einem Impfschutz in der Bevölkerung leicht weitergegeben werden und dabei mutieren können.“

Auch Rainer Gosert, der am Universitätsspital Basel Fachverantwortlicher am WHO-Stützpunkt für Poliomyelitis ist, glaubt nicht, dass die Gefahr durch den Eintrag der Impfpolioviren in Deutschland besonders stark steigt. „Dies ist relativ unwahrscheinlich, da die Impfquote in Deutschland für drei Impfstoffdosen im Alter von 15 Monaten bei gut 90 Prozent liegt, allerdings gibt es deutliche Schwankungen zwischen den Bundesländern. Eine Impfquote von mehr als 95 Prozent kann eine Ausbreitung des Virus und somit größere Ausbrüche verhindern. Es wäre sicherlich gut, wenn die Bevölkerung den Nachweis von Poliovirus-Genomabschnitten im Abwasser zum Anlass nimmt, den Impfstatus zu überprüfen.“

Schluckimpfungen sind sicher und einfach zu verabreichen.
Schluckimpfungen sind sicher und einfach zu verabreichen.picture alliance/dpa/Xinhua

Beide Experten sind über die Funde des Virus im Abwasser allerdings nicht besonders erstaunt. „Wenn wir die weltweite politische Lage betrachten und die daraus resultierenden Flüchtlingsströme und -zahlen, ist es nicht verwunderlich, dass Polio im Abwasser gefunden wurde“, so Gosert. „Dies zeigt, dass die Frühwarnsysteme in den entsprechenden Ländern gut funktionieren. Es ist möglich, dass auch in anderen Ländern, die ein hohes Flüchtlingsaufkommen haben, jedoch kein Abwassermonitoring durchführen, Polio im Abwasser vorhanden ist.“

Und Wölfel sagt, dass es letztlich egal sei, wo mutierte Impfviren auf der Welt entstehen. Sie würden „durch unsere schnellen internationalen Reiseverbindungen früher oder später auch immer in Deutschland ankommen“.

Das Ziel der Weltgesundheitsorganisation ist es, die Kinderlähmung weltweit auszurotten. In Europa ist das offiziell seit 2002 der Fall. Laut RKI wurde die letzte in Deutschland erworbene Erkrankung durch Wildviren 1990 erfasst. 1992 wurden zwei Fälle importiert: Ein Mensch hatte sich in Ägypten, einer in Indien infiziert. Impfprogramme zur Ausrottung der Viren war zuletzt wegen der Pandemie und wegen der vielen Kriege und Krisen auf der Welt ins Stocken geraten.