Wie über Hinrichtungen entschieden wird

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In der iranischen Provinz Razavi Khorasan erstach kürzlich ein Versicherungsvertreter einen seiner Kunden. Die beiden Männer hatten einen Streit um Geld. Der Täter wurde wegen Mordes zum Tode verurteilt. Streitschlichter appellierten an die Familie des Opfers, ihn vor dem Strang zu bewahren.

Nach mehreren Vermittlungsgesprächen stimmten die Eltern einer Begnadigung zu. Doch Sohn und Tochter des Ermordeten verlangten die Vollstreckung des Urteils. Am Tag der Hinrichtung zogen die Geschwister gemeinsam den Stuhl unter den Füßen des Mörders weg. Zwei Minuten danach verkündeten sie, dass sie ihm vergeben würden. Der Mann wurde vom Strang befreit und überlebte.

Die Familie des Opfers muss bei der Hinrichtung anwesend sein

Es ist schwer genug, sich vorzustellen, was es bedeutet, wenn ein Familienmitglied ermordet wird. Noch schwerer ist es, sich vorzustellen, wie man selbst entscheiden würde, wenn man die Wahl hätte, ob der Mörder sterben oder leben soll. In Iran ist das strafrechtlicher Alltag.

Die Familie eines Mordopfers hat ein Recht auf Vergeltung. Sie hat aber auch die Pflicht, bei einer Hinrichtung des Täters anwesend zu sein. In einigen Regionen des Landes wird verlangt, dass ein Angehöriger des Opfers den Stuhl unter den Füßen des Verurteilten wegzieht, um dessen Tod selbst herbeizuführen. Dieser Bürde kann die Familie nur entgehen, indem sie den Mörder begnadigt.

Vor diese Wahl gestellt, entscheiden sich die meisten Angehörigen in Iran für sogenannte Vergebung, wobei in vielen Fällen auch Geld eine Rolle spielt. So wurden im vergangenen Jahr laut der norwegischen Organisation Iran Human Rights mehr als 850 Gefangene durch Vergebung vor der Hinrichtung bewahrt. Nur in 282 Fällen wurde eine Vollstreckung des Urteils verlangt. Iran Human Rights spricht von einem „wachsenden Trend zur Vergebung“, getragen von einer zunehmend kritischen Haltung der Bevölkerung zur Todesstrafe.

Iranische Zeitungen sind voll mit Geschichten über Gefangene, die nach Jahren im Todestrakt freigelassen wurden, weil die Familien ihrer Opfer ihnen vergeben oder Blutgeld akzeptiert haben. In Talkshows treten regelmäßig Vermittler auf, die durch Gespräche Dutzende oder gar Hunderte Vergebungen erreicht haben. Der Staat propagiert solche Beispiele, um die eigene Ordnung als moralisch und gerecht darzustellen. Das staatlich propagierte Mitgefühl gilt aber nur für bestimmte Fälle.

Iran ist das Land mit der zweithöchsten Zahl an Hinrichtungen weltweit. Die meisten Todesurteile werden gegen Drogenkriminelle verhängt. Sie haben kaum eine Chance auf Begnadigung. Das Gleiche gilt für politische Gefangene. Im Unterschied zu Mördern werden sie nicht von gewöhnlichen Strafgerichten, sondern von Revolutionsgerichten abgeurteilt. Ein überproportional großer Anteil der Hingerichteten sind Belutschen und Kurden. Immer wieder werden auch Minderjährige zum Tode verurteilt.

Hungerstreiks gegen Todesstrafe

Der politische Kampf dagegen ist ein schmaler Grat. Wer für Vergebung wirbt, wird vom Justizapparat unterstützt und von den Staatsmedien als Vorbild präsentiert. Wer eine Abschaffung der Todesstrafe fordert, wird dagegen vom Staat verfolgt. So erging es der Imam Ali Society, die nach eigenen Angaben etwa 50 minderjährige Mörder vor der Hinrichtung bewahrt hat, indem sie die Familien der Opfer zur Vergebung bewegte. Die Organisation wurde 2021 verboten. Ihr Gründer wurde inhaftiert und lebt heute in den Vereinigten Staaten.

Nur wenige in Iran wagen es noch, sich offen gegen die Todesstrafe zu engagieren. Das tun vor allem Angehörige von Menschen, die zum Tode verurteilt wurden – und Mitgefangene. Jeden Dienstag treten in mehr als einem Dutzend Haftanstalten Gefangene gegen die Todesstrafe in den Hungerstreik.

Viele andere Aktivisten engagieren sich dagegen lieber in der legalen Nische der Vergebung. „In den vergangenen sechs Jahren ist die Vergebungsbewegung erheblich gewachsen“, schreibt Iran Human Rights. Dazu beigetragen haben Fälle wie der von Morad Biranvand, der wegen Drogenhandels zum Tode verurteilt wurde. Während er noch in Haft war, wurde seine eigene Mutter bei einem Raubüberfall getötet. In einem Interview erklärte er, warum er – selbst den Tod vor Augen – dem Mörder vergab. Biranvand wurde 2023 hingerichtet.

Spenden sammeln für Blutgeld

Grundsätzlich kann jeder eine Opferfamilie kontaktieren und sie zur Vergebung aufrufen. „Dieser Bereich ist vollkommen unreguliert“, sagt die Juristin und Ethnologin Arzoo Osanloo, die an der University of Washington unterrichtet und ein Buch über das Thema geschrieben hat. Der Titel: „Forgiveness Work“. Sie beschreibt darin eine ganze Szene an „Vergebungsarbeitern“. Dazu gehören nicht nur ausgebildete Streitschlichter und Sozialarbeiter, sondern auch Schauspieler, Filmemacher und Sportler.

Einer von ihnen ist Ali Parvin, ein früherer Fußballnationalspieler und Trainer. Immer wieder bitten Täterfamilien oder Strafverteidiger ihn um Hilfe, in der Hoffnung, dass seine Beliebtheit Opferfamilien milde stimmen könnte. Der Sänger Mohsen Chavoshi engagiert sich derweil vor allem für Mörder aus sozial schwachen Familien. Er nutzt seine Bekanntheit, um Spenden für Blutgeld zu sammeln.

Zu viel Öffentlichkeit kann aber auch schaden. „Anfangs dachten viele Leute, die sozialen Medien könnten ein Instrument sein“, sagt die Forscherin Osanloo. Die Beteiligung von Prominenten könne aber von manchen Opferfamilien als Zumutung empfunden werden. Auch hätten teilweise zu viele Aktivisten die Trauernden aufgesucht und sie bedrängt. „Statt Mitgefühl zu erreichen, haben sie sie nur noch wütender gemacht“, sagt Osanloo. Sie habe mit Angehörigen gesprochen, die sich durch den öffentlichen Druck diffamiert und in ihrer Ehre verletzt fühlten und deshalb auf Vergeltung bestanden hätten, sagt die Forscherin. Deshalb seien viele Täterfamilien inzwischen sehr darauf bedacht, öffentliche Aufmerksamkeit zu vermeiden.

Jahrelange Vermittlungsprozesse

Die Beweggründe, auf Vergeltung zu verzichten, sind so unterschiedlich wie die Motive der Täter. Der Schritt falle womöglich leichter, wenn der Täter ein Bekannter oder Verwandter sei, hat Osanloo ermittelt. Und schwerer, wenn die Tat besonders grausam und heimtückisch war. Wenn es sich beim Opfer oder Täter um eine Frau handle, könnten Fragen der Familienehre eine Rolle spielen.

Auch die Tatumstände werden in den Vermittlungsgesprächen häufig angeführt. Der Straftatbestand des „intendierten Mordes“ ist in Iran so breit gefasst, dass oft gar kein Vorsatz vorliegt und Notwehr oder andere mildernde Umstände nicht berücksichtigt werden. Es gibt auch Fälle, in denen Sicherheitskräfte getötet werden und der Staat ein Interesse an einer Vollstreckung des Todesurteils hat. Das Vergeltungsrecht bietet dem Staat dann eine Gelegenheit, sich hinter der Opferfamilie zu verstecken.

Der Vermittlungsprozess zieht sich in der Regel über Jahre hin. Meistens werde den Müttern der Ermordeten die Entscheidung überlassen, sagt Osanloo. Ihre Gesprächspartner hätten dies als „furchtbare Bürde“ beschrieben. „Viele, die vergeben haben, sagen, die Verstorbenen seien ihnen im Traum erschienen und hätten ihnen gesagt, es sei in Ordnung.“ Offenbar half es ihnen, die Verantwortung für die Entscheidung über das Leben eines anderen Menschen ins Reich der Toten zu delegieren. Religiöse Überzeugungen spielen bei vielen Iranern eine Rolle. Im Fastenmonat Ramadan und im für Schiiten heiligen Monat Muharram gibt es besonders viele Vergebungen.

Vermögende Täter haben bessere Chancen

Neben Sühne geht es in den Vermittlungsgesprächen nicht selten um Geld, oft um Summen, die das Jahreseinkommen einer Familie bei Weitem übersteigen. Die Chancen, der Todesstrafe zu entkommen, sind somit für vermögende Täter ungleich höher. Auch deshalb bemühen sich viele Hilfsorganisationen, Spenden für Blutgeld einzusammeln. Für fahrlässige Tötung und Totschlag legt der Staat die Höhe der Vergeltungszahlung jährlich fest. Der festgesetzte Betrag liegt für dieses Jahr bei umgerechnet rund 20.000 Euro für Männer. Bei weiblichen Opfern ist es nur die Hälfte, was mit geringeren zu erwartenden Einkommensausfällen begründet wird. Bei Mord ist die Summe verhandelbar.

Da es keine gesetzlichen Regeln für den Verhandlungsprozess gibt, steht es den Angehörigen frei, auch andere Forderungen zu stellen. Zum Beispiel, dass die Familie des Täters aus einem Stadtviertel wegzieht oder eine Schule baut. Es gibt auch Fälle, in denen eine Falschaussage verlangt wird, um die Ehre der Familie wiederherzustellen.

So war es im Fall der jungen Innenarchitektin Reyhaneh Jabbari, die in Notwehr einen Mann erstach, der versuchte, sie zu vergewaltigen. Der Sohn des Toten verlangte als Bedingung für die Begnadigung, dass sie ihre Darstellung der Tatumstände widerrief. Jabbari lehnte das ab und wurde 2014 hingerichtet. Ihre Mutter engagiert sich heute von Deutschland aus gegen die Todesstrafe in Iran.