Streitkultur in Deutschland: Alle haben irgendwie recht

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Es ist Wahlkampf in Deutschland, noch einige Wochen lang. Wochen, in denen die Parteien ihre reine Lehre predigen können. In denen Politik all das ist, was sich behaupten lässt, und nicht das, was sich auch machen lässt. Danach aber müssen sich mindestens zwei dieser Parteien zusammentun, vielleicht drei, und das hinkriegen, was die Ampelregierung nicht hingekriegt hat: Kompromisse finden.

Deshalb sollte die Frage nicht zu schnell in Vergessenheit geraten, warum drei Parteien aus der politischen Mitte eigentlich nicht fähig waren, das Verbindende zu finden, und was sich womöglich ändern sollte, damit das in Zukunft besser gelingt.

Der eigene Standpunkt gilt absolut

Als Antwort fällt einem schnell der Starrsinn der Beteiligten ein, an dem es sicher nicht mangelte. Aber Politik findet nicht losgelöst von der gesellschaftlichen Stimmung statt, weshalb man den Starrsinn nicht nur als Charakterschwäche der handelnden Personen betrachten sollte, sondern ebenso als Antwort auf ein Gefühl in der Bevölkerung: Die Gewählten scheuten den Kompromiss auch deshalb, weil sie annahmen, die Wähler selbst seien unfähig zum Kompromiss und würden ihn deshalb nicht honorieren.

Auch wenn sich viele Wähler zuletzt nichts mehr gewünscht hatten als das Ende des ewigen Ampelzanks und Einigkeit vermutlich sogar belohnt hätten, sind sie tatsächlich Teil des Problems. Man muss nur mit offenen Augen und Ohren auf Familienfeste oder ins Internet gehen, um den Eindruck zu gewinnen: In der aufgeheizten Lage der vergangenen Jahre ist es weit über die Politik hinaus Mode geworden, nicht Meinungen zu vertreten, sondern Wahrheiten. Der eigene Standpunkt gilt absolut, jener der anderen ist damit zwangsläufig Stuss. Verständigung? Unmöglich.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.


Diese Unversöhnlichkeit ist kein ganz neues Phänomen. Wenn die Themen so aufgeladen und die Veränderungen so dramatisch waren, wie sie es heute sind – die Mi­gration, das Klima, der Krieg –, dann warfen die Lager einander auch früher schon vor, das Land geradewegs in den Abgrund zu führen. Schwierige Zeiten erfordern eben harte Debatten. Es gibt aber Entwicklungen, die die Polarisierung verstärkt haben.

Das ist vor allem das Aufkommen jenes Populismus, der alle anderen als Totalversager beschimpft und dafür mit derselben Unnachgiebigkeit bekämpft wird. Diese Art der Auseinandersetzung, die zu immer weiterer Entfremdung führt, ist weit in die politische Debatte eingedrungen, hat auch die anderen Parteien erfasst und Themen, die so moralisch aufgeladen gar nicht sein müssten.

Man sieht das daran, wie wahlweise die FDP oder die Grünen zum Grundübel des Landes erklärt werden. Mehr Staat oder weniger Staat? Mehr Schulden oder weniger Schulden? Fragen, so alt wie die Politik. Eigentlich verhandelbar.

Es gibt These und Antithese, aber kaum Synthese

Die Wahrnehmung, es fände gerade eine Art Endkampf um die Wahrheit statt, wird von den Eigenarten der modernen Öffentlichkeit bestärkt. Öfter als früher wird Politik in Form von Talkshows rezipiert, die viel These und viel Antithese bieten, aber kaum Synthese. Der „verkürzende Pro-und-Contra-Bullshit“ (Caren Miosga) setzt sich in den sozialen Medien fort.

Selbst kluge Beobachter der Gegenwart erwecken dort den Eindruck, sie litten unter partieller Realitätsverweigerung: Geteilt wird, was ins Weltbild passt. Man kann das im vollen Bewusstsein darüber konsumieren, dass es nur eine übellaunige Simulation von Diskurs ist – hängen bleibt trotzdem etwas. Auch die Timeline bestimmt das Bewusstsein.

Was über alledem immer öfter verloren geht, ist die Annahme, die am Anfang jeder Debatte stehen sollte: Eigentlich haben alle recht, irgendwie (wenn man mal von den notorischen Hetzern und Faktenverdrehern absieht). Mal ein Beispiel, über das sich die Leute gerne die Köpfe heißreden: Muss man in Deutschland bei manchen Themen aufpassen, was man sagt, oder ist das nur eine Behauptung der extremen Rechten, um den gesellschaftlichen Diskurs zu vergiften?

Ganz einfach: Das Erste muss nicht falsch sein, nur weil das Zweite wahr ist. Für beide Positionen gibt es plausible Argumente, und ob man sich auf die eine oder auf die andere Seite schlägt, lässt sich deshalb nicht mit Klarsicht oder mit Wahnsinn erklären, sondern ist einfach nur das Ergebnis von Priorisierung: Auf Grundlage seiner eigenen Erfahrungen und Überzeugungen entscheidet jeder, welchem der an und für sich nicht falschen Punkte er mehr Bedeutung bemisst.

Das ist natürlich keine Zauberformel, um all die gesellschaftlichen Großkonflikte zu befrieden. Aber im Hinterkopf zu haben, dass das Gegenüber womöglich nicht komplett falschliegt, wäre wenigstens schon mal eine gute Gesprächsgrundlage, am Küchentisch wie im Kabinett. Der Dissens ist dann nicht das Ende der Debatte, sondern ihr Anfang.