Die fatalen Folgen des Verzichts auf Atomwaffen

52

In diesen Tagen jähren sich zwei für die Ukraine entscheidende Ereignisse, die bei der Diskussion über den russischen Angriffskrieg und seine Ursachen häufig ausgeblendet werden: Am 1. Dezember 1991 stimmten gut neunzig Prozent der Ukrainer in einem Referendum für die Unabhängigkeit ihres Landes, das sich drei Monate zuvor aus dem fast siebzig Jahre währenden sowjetischen Zwangsbündnis gelöst hatte. Die Zustimmung war in der Westukraine mit mehr als 95 Prozent am größten, sie lag aber auch im Osten des Landes bei mehr als achtzig Prozent, und selbst auf der Krim votierte eine knappe Mehrheit dafür. Nicht nur ukrainischstämmige Einwohner, die drei Viertel der Gesamtbevölkerung ausmachten, hatten sich für die Unabhängigkeit ausgesprochen, sondern auch 55 Prozent der ethnischen Russen, der größten Minderheit im Land.

Russland war daraufhin zwar einer der ersten Staaten, die die ukrainische Unabhängigkeit formal anerkannten. Doch für einen Großteil der russischen Gesellschaft war vollkommen unverständlich, warum der einstige „Bruderstaat“ auf einmal Ausland sein wollte und sollte. Russen und Ukrainer gehörten doch historisch zusammen, war die in Moskau vorherrschende Auffassung, die Politiker fast aller Parteien, von Nationalisten bis hin zu Reformern, teilten. Ein halbes Jahr vor seinem Überfall auf die Ukraine formulierte Wladimir Putin in einem Aufsatz unter dem Titel „Zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern“ dann auch genau das: Die Ukraine sei keine eigenständige Nation, und die Ukrainer seien kein eigenes Volk, sondern ein natürlicher Teil Russlands.

Drittgrößte Atommacht der Welt

Der 5. Dezember 1994 ist das in diesem Zusammenhang zweite wichtige Datum. An jenem Tag unterzeichneten Großbritannien, Russland, die Vereinigten Staaten und die Ukraine in Budapest eine Vereinbarung („Budapester Memorandum“), die Kiew zur Abgabe aller auf seinem Staatsgebiet befindlichen Atomwaffen an Russland verpflichtete. Im Gegenzug garantierten die Unterzeichnerstaaten der Ukraine die Wahrung ihrer Souveränität und territorialen Integrität, und sie versicherten, gegenüber dem sich seiner mächtigsten Waffen entledigenden Staat weder wirtschaftlichen noch militärischen Zwang auszuüben.

Durch den Zerfall der Sowjetunion war die Ukraine wegen der auf ihrem Gebiet stationierten Kernwaffen zur drittgrößten Atommacht der Welt geworden. Nicht nur Russland, sondern, das wird heute oft vergessen, vor allem die USA bedrängten Kiew, sein Kernwaffenarsenal an Moskau abzugeben. Neue Atommächte, noch dazu in einem zerfallenden Staatengebiet, stellten in den Augen des damaligen Präsidenten George Bush senior angesichts des blutigen Zerfalls Jugoslawiens ein zu großes Risiko dar. Bush selbst hatte gar Anfang August 1991, also vor der Erklärung der Unabhängigkeit, in einer Rede in Kiew vehement für einen Verbleib der Ukraine in einem Bündnis mit Russland geworben. Und nicht umsonst prangte hinter den Unterzeichnern des Memorandums, zu dem auch Kasachstan und Belarus gehörten, eine Weltkarte mit dem Titel „Zusammenarbeiten für eine sicherere Welt“.

Das Abkommen hatte nur einen Haken: Es besaß keinen Sanktionsmechanismus, sollte es verletzt werden. So behauptet Russland seit 2014, das Abkommen sei durch die ukrainische Revolution, die es als „Staatsstreich“ bezeichnet, gebrochen. Das folgt dem hegemonialen Verständnis Moskaus, selbst zu wissen und zu bestimmen, was für die Ukraine (und andere einstige Sowjetrepubliken) am besten ist. Mit größter Selbstverständlichkeit und ohne Abstimmung übernahm Russland 1991 auch den sowjetischen Sitz im UN-Sicherheitsrat, obwohl Russland bis dahin kein eigenes UN-Mitglied war (im Übrigen anders als die Ukraine, die 1945 als Sowjetrepublik zu den Gründungsmitgliedern zählte) und obwohl die Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS) Nachfolgeorganisation der Sowjetunion war.

Nur mit wirksamen Sicherheitsgarantien

Angesichts dieser Entwicklung werden vor allem zwei schwerwiegende Folgen offensichtlich: Keine ernst zu nehmende ukrainische Regierung kann heute ohne wirksame Sicherheitsgarantien Dritter die Verteidigung gegen Russlands Angriffe einstellen. Ein bedingungsloser Waffenstillstand würde über kurz oder lang zu einem weiteren Überfall Russlands führen. Folgerichtig erklärte Kiew jetzt aus Anlass des 30. Jahrestags des Budapester Memorandums, angesichts seiner „bitteren Erfahrungen“ keine anderen Sicherheitsgarantien als eine NATO-Mitgliedschaft zu akzeptieren.

Noch schwerwiegender sind die globalen Folgen. Der russische Überfall auf die Ukraine hat Staaten weltweit vor Augen geführt, dass es nur einen einzigen Schutz vor existenzbedrohenden Überfällen gibt: eigene Atomwaffen zu besitzen. Längst streben deshalb immer mehr Länder nach der ultimativen Waffe. Die Welt, die 1994 in Budapest sicherer werden sollte, ist dreißig Jahre später vielleicht so unsicher geworden wie noch nie.