Echte Gefahr oder verzerrte Wahrnehmung?

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Wenn es um Messerangriffe in Deutschland geht, dann sind Sätze richtig, die sich zu widersprechen scheinen. Man muss sie aber zusammendenken. Die wichtigsten dieser Sätze sind:

1. In den letzten Jahren ermordeten mehrere Islamisten Menschen mit Messern, willkürlich und mitten in der Öffentlichkeit. Das ist neu und gab es vor 2015 nicht.

2. Es gibt keinen starken Anstieg der Messergewalt in Deutschland.

3. Ausländer begehen im Verhältnis mehr Gewalttaten als Deutsche. Sie greifen dabei aber nicht öfter zum Messer.

Wie passen diese drei Sätze zusammen? Und welches Bild ergibt sich dadurch von sogenannter Messergewalt in Deutschland?

Die häufigsten Namen sind „Michael, Daniel und Andreas“

Im Jahr 2024 ereigneten sich zwei schwere, medial weit beachtete Messeranschläge: Im Mai erstach ein Afghane einen Polizisten und verletzte fünf andere Menschen. Keine drei Monate später tötete ein mutmaßlich islamistischer Syrer auf einem Stadtfest in Solingen drei Menschen, acht weitere verletzte er. Es war der 23. August, seit Monaten sprach das ganze Land bereits über die anstehenden Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen und vor allem über die Umfragen. Dort kletterte nämlich die AfD immer weiter in die Höhe.

Die AfD hat sich spätestens seit 2018 auf das Thema Messergewalt durch Einwanderer eingeschossen. In der Jungen Alternative sprach man damals von „Messerstichkultur“ und „Messermigranten“, Jörg Urban redete von „Männern aus der Messerkultur“, Andreas Kalbitz erklärte „Massen-Einwanderung ist Messer-Einwanderung“, Alice Weidel sprach von „alimentierten Messermännern“, und Gottfried Curio bezeichnete Flüchtlinge als „Fachkräfte für Messerattacken“. Messergewalt von Deutschen war dagegen kein Thema für die AfD.

Solingen am 23. August 2024: Polizisten und Rettungskräfte am Ort des Messeranschlags auf 650-Jahr-Feier der Stadt
Solingen am 23. August 2024: Polizisten und Rettungskräfte am Ort des Messeranschlags auf 650-Jahr-Feier der Stadtdpa

Welche bizarren Folgen dieses Ausblenden hatte, erfuhr der saarländische AfD-Politiker Rudolf Müller. Er fragte 2019 bei der Landesregierung nach, welche Vornamen bei den „als Täter aufgeführten deutschen Staatsbürgern“ von Messerdelikten besonders häufig vorkamen. Er wollte darauf hinaus, dass selbst bei den Deutschen diejenigen, die einen Migrationshintergrund hatten, die Liste der Messerdelikte anführten. Als Antwort kam jedoch aus Saarbrücken: Die häufigsten Namen sind „Michael, Daniel und Andreas“, gefolgt von Sascha, Thomas, Christian und Kevin.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.


Fünf Jahre später, im Sommer 2024, vor den Landtagswahlen im Osten, reagierte die Ampelregierung auf die Messerattacke in Solingen innerhalb von nur sechs Tagen mit einem Sicherheitspaket. Das trat wenige Wochen später in Kraft. Es beinhaltete unter anderem absolute Messerverbote, etwa in Bussen und Bahnen oder auf Volksfesten. Außerdem wurden die Grenzkontrollen ausgeweitet. Und es gab es neue Regeln für Asylbewerber: Wenn ein anderer europäischer Staat wegen der Dublin-Regelung für sie zuständig ist, sie also dorthin ausreisen müssen, erhalten sie nun keine Sozialleistungen in Deutschland mehr. Außerdem verlieren sie ihren Schutzstatus, wenn sie in ihr Heimatland „ohne sittlich zwingenden Grund“ reisen, also etwa wegen einer Beerdigung der Eltern.

Im Vergleich zur Vor-Corona-Zeit nur ein leichter Anstieg

Es ging nach dem islamistischen Terrorakt in Solingen also nicht nur um die Bekämpfung von islamistischem Terrorismus. Es ging konkret auch um die „Bekämpfung von irregulärer Migration“. Das war eine Verschränkung von zwei unterschiedlichen Themen.

Diese Verschränkung gibt es schon länger, sie ist mittlerweile so präsent im öffentlichen Diskurs, dass sie nicht mehr groß auffällt. Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz hatte etwa nach Solingen in seiner Merz-Mail geschrieben: „Nach dem Terrorakt von Solingen dürfte nun endgültig klar sein: Nicht die Messer sind das Problem, sondern die Personen, die damit herumlaufen. In der Mehrzahl der Fälle sind dies Flüchtlinge, in der Mehrzahl der Taten stehen islamistische Motive dahinter.“ Merz hatte recht. Die Mehrzahl der Messerterroristen waren tatsächlich Flüchtlinge. Aber die Mehrzahl der Kriminellen, die ohne Terrorabsicht mit dem Messer angriffen, waren Deutsche, keine Ausländer. Wie viele Personen mit einem Messer „herumlaufen“ oder als Flüchtlinge damit zustechen, weiß niemand.

Das Bundeskriminalamt zählt Messerangriffe seit dem Jahr 2021 in der Polizeilichen Kriminalstatistik. Der Anteil an Ausländern daran ist extra aufgeführt, nicht aber ihr Aufenthaltsstatus oder ihre Herkunft. In diesem Jahr hieß es wegen der verstörenden Bilder der Attentate oft, wie bei n-tv, die „Zahl der Messerangriffe nimmt deutlich“ zu. Auch der Bundesrat stellte fest, dass „die mit einem Messer begangenen Straftaten weiterhin deutlich zunehmen“. In der „Bild“ hieß es: „Immer mehr Messer-Attacken“, die Stuttgarter Zeitung schrieb: „Gefährlicher Trend: Messergewalt in Deutschland steigt deutlich an“. Und die Junge Freiheit erklärte Messergewalt gleich zur „Pandemie“.

Karlsruhe am 25. August 2024: Der mutmaßliche Täter des Messerangriffs von Solingen wird zu einem Hubschrauber gebracht.
Karlsruhe am 25. August 2024: Der mutmaßliche Täter des Messerangriffs von Solingen wird zu einem Hubschrauber gebracht.dpa

Diese Aussagen mag man treffen, wenn man einfach nur die Zahlen der PKS aus den Jahren 2023 mit denen von 2022 abgleicht. Im Jahr 2023 gab es dann knapp zehn Prozent mehr Messereinsätze bei Körperverletzungen als im Vorjahr, und bei Raub waren es mehr als 16 Prozent. Nicht beachtet wird dann aber, dass die Gewaltkriminalität insgesamt anstieg. Berechnet man das mit ein, dann ist der Anteil von Messereinsätzen an den Gewaltdelikten insgesamt ungefähr so groß wie vorher, bei Raub sank er sogar ganz leicht.

Es ist wichtig, solche Feinheiten zu benennen – sonst entsteht ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit. Nordrhein-Westfalen hat etwa als einziges Bundesland kurz nach dem Solingen-Attentat ein Lagebild zu Messergewalt im öffentlichen Raum erstellt. Ergebnis des Lagebildes war, dass Messereinsätze um mehr als 40 Prozent gegenüber dem Vorjahr zugenommen hatten. Die Nachricht verbreitete sich schnell. Es entstand der Eindruck, dass Messergewalt aktuell außer Kontrolle geraten war. Vergleicht man die Zahlen jedoch nicht mit 2022, sondern mit 2019, also vor Corona, dann ändert sich das Bild. Dann steigt der Messereinsatz gerade mal um etwas mehr als drei Prozent.

Statt aber auf die Corona-Delle, die in den Balkendiagrammen des Lagebildes klar erkennbar war, einzugehen, berichtete selbst die „Tagesschau“ davon, dass Messerkriminalität zunehme. Und Tichys Einblick machte daraus: „Messergewalt explodiert“.

„Davor braucht man sich nicht zu fürchten“

Eine der wenigen Forschungen zum Thema Messergewalt legte die Kriminologin Elena Rausch 2021 vor. Sie schaute sich Zahlen von verurteilten Gewalttätern aus Rheinland-Pfalz aus den Jahren 2013 und 2018 an. Weder konnte sie in diesem Zeitraum einen „massiven Anstieg der Messergewalt“ erkennen – dessen Behauptung jedoch 2019 dazu geführt hatte, dass das BKA Messerdelikte gesondert erfassen sollte. Noch konnte Rausch erkennen, dass Ausländer häufiger zum Messer griffen, wenn sie Gewalt verübten.

Was aber immer zu erkennen ist, sowohl in der PKS als auch bei Rausch, ist, dass Ausländer insgesamt öfter Gewalttaten verüben als Deutsche – also ist auch ihr Anteil an Messergewalt höher. Er liegt bei etwa einem Drittel bis zur Hälfte an allen Messervorfällen – und das ist weit höher als ihr Anteil an der Bevölkerung, der bei etwa 16 Prozent liegt (Touristen nicht mitgerechnet). Dies ist genau der Punkt, den sich die AfD vornimmt: die Überrepräsentation.

Hamburg 2023: Ein Bundespolizist zeigt am Hauptbahnhof sichergestellte Messer.
Hamburg 2023: Ein Bundespolizist zeigt am Hauptbahnhof sichergestellte Messer.dpa

In der Kriminologie ist man davon allerdings nicht überrascht. Stefan Kersting von der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung in Nordrhein-Westfalen sagt, Gewalttaten würden zum großen Teil von jungen Männern verübt, nicht von Frauen oder älteren Männern. Und Einwanderer seien häufig junge Männer. Ihn ärgert es, dass in Politik und Medien ein schiefes Bild von der Sicherheit in Deutschland gezeichnet werde. „Es ist sehr unwahrscheinlich, auf der Straße von einem Fremden mit einem Messer angegriffen zu werden“, sagt er. „Davor braucht man sich nicht zu fürchten.“

Es gibt allerdings eine zweite wichtige Forschung zu Messern, und das ist eine Dunkelfeldforschung. Es wird also nicht geschaut, wer etwas angezeigt hat, sondern es werden Menschen anonym über ihre Erfahrungen befragt. So können auch Taten erfasst werden, für die sich jemand schämt oder vor dessen Konsequenzen sich jemand fürchtet, sodass sie nicht öffentlich gemacht wurden.

Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen befragt seit über zehn Jahren Neuntklässler unter anderem dazu, ob sie Waffen bei sich haben. Bei der letzten Befragung, 2022, stellte sich heraus, dass Waffen insgesamt weniger werden – nur das Messer nicht. Hier gibt es einen leichten Anstieg. Und das ist ein Grund, sich zu sorgen, denn wer ein Messer mitnimmt, kann es im Konflikt auch einsetzen.

Interessant aber ist, dass Migranten der ersten Generation, also direkt eingewanderte, im Vergleich zu Deutschen deutlich weniger Waffen bei sich tragen. Bei der zweiten Generation ist es dann bereits ähnlich – fast jeder Vierte trägt eine Waffe bei sich, und beim Messer ist es etwa jeder Fünfte.

Für Kersting muss deshalb vor allem über Gewaltprävention geredet werden. „Davon ist mir in der öffentlichen Diskussion viel zu wenig die Rede.“ So sieht es auch der Münsteraner Kriminologe Christian Walburg. Bereits im Jahr 2007 hatte es einen Höchststand an Gewaltkriminalität gegeben, er war sogar ein wenig höher als derzeit. Danach seien die Zahlen aber wieder runtergegangen, die Jugendgewalt hatte sich innerhalb von nur 10 Jahren sogar halbiert.

Wie war das gekommen? Nach Walburg einerseits dadurch, dass sich der Trend zur gewaltfreien Erziehung in den Familien fortgesetzt habe. Andererseits aber auch „mit großen Präventionsanstrengungen, die vor allem an den Schulen unternommen wurden“. Das müsse auch nun wieder verstärkt angegangen werden. Eine Verschärfung von Strafrecht, etwa die Senkung des Strafmündigkeitsalters, wie es auch schon oft hierzulande diskutiert wurde, habe dagegen, wie etwa in England zu sehen, nicht wirklich mehr gebracht.