Wie Putin den Tod für Russland verherrlicht

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Dort graben sie wieder, die Totengräber vom Ehrenfriedhof des russischen Militärs. Ihre Schaufeln gehen auf und nieder, sie heben ein neues Grab aus. Die Arbeit ist hart, der Boden gefroren, es weht ein eisiger Wind. Schnee liegt auf den Gräbern, neben manchen sind Fahnen aufgepflanzt. Die Totengräber machen eine Pause, stützen sich auf die Schaufeln, scherzen miteinander. Sie haben viel zu tun, das „Pantheon der Vaterlandsverteidiger“, so heißt der Friedhof, wächst.

Er liegt am Rande von Mytischtschi im Moskauer Umland. Formal ist das eine eigene Großstadt, faktisch gehört Mytischtschi zur immer weiter wuchernden Hauptstadt. Bald hinter dem Autobahnring um Moskau stehen zwei schwarz-rote Stelen an einer Ausfallstraße, dahinter erstreckt sich das Pantheon zwischen einem Wald und einem Industriegebiet. Der Friedhof wurde im Sommer 2013 eröffnet; der erste Tote, der hier bestattet wurde, war ein nicht identifizierter Soldat, der im Zweiten Weltkrieg fiel. Ihm gewidmet ist die dunkle Statue einer Mutter mit totem Sohn auf dem Schoß, vor der eine ewige Flamme brennt. Ihm und allen Russen, die, so die offizielle Formel, ihr Leben für die Heimat geben.

Friedrich Schmidt

Die erste Aussegnung im Pantheon galt Ende 2013 Michail Kalaschnikow, der das AK-47-Sturmgewehr konstruierte. Sein Grab ist links von der Statue der trauernden Mutter, drei frische Nelken liegen unter der Büste. Bald nach dem Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 wurden weitere Hektare von dem nahen Wald abgezweigt, um den Friedhof zu vergrößern. Links neben einer Doppelallee aus Tannen ist noch viel Platz für neue Gräber. Rechts davon ruhen schon Hunderte Männer, die in der „speziellen Militäroperation“ gefallen sind – dem Angriffskrieg gegen die Ukraine, den Präsident Wladimir Putin als Verteidigungsringen gegen den Westen darstellt. Auf vielen Grabsteinen stehen Sätze wie der, dass Krieger ewig leben und dass Piloten nicht sterben, sondern zu Sternen werden.

Über dem Weg zum Gräberfeld surren Hochspannungsleitungen. Soldatenstatuen und Bronzeplaketten flankieren ihn, mit Zaren-, Schriftsteller- und Sängerworten, die den Tod für das Vaterland zum Höchsten erklären – und die Bereitschaft dazu zu einer spezifisch russischen Qualität. Damit das schon die Jugend aufnimmt, wird gerade eine Schülergruppe durch Wind und Schnee geführt.

Sonst sind keine Besucher da, neben den Totengräbern stehen nur Arbeiter, die Schnee wegräumen. Wie ein Wallfahrtsort, zu dem die Massen strömen, wirkt das Pantheon nicht. Dabei ist der Eintritt frei, man muss sich nur am Eingang ausweisen und angeben, zu welchem Grab man will. Der Wachmann schreibt die Angaben in ein Heft und nimmt es mit den Namen der Toten nicht so genau: Aus „k Utkinu“, zu Utkin, wird im Namensfeld „Kautkin“.

„Treue ist meine Ehre“

Dmitrij Utkin war der militärische Kommandeur der Wagner-Miliz. Jetzt liegt er in den Reihen der in der Ukraine Gefallenen. Sein Grab ist eines der wenigen, zu dem frische Fußspuren durch den Schnee führen. An den Stein hat jemand Boxhandschuhe gelehnt, man erkennt sie erst, wenn man den Schnee abklopft. Das Porträt des Glatzkopfs hebt sich goldfarben von dem schwarzen Grabstein ab. Utkin gab der Miliz seinen eigenen Kampfnamen, der angeblich von seiner Vorliebe für den deutschen Komponisten rührte. Die Nationalsozialisten soll er auch geschätzt haben. Auf der Rückseite des Grabsteins steht unter dem Totenkopflogo der Wagner-Miliz als Epitaph „Treue ist meine Ehre“, ähnlich dem SS-Motto.

Utkin kämpfte in Tschetschenien, später in der Ukraine und in Syrien. Von dem früheren Spezialkräftesoldaten, dem Auszeichnungen wie der „Held Russlands“ den Platz im Pantheon eingetragen haben, heißt es, er habe während des Aufstands des Wagner-Anführers Jewgenij Prigoschin im Juni 2023 dessen Militärkolonne Richtung Moskau geführt. Putins Sicherheitskräfte konnten oder wollten sie nicht stoppen, Prigoschin selbst brach den Aufstand nach Verhandlungen ab.

Putin: „Vor der Welt ist auch der Tod schön“

Utkins Todesdatum steht ebenfalls in Goldfarbe auf dem Stein: 23. August 2023. Da stürzte er zusammen mit Prigoschin und acht weiteren Insassen gut 300 Kilometer nordwestlich von Mytischtschi mit dem Flugzeug ab. Man geht davon aus, dass Putins Leute damals die Scharte des Aufstands auswetzten. Daran, dass mit Utkin auch ein Aufrührer im Pantheon geehrt wird, kann man den Stellenwert der Kämpfer für Putin erkennen: Wer im Sinne des Herrschers zur Waffe griff, dem verzeiht er sogar Verrat, wenn auch nur postum. Nach der Rache soll der Tote als Held und Vorbild neue Kämpfer werben.

Auch Putin selbst beschreibt den Schlachtentod regelmäßig als sinnstiftend. Im April 2014, als der damals noch verdeckte Krieg im Donbass begann, sagte Putin in einem seiner mehrstündigen Staatsfernsehauftritte, nur im russischen Volk habe die Redensart entstehen können: „Vor der Welt ist auch der Tod schön.“ Er meinte den Tod für Land und Volk im Rahmen einer „höheren moralischen Bestimmung“ der Russen. Das sei „einer unserer Hauptwettbewerbsvorteile“, während es im Westen nur um „persönlichen Erfolg“ gehe, sagte Putin. Sind die Russen wirklich eher bereit als andere Völker, ihr Leben zu opfern?

Die Kluft zwischen Propaganda und Wirklichkeit

„Nein, das ist nicht so“, sagt Lew Gudkow am Abend im Zoom-Gespräch – er hat viel zu tun – und lacht. Nicht, weil das Thema lustig wäre. Sondern, weil der 78 Jahre alte Soziologe vom Lewada-Zentrum, Russlands einzigem unabhängigen Meinungsforschungsinstitut, wieder Fragen zu einem Thema bekommt, das im demokratieverwöhnten Westen schwer verstanden wird. Es geht um die Kluft zwischen Propaganda und Wirklichkeit, zwischen ideologischen Formeln und dem Leben der Menschen.

Putins Helden- oder „Todeskult“, wie Gudkow ihn nennt, bedient sich aus einem alten Arsenal. Schon zu sowjetischer Zeit war der Appell zu Heldentum und Selbstaufopferung Teil der offiziellen Rhetorik, prägte Filme, Bücher, Lehrpläne. Von Funktionären oder Journalisten befragt, wiederholen Russen die eingeimpften Floskeln von unsterblichen Helden und der Heimat, die kein Opfer vergesse. Das sei aber nur „dekorative Loyalität“, sagt Gudkow. Tatsächlich sei kaum jemand bereit, einfach so an die Front zu fahren. Dieses „doppelte Bewusstsein“ erlaube es, in einem repressiven Staat zu existieren.

In den Lewada-Umfragen geben im Durchschnitt nur zehn Prozent der Befragten an, sich für den Krieg verantwortlich zu fühlen, vor allem junge, gut ausgebildete, zivilgesellschaftlich aktive Frauen, erläutert der Soziologe. Die große Mehrheit der Russen fühlt sich demnach für gar nichts verantwortlich außer für sich selbst und das Wohlergehen von Familie und Freunden. Dahinter stehen die Erfahrungen, keinen Einfluss auf die Machthaber und deren Entscheidungen zu haben und nicht ausscheren zu dürfen.

Hardliner, Kriminelle und Glücksritter

Dass Putins Parolen von Größe und Opferbereitschaft nicht ausreichen, um Kämpfer zu werben, ist nicht neu. 2015 rief die Propaganda auch schon zum allrussischen Überlebenskampf gegen den Westen und ukrainische „Nazis“ auf. Damals äußerten nur vier, fünf Prozent der Russen Bereitschaft, im Donbass als Freiwillige zu kämpfen, erinnert Gudkow; dorthin zogen seinerzeit Hardliner, Kriminelle, Glücksritter und Kriegsenthusiasten wie Utkin. Jetzt sind Sold und Prämien für die Soldaten der „Spezialoperation“ hoch, für russische Verhältnisse ein kleines Vermögen.

Doch laut Gudkow reicht auch das viele Geld nicht aus, um so viele Rekruten anzulocken, dass sie die Kriegsverluste kompensieren könnten. Wenn er und seine Meinungsforscher die Russen fragen, ob sie es gutheißen, wenn sich ihr Sohn, Bruder oder Mann als Soldat verpflichten und in der Ukraine kämpfen würde, sagen um die 55 Prozent Nein, 40 Prozent bejahen. Euphorie sieht Gudkow nicht: Dem Zynismus der Herrschenden begegneten die Beherrschten mit Fatalismus und Angst.

Der Krieg bleibt für die meisten Russen ein Fernsehereignis

Die haben die Russen vor einer Generalmobilmachung nach der bloß „teilweisen Mobilmachung“ im Herbst 2022; vor Strafen und Repressionen und vor einem „großen Krieg“, den die Machthaber schon jahrelang skizzieren. Denen dienen diese Ängste dazu, jeden Widerstandsgeist zu ersticken. Zwar könne Putin nicht glaubwürdig Ehrlichkeit oder Pa­triotismus für sich beanspruchen, sagt Gudkow. „Für die Stabilität seiner Macht reicht es aber, wenn es keinen Widerstand gibt.“ Dabei verstehe der Kreml genau, wie zweifelhaft und brüchig die deklarierte Loyalität der Bevölkerung sei, und verzichte daher auf unpopuläre Schritte. „Die absolute Mehrheit der Russen versucht, nicht über den Tod oder einen Sinn des Lebens nachzudenken, sie lebt für den Moment“, sagt Gudkow.

Wenn jemand im eigenen Umfeld fällt, lädt das dazu ein, der persönlichen Tragödie mit den offiziellen Formeln einen Sinn zu geben. Ansonsten bleibt der Krieg für die meisten Russen ein Fernsehereignis, das sie nach Kräften ausblenden. Kommt doch einmal die Rede darauf, wählen sie meist distanzierte Ausdrücke dafür wie „das alles“. Sie sprechen über das Wetter, den Urlaub und andere Pro­bleme. Ein Moskauer Anfang 50 sagt während einer Fahrt durch die Hauptstadt, er liebe sein Land, „aber es gibt hier ein Riesenproblem“. Er macht eine kurze Pause, dann sagt er: „Die Leute werfen so viel Müll in Flüsse und Seen, obwohl doch überall Tonnen stehen!“

Als dieser Tage in einem Moskauer Neubauviertel ein General und sein Fahrer bei einem ukrainischen Sprengstoffanschlag getötet werden, sprechen Staatsvertreter wieder von Heldentum und Opfertod. Putin ernennt den General postum zum „Helden Russlands“ und schickt einen Kranz zur Beerdigung, die drei Tage später im Pantheon von Mytischtschi stattfindet.

Das Grab von Alexej Nawalnyj
Das Grab von Alexej NawalnyjFriedrich Schmidt

Als noch ein rot-weißes Plastikband den Tatort absperrt, äußern sich Anwohner schockiert darüber, dass es in ihrem ruhigen Viertel früh am Morgen knallte. Dass bei der Explosion auch Autos beschädigt wurden und Scheiben von Wohnungen zerborsten sind. Der Krieg ist ihnen so fremd wie der Mehrzahl der Russen; seine offiziellen Helden wirken wie Störenfriede und „wecken Misstrauen“, erläutert Gudkow. Am U-Bahnhof von Mytisch­tschi, wo Busse Richtung Pantheon fahren, stehen Männer in Flecktarn unter einem Zeltdach und singen zu Musik vom Band über Flugzeuge, die fortfliegen. Auf einem Schild steht, dass sie Geld sammeln für „das Andenken der Veteranen, die ihr Leben für das Vaterland gaben“. Die Musik ist laut, die Leute eilen vorüber.

Ein anderer Friedhof, ein anderer Held. Ein ganz anderer, ein klandestiner Kriegsgegner, den Putin erstmals öffentlich beim Namen nannte, als er schon tot war: Alexej Nawalnyj. Der Oppositionelle, der 2020 einen Giftanschlag knapp überlebte, Anfang 2021 aus Deutschland in seine Heimat zurückkehrte, noch am Flughafen abgeführt wurde und Mitte Februar in seinem letzten Straflager plötzlich starb, ruht seit dem 1. März auf dem Borissowo-Friedhof im Südosten von Moskau. Sein Grab ist gleich hinter der Eingangspforte rechts, das Foto darauf zeigt Nawalnyj mit skeptischem Blick.

In seiner im Herbst erschienenen Autobiographie beschreibt Nawalnyj, wie er damit rechnete, in der Haft umzukommen, vergiftet zu werden, und schildert seine Freude, als er merkt, dass seine Frau bei einem Besuchstermin auch davon ausgeht: „Sie hatte voll und ganz verstanden und hoffte wie ich das Beste, erwartete aber das Schlimmste und bereitete sich darauf vor.“ Zu Nawalnyjs Beerdigung strömten Zigtausende, schrien „Helden sterben nicht“, würdigten ihn als Märtyrer.

Nach der Beerdigung türmten sich Kränze und Berge von Blumen auf dem Grab. An diesem Tag stehen hier lediglich ein paar Rosen- und Nelkensträuße. In den ersten Wochen nach dem Tod glich Nawalnyjs Grab einer Pilgerstätte, ständig kamen Besucher. Jetzt ist gerade gar keiner da, der von den zahlreichen Überwachungskameras gefilmt würde; bloß eine Katze streift herum.

Der Meinungsforscher Gudkow sagt, Nawalnyj sei nur für die 15 bis 20 Prozent jener Russen eine positive Figur, die gegen Putin und den Krieg eingestellt seien; die übrigen sähen ihn getreu der Propaganda als Abenteurer, Betrüger und Unruhestifter. Auch sein Tod habe Nawalnyjs Bild nicht verbessert. „Die Erinnerung an ihn verschwindet schnell“, sagt Gudkow. Vor allem emigrierte Oppositionelle pflegten das Andenken. In Russland dagegen befremde Nawalnyj selbst die verbliebenen Kriegs- und Putingegner, sagt Gudkow. Er forderte von den Russen, einen Beitrag im Kampf gegen Putin zu leisten, und sei er noch so klein. Er selbst ließ sein Leben in diesem Kampf.

Nawalnyj stelle mit seiner moralischen Autorität „starke Anforderungen an die Menschen“, das führe zu innerer Anspannung und psychologischem Druck, sagt Gudkow. „Aber die Lebensbedingungen in einem repressiven Staat erfordern einen gewissen Opportunismus.“ So ergeht es Nawalnyj wie dem Krieg und Putins Helden: Selbst wer eigentlich nicht zur fatalistisch-konformistischen Mehrheit der Russen zählt, vergisst und verdrängt ihn.