Martin Mosebach über die Sprache von Thomas Manns Zauberberg

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Der Roman folgt ja zeitlich dem Großessay „Betrachtungen eines Unpolitischen“, der im Krieg geschrieben war, in der Absicht, ihn als kulturellen Kampf zu rechtfertigen. So erscheint der „Zauberberg“ als Versuch, die Gedankenfülle dieses inzwischen nach der vernichtenden Niederlage Deutschlands wie ein Irrtum erscheinenden Essai-Werks mit den Mitteln der Kunst zu spiegeln, zu ironisieren, spielerisch aufzulösen und dadurch womöglich zu heilen – nicht indem der Autor sich ausdrücklich davon distanzierte oder es gar bereute, sondern indem er sich, wie seine Protagonisten, ins Hochland begab und von sehr großer Höhe aus betrachtete, was seine Zeitgenossen und er selbst einst gedacht hatten, vor jenen wenigen Jahren, die durch das Kriegsende als unendlich weit zurückliegende Epoche anmuteten.

Was aber diese – für den, der das erleben musste, unbegreifliche – Umwandlung aller vertrauten Verhältnisse bewirkte, das war die Zeit, diese unsichtbare, alles in ständigem Wandel haltende Macht, die nur an den von ihr bewirkten Folgen abgelesen werden kann. Sie ist der eigentliche Gegenstand des Romans, wie in ei­nem weiteren Schlüsselwerk der Epoche, der „Recherche du temps perdu“ von Marcel Proust, deren letzter, postumer Band nur drei Jahre nach dem Zauberberg erschien. Es ist bestimmt kein Zufall, dass im Moment eines gewaltigen historischen Umbruchs gleich zwei große Epiker sich der Aufgabe stellen, dem Rätsel dieser unpersönlichen, aber allmächtigen Demi­urgin näher zu kommen.

Womöglich ein Echo der Stahlgewitter

Auf sehr unterschiedliche Weise allerdings: Während Proust der verstreichenden Zeit die wirklichkeitserzeugende Kraft der Erinnerung zugesellt, die ja erst durch das Zeitverstreichen möglich wird, steht bei Thomas Mann eine Versuchsanordnung im Vordergrund, die es unternimmt, die Zeit stillstehen zu lassen, ihre Wirkungen auszubremsen und das Leben wie in einem Weckglas zu konservieren, während die Geschichte mit großen Schritten voraneilt. Wird dies Weckglas gewaltsam geöffnet, dann strömt die Zeit zischend und einen Sauerstoffschock erzeugend ein, wie es in den letzten Seiten geschieht, als Hans Castorp in die Schlacht von Langemarck versetzt ist, und fegt mit der Gewalt des Druckausgleichs alles bisher Geschehene und Erlebte beiseite. Ganz nebenbei sei die Literaturwissenschaft gefragt, ob diese letzten Seiten, mangels eigener Erfahrung und angesichts mancher Formulierungen, nicht nach Lektüre der „Stahlgewitter“ Ernst Jüngers geschrieben sein könnten – eine gewisse souveräne Unbeteiligtheit an den schrecklichen Vorgängen lässt diesen Gedanken aufkommen.

Zur Darstellung der Philosophie oder vielmehr der Nichtphilosophie des Zauberbergs, dieses Tändelns und Schwankens zwischen den extremen Positionen, man könnte sagen, für den ironischen Flirt mit dem Denken, der sich durch die beinahe tausend Seiten des Romans zieht, bedient der Autor sich eines Mittels, das immer wieder für höchste Komik sorgt.

Der Jüngling Castorp, keineswegs dumm, aber denkungewohnt und über das hinaus, was er im Gymnasium erfahren hat, nicht weiter unterrichtet (das kaiserzeitliche Gymnasium ist mit dem, was sich heute so nennt, freilich nicht in einem Atemzug zu nennen), wird zum willigen Objekt vielfältiger Bildungsanstrengungen – er wird von dem Freimaurer Settembrini in die Grundzüge der Aufklärung und des Republikanismus eingeweiht, von Naphta in den anthropologischen Pessimismus der Gegenaufklärung, er erhält ein ausführliches anatomisches Privatissimum vom Chefarzt des Sanatoriums, sammelt Erfahrungen in der Liebe, in der Psychoanalyse und Parapsychologie und in der Malerei und geht immer wieder das Wagnis des Selberdenkens ein.

Keine Doktrin könnte diese Vereinnahmung überleben

Da lässt Thomas Mann seinen Parzifal über all das, was er in naiver Faszination aufgeschnappt hat, mit eigenen Worten unter wiederholter Aufputzung der sich ihm eingeprägt habenden Begriffe drauflosphilosophieren – man erkennt an den Bruchstücken der Vorträge den Gedankengang seiner Lehrer wieder, aber nun unschuldsvoll vereinfacht. In enthusiastischer Folgsamkeit vorgetragen, einer Bereitschaft, sich Dinge zu eigen zu machen, deren Tragweite ihm gar nicht bekannt ist, werden große Gedankengebäude zu drolligen Schlagwortgirlanden – ich wage zu behaupten, dass es keine erhabene Doktrin gibt, die diese in die vollständige Demontage führende Vereinnahmung überstehen würde. Schleichender Zerfall jeder Ernsthaftigkeit wird hier nicht im Säurebad der Skepsis ausgelöst, wie man das häufig finden kann, sondern durch unschuldige ahnungslose Begeisterung, ein Experiment, ausgeführt im Laboratorium der Lungenheilanstalt, in welchem die Insassen aus den gesellschaftlichen und politischen Zusammenhängen ihrer Herkunft über viele Jahre herausgelöst sind und sich in einer Ausnahmesituation befinden.

Denn die Länder, aus denen diese Kranken stammen, befanden sich in den Jahren vor dem großen Krieg ja keineswegs im Zustand zeitvergessener Trance. Gern sieht man die Vorkriegsjahrzehnte als Phase der Dekadenz, man sieht überall die Anzeichen eines Endes – die Kunst und Literatur sind nicht unschuldig an diesem Bild, das sich vor die explosive ökonomische Aktivität, die Entdeckungen der Naturwissenschaft, die Erschließung ganzer Kontinente schiebt, ein allgemeines Erstarken, das am Ausbruch des Weltkonfliktes durchaus ursächlich beteiligt war.

Mit dem Messer hantierte Thomas Mann bei der Bearbeitung der eigenen Texte nicht zu gern. Auf den Tischen des Speisesaals im „Berghotel Schatzalp“ in Davos liegt Besteck bereit, das schon die Gäste das einstigen Luxussanatoriums vor hundert Jahren benutzten.
Mit dem Messer hantierte Thomas Mann bei der Bearbeitung der eigenen Texte nicht zu gern. Auf den Tischen des Speisesaals im „Berghotel Schatzalp“ in Davos liegt Besteck bereit, das schon die Gäste das einstigen Luxussanatoriums vor hundert Jahren benutzten.Picture Alliance

So ist denn die Szenerie der zeitlos verdämmernden Lungenkranken weniger ei­ne Parabel der ausgehenden Kaiserreiche, als Ausdruck eines tiefen Gefühls der Unwirklichkeit, das bei manchem durch Krieg und Revolution entstanden sein mag, als tausendjährige Monarchien wie die Seifenblasen zerplatzten. 1918 war Thomas Mann dreiundvierzig, er hatte bis zuletzt an den Bestand des preußisch-deutschen Kaiserreichs geglaubt. Ist ihm das, was er mit Leidenschaft im Krieg vertreten hatte, nun wie ein Traum erschienen? So könnte man denken, wenn man die im Zauberberg geführten Debatten verfolgt – die Menschheitsrhetorik des Settembrini, des sympathischen Drehorgelmannes, und den rauschhaften Pessimismus des unsympathischen Naphta, der aber, wie der Autor Hans Castorp einräumen lässt, meistens recht behält. Keinesfalls als Synthese dieser Positionen darf die überraschende und pauschale Liebesbotschaft gelten, die im berühmten Schneekapitel und am Schluss des Romans verkündet wird – ist sie am Ende eine poetische Überhöhung der Hinwendung Thomas Manns zur SPD? Es mag auch heute noch Genossen geben, denen diese Deutung plausibel erschiene.

Historismus als Stilidealvorstellung

Müsste man also sagen, dass er, der mehr als die Hälfte seines Lebens im Vorkriegsdeutschland zugebracht hatte und davon auch geformt worden ist, jedenfalls mit seinem Zauberberg noch dem neunzehnten Jahrhundert zuzuzählen wäre?

Ich möchte versuchen, diese Frage vor allem von der Sprache her zu beantworten, die bei Betrachtung eines Autors doch wohl das Wichtigste ist, was immer er an Stoffen und Ideen bearbeitet hat. Und da wird gern geurteilt, die Sprache Thomas Manns sei tatsächlich ganz neunzehntes Jahrhundert, dessen Konkursverwalter er gewesen sei, ein letzter, der die überkommene Sprache einer untergegangenen Epoche spielerisch verspottet habe, ohne imstande oder willens zu sein, etwas Neues zu schaffen.

Sprache des neunzehnten Jahrhunderts also, das ein großes Jahrhundert der deutschen Literatur war, aber daran denken wohl jene nicht, die ihm seine Sprache vorhalten. Man könnte glauben, sie dächten überhaupt nicht an Sprache, sondern an den Dekorations- und Möbelstil des Historismus, wenn sie Mann charakterisieren wollen, denn Goethe und Brentano, die Grimms, der große Stilist Johann Peter Hebel, von dem so viele gelernt haben, Stifter, Keller und C. F. Meyer, Fontane, Raabe und Nietzsche schrieben ein gänzlich anderes Deutsch. Goethes Ideal war, mit seinen Worten, „ein allgemeiner gebildeter Stil“ – ein allgemeiner, wohlgemerkt, nicht ein systematisch individualisierter, von der Duftmarke des Autors durchtränkter. Der klassische Stil des Horaz klingt darin an, der anriet, „ungewohnte und selten gehörte Wörter zu meiden wie die Felsenriffe“ – man könnte von einem Stil sprechen, den die Sprache bei richtiger Anwendung von selbst hervorbringt.

Das Familienidiom der Pringsheims

Nein, „klassisch“ in diesem Sinne des neunzehnten Jahrhunderts schrieb Thomas Mann nicht. Es ist eigentlich überhaupt nicht die Sprache der Literatur, die er für sich weiterentwickelt hat, als vielmehr die der wilhelminischen Akademien, eine Art wilhelminisches Barock, dessen überkomplizierten Konstruktionen er ei­nen genießerischen Unterton von Vergnügen daran unterlegt; in ihrer gelegentlich närrischen Gravitas und ihrem spaßigen Prunkbedürfnis machen sie den Glanz seiner Prosa aus. Es ist aber wohl so, dass besonders vertrackte ironische Wendungen, die für ihn typisch sind, dem Familienjargon der Pringsheims entstammen, der Ver­wandtschaft seiner Frau, die sich mit einer eigenen drollig verqueren Sprache verständigte – nach der Regel, Banales so hochtrabend wie möglich auszudrücken, eine leicht snobistische Überheblichkeit, die durch ihren Witz blendet; seine Kinder Klaus und Erika haben diesen Jargon weitergeführt. Spuren davon sind im ganzen Werk zu finden.

Mir scheint es aber wichtig, nicht so allgemein zu bleiben. Meine Wiederlektüre des Zauberberges nach mehr als fünf Jahrzehnten war vor allem auf diese sprachlichen Mittel des Meisters konzen­triert – die erste hatte unter den Kastanien des Frankfurter Palmengartens in der Nähe der Konzertmuschel stattgefunden – mir ist, als sei dabei unablässig leichter Regen auf das dichte Laub gefallen, ein Geräusch, das mich sanft einlullte.

Quecksilberzigarre mit Schatulle: Dieses Thermometer, eine Leihgabe der Medizin- und Pharmaziehistorischen Sammlung der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, war 2024 in der Zauberberg-Ausstellung des Lübecker Buddenbrookhauses zu sehen.
Quecksilberzigarre mit Schatulle: Dieses Thermometer, eine Leihgabe der Medizin- und Pharmaziehistorischen Sammlung der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, war 2024 in der Zauberberg-Ausstellung des Lübecker Buddenbrookhauses zu sehen.Michael Haydn

Was ich bei meiner zweiten Lektüre aus Anlass des Jubiläums unter hellem ägä­ischen Himmel nun festgehalten habe, mag den Eindruck machen, ich unternähme den lächerlichen Versuch, diesem monumentalen Werk am Zeuge zu flicken – nichts liegt mir ferner. Ein Werk, das weltweit gewirkt hat und dem lebendigste Figurenschöpfungen zu verdanken sind wie Hofrat Behrens und Mijnheer Peeperkorn, ist unangreifbar. In jedem Leser des Zauberberges führen die beiden ein vom Werk schon geradezu ablösbares Eigenleben. Die Frage, ob Thomas Mann stilistisch ein Autor des neunzehnten oder des zwanzigsten Jahrhunderts ist, kann gegenüber einer längst eingetretenen Überzeitlichkeit des Buches zur Erkenntnis kaum mehr etwas beitragen.

Wie genau der Autor die Effekte erzielt

Deshalb darf dennoch festgestellt werden, dass sein Umgang mit der Sprache erst im zwanzigsten Jahrhundert möglich war, das „uneigentliche Sprechen“, das sich einen satirischen oder karikierenden Archaismus als Idiom erfindet – die Sprachskepsis der Werke, die dem Zauberberg folgten, ist in gleichem Maße modern wie die Sprachexperimente der „avantgardistischen“ Autoren – nur dass seine unter dieser Bedingung entstandenen Werke so viel genussreicher zu konsumieren sind.

Dem leidenschaftlichen Leser macht es aber einfach Spaß, sich Rechenschaft darüber abzugeben, wie genau sein Autor seine Effekte erzielt. In Fragen des Geschmacks scheiden sich die Geister ohnehin. Noch eins ist wichtig: Die nun von mir zitierten Auffälligkeiten sind nicht systematisch herausgesucht und aufgespießt worden, es fiel vielmehr schwer, ihre Zahl zu begrenzen, denn auf beinah jeder Seite des Romans ist Ähnliches zu finden. Sie sind samt und sonders typische Merkmale des Mannschen Stils.

Das Erste, was mir nun auffiel, war der exzessive Gebrauch einer grammatischen Figur, die nicht aus dem neunzehnten Jahrhundert, sondern wohl aus dem Barock der sprachschöpferischen Philologen stammt – die Übertragung oder Nachahmung des lateinischen Ablativus oder Genetivus absolutus sowie des Genetivus qualitatis ins Deutsche –, wir kennen die Übertragung von stante pede in „stehenden Fußes“ und brevi manu in „kurzerhand“. Auch „unverrichteter Dinge“ dürfte auch heute noch halbwegs populär sein.

Manches verschwindet im zweiten Teil

Die Behauptung sei gewagt, dass nicht ein einziger deutscher Autor es mit solcher Lust unternommen hat, diese Formen lateinischer Verknappung und Lakonie zu gegenteiliger Wirkung gelangen zu lassen: nämlich zu exzentrischer Aufschmückung der Sprache. Dass der deutsche Genetivus absolutus in der Beamtensprache der Kaiserreiche gern verwendet wurde, etwa in Gestalt des in der Donaumonarchie beliebten „hieramts“ oder gar „hiesigen­amts“. ist bei Thomas Mann vergessen – der Geist der Amtsstuben in strenger hölzerner Magerkeit verwandelt sich unter seiner Feder in Sprachluxus. Ich hatte mich nicht daran erinnert, dass im Zauberberg eine solch überreiche Ernte des deutschen Genetivus absolutus und des Genetivus qualitatis zu finden war, aber aus einem anderen Werk des Autors, „Königliche Hoheit“, erinnerte ich mich, dass jemand mit seinem Sportwagen „zurückgeschlagenen Verdecks“ über Land brause – ein Freund von mir, der ein Cabriolet besaß, übernahm begeistert diese Formel.

Aber im Zauberberg geht es erst richtig los: aus „kurzerhand“ wird hier, um die Redensart zu vermeiden „schlankerhand“; eine Frau, Madame Chauchat, geht „vorgeschobenen Kopfes“; eine andere ist „zurückhaltenden Wesens“; Sänger singen „formenden Mundes“; andere sprechen „gerundeten Mundes“; sind dabei „geblendeten Auges“, wenn nicht gar „unsteten Blicks“; dann auch „hochroten Gesichts“ oder „andächtig verschwimmenden Blicks“, aber auch „gebrochenen Blicks“ oder sprechen „gleichmütig gedehnten Tones“. Russische Gäste sind „barbarisch reichen Ansehens“. Die besonders exquisite Genitivbildung „maßgeblicherseits“ stammt hingegen wohl noch unmittelbar aus einer kaiserzeitlichen Kanzlei.

Dies ist nur eine Auswahl, und zwar aus dem ersten Teil des Romans. Auffällig ist, dass solche Prägungen im zweiten Teil fast ganz verschwinden – bis auf einige Prachtexemplare: „wutverblödeten Angesichts“ etwa, aber auch „verschmitzten und lebensfreundlichen Auges“ und sogar „gewahrten wissenschaftlichen Gesichtes“, das fällt während eines heftigen Streitgesprächs und soll wohl heißen: indem er sein Gesicht als Wissenschaftler wahrte; und schließlich das nicht unkomplizierte „schneebewahrten Tageslichts“ – gemeint ist vielleicht die Fähigkeit des Schnees, nach Sonnenuntergang für eine Weile noch Licht zu reflektieren. Gegen Ende des Romans wird eine Figur eingeführt, die als „Antisemit“ bezeichnet wird. Sein Judenhass wird – mehrfach wiederholt natürlich – eine „Puschel“ genannt, ein Tick, eine harmlose Obsession. Nach dem Zweiten Weltkrieg hätte man so etwas nicht mehr so familiär-humorig benannt. Aber die ungebremste Neigung zu solchen Genitivkonstruktionen dürfte wohl auch weiterhin „Puschel“ genannt werden.

Ein weiteres Mal mit den Händen rudernd

Eine andere stilistische Eigenart Thomas Manns ist jedem Leser gegenwärtig – es ist die Gewohnheit, seine Figuren mit feststehenden Epitheta einzuführen, die bei jedem ihrer Auftritte wiederholt werden. Ein heutiger Lektor würde sagen: „Das wissen wir doch längst“, wenn Hofrat Behrens ein weiteres Mal mit blutunterlaufenen Augen und blauen Wangen, mit den Händen rudernd auftritt, und würde alles streichen, damit aber eine Stileigentümlichkeit auslöschen. Man schreibt sie der Nachahmung der Leitmotivik Wagners zu, aber eigentlich ist diese Technik viel älter, homerisch genau genommen, wo Götter und Helden stets im Schmuck ihrer unveränderlichen Epitheta auftreten, eine originalepische Institution also. Es haben diese geradezu rituellen Wiederholungen aber noch einen anderen Effekt – den des alten italienischen Maskentheaters, das ebenfalls aus der Antike stammt und gleichfalls auf einer unüberwindlichen Typisierung der Figuren beruht.

„Fünftausend Fuß hoch liegen wir auf unseren Stühlen, die auffallend bequem sind, und sehen auf Welt und Kreatur hinunter und machen uns unsere Gedanken.“ In der von Karin Becker und Karolina Kühn kuratierten Zauberberg-Ausstellung des Münchner Literaturhauses stand 2016 auch ein vorzüglicher Liegestuhl.
„Fünftausend Fuß hoch liegen wir auf unseren Stühlen, die auffallend bequem sind, und sehen auf Welt und Kreatur hinunter und machen uns unsere Gedanken.“ In der von Karin Becker und Karolina Kühn kuratierten Zauberberg-Ausstellung des Münchner Literaturhauses stand 2016 auch ein vorzüglicher Liegestuhl.Literaturhaus München

Hans Castorp behält bis zum Schluss seine „einfachen blauen Augen“, obwohl uns suggeriert wurde, er habe eine Entwicklung durchgemacht in den sieben Jahren, Madame Chauchat ist auf ewig dazu verurteilt, mit der einen Hand ihre auseinanderfallende Frisur im Nacken zu stützen, die junge Marusja bleibt bis zum Tod im Besitz ihrer „hohen Brust“, ihres Orangen­parfüms, ihres kleinen Rubins und ihrer unbegründeten Lachlust, Settembrini lächelt von Anfang bis zum Ende „fein und schmerzlich“. Selbst in dem kurzen Auftritt von Frau Ziemssen, Vetter Joachims Mutter, muss wiederholt bemerkt werden, dass ihre seelische Gefasstheit der „Zusammengenommenheit“ ihres Haares durch ein kaum sichtbares Netz gleiche. Manchmal erzeugen die Epitheta eine überwältigende, gar nicht leicht zu analysierende Komik – etwa wenn der Liegestuhl, in dem Castorp seine Liegekur absolviert, gnadenlos von Anfang bis Ende wie in einem Reklameprospekt „vorzüglich“ genannt wird. Dies Verwöhnte und Bequeme nimmt der Lage der Todkranken viel von ihrem Ernst, sie waren mit ihrem Husten wenigstens „vorzüglich“ gebettet. Und besonders schön ist der Fall von Frau Stöhr, die notorisch unsicher im Gebrauch von Fremdwörtern ist und deshalb „ungebildet“ genannt wird – bei jeder Lebensregung: Ihre Tischmanieren sind „ungebildet“, sie lacht „ungebildet“ und es scheint ihre Unbildung sie ganz und gar im Griff zu haben und eine körperliche Eigenschaft geworden zu sein. Man glaubt zu ahnen, was er meint, aber wie das im Einzelnen aussieht, verschweigt der Erzähler listig.

Kein Problem im substantivischen Stil

Schließlich gewinnt diese Typisierung sogar die Oberhand über die Erzählung und bildet vollständig ihren Körper, wenngleich für nur wenige Sätze, ein unauffälliger artistischer Höhepunkt dieses Mittels, im Schreckmoment nach der Duellforderung Naphtas an Settembrini, da ist nichts, was nicht schon fünfzigmal gesagt worden wäre. „Die andern standen noch immer am Tisch. Ferges Schnurrbart fuhr fort auf und ab zu wandern. Wehsal hatte den Unterkiefer schräg gestellt. Hans Castorp ahmte die Kinnstütze seines Großvaters nach, denn ihm zitterte das Genick.“

„Das Verb ist die Königin der deutschen Sprache“ – wer immer diesen Satz formuliert hat, für Thomas Mann kann er keine Autorität gewesen sein, denn nicht immer, aber an wichtigen Stellen schiebt er ihn nachdrücklich zur Seite. Der wortgewaltige Formulierungsartist scheint im sub­stantivischen Stil kein Problem gesehen zu haben. „Verspätung schien eingerissen im Durchleuchtungsraum, und so stand kalter Tee in Aussicht“ – man könnte auch sagen: Man hatte sich verspätet im Durchleuchtungsraum, der Tee würde kalt werden.

„Daß es sich um eine Bestätigung seines Geschmacks handelte“ statt: seinen Geschmack bestätigte. – „Der Wunsch war un­erfüllbar, solange ein unbewehrter und unbeschwingter Fußgänger es war, der sich mit ihm trug“ – warum nicht: Der Wunsch war ohne Skier nicht erfüllbar? – „Nahm Seitenlage ein“ statt: legte sich auf die Seite – ebenso: Er hatte „Bettlage eingenommen“ statt: Er hatte sich ins Bett gelegt. – „Und so waren Geduld und Zurückhaltung denn sicherlich das ihm zukommende Betragen“ statt: Und so kam ihm sicherlich zu, sich geduldig zurückzuhalten. – „sodaß Bewußtlosigkeit einfiel“ statt: sodass sie das Bewusstsein verlor. Aber auch das „einfiel“ ist der Beachtung wert! „Bewusstlosigkeit fällt ein“, das liest man hier zum ersten und wahrscheinlich auch zum letzten Mal. – „Die Damen wurden von den verschiedensten Zuständen betreten“ statt: Die Damen gerieten in die verschiedensten Zustände. Von Zuständen „betreten“ werden, das kannte man auch noch nicht.

Aus Steifheit wird Steifigkeit

Es sei nun eine besondere Gabe Manns gestreift, seine Fähigkeit zur Wortbildung, die eine Reihe schöner Kombinationen gelingen lässt – darin erinnert er an Goethe. Ich lasse einfach einige dieser neuen Wörter folgen: „schwingenfrohe Vögel“, „talentstraffe Offenbach-Ouvertüre“, „spott­schlecht“, „krähenschreiharte Morgenfrühe“. Es gibt Peeperkorns „Königskoller“ und „Lebensaufmerksamkeit.“ Die „Rasseweiblichkeit“ und die „Dankesentgegennahme“ sind schon weniger glücklich gefunden. Auch ungewöhnlicher Gebrauch von Wörtern sei erwähnt: „schollern“ bezeichnet ein dumpfes Poltern, etwa von hinabgeworfenen Erdschollen auf einen Sarg, aber im „Zauberberg“ wird sehr glücklich dilettantisches Gitarrenspiel so charakterisiert, man hört ordentlich ein konturloses Dröhnen – aber weil er auf seinen Fund so stolz ist, wird nun immer wieder auf der Gitarre „geschollert“.

Und dann ist es erst recht, als genüge ihm der übliche korrekte Sprachgebrauch nicht und er müsse ihn auf eine andere Ebene schrauben, den Wörtern eine andere Bedeutung verleihen, nicht einfach sich einer gewählten Sprache bedienen, sondern eine Hypergewähltheit erfinden.

Aus Steifheit wird dann „Steifigkeit“, aus menschenverachtend „menschenverächterisch“. – Vetter Joachim geht nicht mehr in den Speisesaal, weil „er sich hohlwangig und überäugig wußte“ – gemeint sind die übergroß erscheinenden Augen der Todgeweihten –, aber „überäugig“? Dies Wort gefiel ihm aber wohl so gut, dass er es mehrfach gebraucht. – Die Berggipfel „überhöhten einander vor dem Blau“ statt: Sie überragten einander – Überhöhen ist ein geistiger Begriff. – Die „bedrängte Heiterkeit“ – gemeint ist eine gezwungene Heiterkeit, die dann freilich keine wäre. – „Der Ausgeschiedene“ – gemeint ist der Verschiedene, es sei denn, man betrachte das Leben als ein Turnier, bei dem die Verlierer der einzelnen Runden „ausscheiden“. – Eine Feuersbrunst wird „gestiftet“. – „Er sah sich aller Sorge um sein Gepäck überhoben“ – gemeint ist wohl „enthoben“. – „Wo man die Ärzte noch länger an dem Sinnlosen hantieren sah“ – gemeint ist der Besinnungslose, „hantieren“ ist für ärztliche Hilfe eine ungewöhnliche Wahl. Begriffe in der Diskussion haben eine „kämpferische Unbrauchbarkeit“, gemeint ist aber: Sie sind zum Kampf nicht zu brauchen.

Ab in die buddhistische Sprachhölle

Ich werde die Vorstellung nicht los, dass ein sehr gebildeter Ausländer im Bemühen, sich besonders gehoben auszudrücken, zu solchen Wendungen finden könnte, die nicht eigentlich Deutsch sind.

Genug davon, ich möchte mich, wie gesagt, nicht dem Verdacht der Respektlosigkeit gegenüber einem Größeren aussetzen. Es geht nur um eine Bestandsaufnahme – die das Staunen über dieses Werk nur vergrößern kann. Eine solche Bestandsaufnahme kann nicht schließen, ohne auf einige Prunkstücke stilistischer Anstrengung hinzuweisen.

Castorps Uhr ist stehengeblieben, aber „er hatte davon abgesehen, sie wieder in messenden Rundlauf setzen zu lassen“ – „sie reparieren zu lassen“ kann ja jeder schreiben. Auch für das Schwitzen hat er sich etwas einfallen lassen: „Sie verausgabte soviel Wasser“. Allein für den Gebrauch des Verbs „verausgaben“ hätte der von Mann so bewunderte Schopenhauer ihn in die buddhistische Hölle geschickt.

Zirkelgraphik statt Spirale

Und dann die Wahl überraschender Adjektive – das angestellte Grammophon wird „sanft kochende Wundertruhe“ genannt, das Auflegen einer Schallplatte „ein Beispiel der stummen Zirkelgraphik dem Schreine einzuverleiben, um es zum Tönen zu bringen“, wobei, nur nebenbei bemerkt, die Rillen einer Schallplatte nicht einen gezirkelten Kreis bilden, sondern eine Spirale.

Die Gewehrsalven über Vetter Joachims Grab werden „schwärmerisch“ genannt, das Grab selbst „wurzeldurchwachsen“. Rätselhaft ist „ein Gewitter von lächerlicher Überflüssigkeit“. Es gibt einen Rat Baudelaires, der Autor möge alltägliche Begriffe, wenn sie denn sein müssten, wenigstens mit überraschenden Adjektiven versehen – der Bonhommie, der Biederkeit sei dementsprechend etwa „asiatisch“ hinzuzufügen. Hat der vielbelesene Thomas Mann sich diesen Rat eines Dichters etwa zu Herzen genommen?

Manchmal frage ich mich, ob diejenigen, die Mann die Rolle eines Präzeptors der Sprache zuweisen, bei seinen sprachlichen Besonderheiten überhaupt länger verweilt haben. Natürlich haben sie ihn gelesen, sogar mit größtem Vergnügen, und sind im Banne dieser Weltbeschwörung in leicht febriler Trance über vieles hinweggeglitten, wie auch ich einst unter den regendurchtröpfelten Kastanien des Palmengartens. Das Ganze ist eben von größerer Bedeutung als seine Teile.

Ein Aphorismus Goethes

Dem nachgeborenen Autor, der nicht der Objektivität des Literaturwissenschaftlers verpflichtet ist, und der den größten Teil seiner Arbeit an einem Buch dem bisweilen mühseligen Feilen der Sprache widmet, ohne dass er mit dieser Feilerei auch nur in die Nähe eines Werkes wie des Zauberberges gelangt wäre – es möge diesem Nachgeborenen angesichts des ausgebreiteten Materials dennoch die etwas naiv klingende Frage gestattet sein: Ist das eigentlich gut geschrieben? Ist das eine schöne Sprache?

Das soll hier nicht beantwortet werden. Das sprachliche Material, aus dem der gewaltige Roman gebildet ist, möge für sich selber sprechen. Der – im Rahmen dieser Ausführungen eigentlich unmöglichen – Vollständigkeit halber darf aber nicht vergessen werden, dass es im Zauberberg viele Passagen gibt, die von dem Thomas Mann eigentümlichen Stilwillen ausgenommen sind. Ein weiteres Mal willkürlich herausgegriffen: „Sie überschritten den Steg, der über die Schlucht führte, worin im Sommer der jetzt verstummte Wasserfall niederging, der so sehr zum malerischen Charakter des Ortes beitrug.“ Oder: „Die Ausflügler bestellten einen Imbiß bei der dienstwilligen Wirtin. Den Kutschern ward Rotwein geschickt.“ Da ist er tatsächlich einmal, der behaglich biedermeierliche Erzählgestus, der aus dem neunzehnten Jahrhundert stammen könnte, aber er wirkt, als müsse der Autor hin und wieder einmal Luft holen.

Das Resümee meiner Lektüre habe ich in einem Aphorismus von Goethe gleichsam vorformuliert gefunden, im Schlusskapitel der „Wanderjahre“, bezogen auf den von ihm hochgeschätzten Lawrence Sterne. Der Aphorismus begründet sein apodiktisches Urteil nicht und regt zum Spekulieren an, bringt aber deshalb meine gemischten Empfindungen gegenüber dem Zauberberg sehr gut zum Ausdruck. „So sehr uns der Anblick einer freien Seele dieser Art ergötzt, ebensosehr werden wir gerade in diesem Fall erinnert, daß wir uns von all dem, wenigstens von dem meisten, was uns entzückt, nichts in uns aufnehmen dürfen.“

Nun, diese Gefahr ist heute gering, die Literatur nach Thomas Mann hat andere Wege eingeschlagen. Er selbst verweilte nicht ohne Wohlgefallen bei dem Gedanken „ein letzter“ gewesen zu sein. Dem wird man aber widersprechen müssen – „ein letzter“ war er nicht, wohl aber ein „einzigartiger“, ein Autor ohne Vorgänger und Nachfolger.

Martin Mosebach trug die voranstehenden Ausführungen am 6. Dezember 2024 auf einem von Dieter Borchmeyer einberufenen Symposium der Bayerischen Akademie der Schönen Künste vor. Am 13. März 2025 erscheint bei dtv sein Roman „Die Richtige“.