Niemand wird Friedrich Merz vorwerfen, er könne nicht scharf gegen den politischen Gegner austeilen oder sogar persönlich werden. Der CDU-Vorsitzende hat das oft genug bewiesen, gerade in Richtung des sozialdemokratischen Bundeskanzler Olaf Scholz und des grünen Wirtschaftsministers Robert Habeck. Daher fiel es besonders auf, als Merz am Sonntag in einer Rede zum Beginn des Wahljahres auf direkte, wahlkämpferische Angriffe auf die konkurrierenden Parteien verzichtete.
Vielmehr forderte er in seiner etwa halbstündigen Rede, die er auf Einladung der Konrad-Adenauer-Stiftung auf dem Petersberg nahe Bonn hielt, einen neuen Kurs in der Politik. Vor allem bezog er das auf die Wirtschaftspolitik. Dort müsse es einen „grundsätzlichen Politikwechsel“ geben. Zwar sprach er in diesem Zusammenhang von einer „parteipolitisch eingefärbten“ Bemerkung, nannte aber nicht die Namen der derzeit Verantwortlichen in der Bundesregierung.
Bezüge zu Adenauer
Merz sagte, Deutschlands Wohlstand hänge auch zukünftig vor allem an industrieller Wertschüpfung. Ein „Hinübergleiten“ in eine „reine Dienstleistungsgesellschaft“, lehnte er ab. „Wir werden uns etwas mehr anstrengen müssen“, sagte Merz, der auch Vorsitzender der Unionsfraktion im Bundestag ist. „Nicht Prämien und Subventionen“ seien die richtige Antwort, sondern Leistung und Anstrengung. Diese Forderung passte – unausgesprochen – zur Ankündigung der Unionsparteien, das seit zwei Jahren bestehende Bürgergeld in seiner jetzigen Form abzuschaffen. Konkret äußerte sich Merz dazu nicht.
Merz hielt seine Rede am 149. Geburtstag des ersten Kanzlers der Bundesrepublik, Konrad-Adenauer. Immer wieder bezog sich der Kanzlerkandidat für die bevorstehende Bundestagswahl auf Adenauers Erbe und rückte die Herausforderungen der heutigen Zeit in eine Dimension mit denjenigen der frühen Bundesrepublik. „Vermeintliche Gewissheiten“ änderten sich, sagte Merz, man befinde sich inmitten einer Phase des Umbruchs.
Die „regelgeleitete Ordnung“ sei spätestens mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine „aus den Angeln gehoben“ worden. Man werde Grundsatzentscheidungen treffen müssen. Das sei 1949 so gewesen und sei heute wieder so. Die Politik Adenauers könne dabei „Richtschnur und Kompass“ sein. Das gelte besonders für die Westbindung Deutschlands, die keine geographische, sondern eine normative Entscheidung gewesen sei. Es gelte für die Aussöhnung mit Frankreich und später Polen, sagte Merz und für den Beitritt der Bundesrepublik zur NATO.
Merz beklagt Vertrauensverlust in den Staat
Mit Blick auf die Rückkehr des Republikaners Donald Trump ins Weiße Haus in zwei Wochen sagte Merz, man könne heute „nur vermuten“, dass sich die transatlantischen Beziehungen noch viel grundsätzlicher als in Trumps erster Amtszeit verändern würden. Wenn Deutschland inmitten dieser „tektonischen“ Verschiebungen der politischen und wirtschaftlichen Macht auf der Welt noch ein Akteur sein wolle, könne das nur im europäischen Rahmen gelingen.
Der CDU-Vorsitzende sagte voraus, dass die Zusammenarbeit in der Europäischen Union in den nächsten Jahren stärker als bisher intergouvernemental ausgerichtet sein werde. Integrativ werde es vermutlich nur teilweise gehen. Ohne Zahlen zu nennen, forderte Merz starke Rüstungsanstrengungen von Deutschland. „Wir wollen uns verteidigen können, um uns nicht verteidigen zu müssen.“
Zielend auf die Anschläge des zurückliegenden Jahres in Mannheim, Solingen und Magdeburg, sagte Merz, es seien nach solchen Vorfällen nicht die erforderlichen Maßnahmen ergriffen worden. Das habe zu einem „beispiellosen Verlust in das Vertrauen in den Staat“ geführt. In der „Welt am Sonntag“ gab er ein Beispiel dafür, was ihm vorschwebt: Ausländische Straftäter müssten ausgewiesen werden. Um das auch bei Doppelstaatsbürgern tun zu können, brachte Merz Ausbürgerungen ins Spiel.
In seiner Rede zeigte sich der CDU-Kanzlerkandidat besorgt über den in Deutschland zu erlebenden Antisemitismus. Dieser sei aus der Bundesrepublik nie ganz verschwunden, „aber wir müssen feststellen, dass er in Teilen heute wieder gesellschaftsfähig geworden ist“. Er sei mittlerweile oft „getarnt“ als „Freiheitskampf“ oder „Israelkritik“. Die Aussöhnung mit Israel gehöre zu den grundlegenden Weichenstellungen, die Konrad Adenauer vorgenommen habe. Das sei ein Auftrag, der heute unter neuen Bedingungen erfüllt werden müsse.
Merz zeigte sich überzeugt, dass die Union besonders geeignet sei, die vorhandenen Herausforderungen zu bewältigen und auch im Ausland hohe Erwartungen an sie gerichtet würden. Abermals ohne konkrete Angriffe auf die zerbrochene Ampelkoalition sagte Merz, die künftige Regierung müsse anders arbeiten. Er wandte sich gegen „ständigen, öffentlichen Streit.“ Der Eindruck entstand, dass der Kanzlerkandidat Merz mit seiner Grundsatzrede, gehalten auf den Höhen des Petersbergs, ankündigen wollte, große Linien würden ihm als Regierungschef mehr bedeuten als parteipolitischer Streit. Das könnte als Wahlkampfversprechen gedacht gewesen sein.