Probleme bei in Frankreich ausgebildeter ukrainischer Brigade

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Am 80. Jahrestag des D-Day in der Normandie am 6. Juni gab der französische Präsident seinem Ehrengast Wolodymyr Selenskyj ein Versprechen. Frankreich werde eine kampfstarke ukrainische Brigade vollständig ausbilden und ausrüsten. Damit sollten die Lehren aus der gescheiterten ukrainischen Gegenoffensive 2023 gezogen werden, als unerfahrene, schlecht ausgebildete Truppen mit westlicher Ausrüstung aufgerieben wurden.

Doch einen knappen Monat nach Ausbildungsende in Frankreich macht sich in Paris Ernüchterung über die 155. Brigade breit. Die französische Armeeführung bestätigte „Schwierigkeiten“. Die französische Presse berichtete, die Brigade befinde sich mehr oder weniger in Auflösung. Bereits Ende November, als die Offiziere noch in Frankreich weilten, seien mehrere Bataillone der Brigade an der Front bei Pokrowsk verheizt worden.

Verteidigungsminister Sébastien Lecornu bestätigte den Eindruck in einem Interview mit dem Sender CNews am Mittwoch und sagte, das Ziel eines kohärenten Ansatzes einer einheitlich ausgerüsteten, bewaffneten und geschulten Brigade sei durch „taktische Bedürfnisse“ der ukrainischen Armeeführung untergraben worden. Die ukrainische Abgeordnete Marjana Besuhla hatte zuvor im französischen Fernsehsender LCI kritisiert, dass die Einheiten unkoordiniert an einen der schwierigsten Frontabschnitte im Donbass geschickt worden seien.

Hauptsächlich Rekruten ohne Kampferfahrung in Frankreich

Sie bezeichnete die 155. Brigade als „Zombie-Brigade“. „Selbst die französischen Bemühungen, die Brigade grundlegend auszubilden, konnten sie nicht vor den militärischen Fehlentscheidungen unserer Generäle retten, die sie auseinandergerissen haben“, beklagte Bezuhla, die dem Ausschuss für Verteidigung, Sicherheit und Geheimdienste angehört.

Eine Wehrpflichtigen-Armee wie die ukrainische habe zwangsläufig Schwächen, sagte Verteidigungsminister Lecornu. 55 zwangsverpflichtete ukrainische Soldaten seien bei der Ausbildung in Frankreich desertiert. In die Ausbildung nach Frankreich gelangten demnach hauptsächlich Rekruten ohne Kampferfahrung. In der Armeeführung in Paris wird nach der negativen Erfahrung bereits bezweifelt, dass die am 18. Dezember bei einem Treffen in Brüssel zwischen Macron und Selenskyj vereinbarte zweite Brigade in Frankreich ausgebildet werden kann.

Frankreich hatte hohen Aufwand betrieben, um die 2300 ukrainischen Männer inklusive 300 Mann aus dem Führungsstab auf dem auch der deutsch-französischen Brigade wohlbekannten Truppenübungsplatz in Mourmelon in der Marne zu schulen. Für die „Taskforce Champagne“ mobilisierte das französische Heer 1500 Mann, darunter 750 Ausbilder. Auf dem Truppenübungsplatz wurden nach ukrainischen Plänen mehr als ein Kilometer Schützengräben ausgehoben, um die Soldaten in möglichst realitätsnahen Kampfsituationen zu schulen. Dazu zählte auch die ständige Präsenz von Drohnen, „um den Stress und die Geräusche“ nachzustellen, wie es in der Armeeführung hieß.

Französisch-ukrainische Verbundenheit: Frankreichs Präsident Macron besucht Soldaten der 155. Brigade am 9.10.2024.
Französisch-ukrainische Verbundenheit: Frankreichs Präsident Macron besucht Soldaten der 155. Brigade am 9.10.2024.Picture Alliance

Frankreich stellte den Ukrainern 128 Fahrzeuge zum Truppentransport, 18 leichte Spähpanzer vom Typ AMX-10 sowie 18 Caesar-Haubitzen samt Lastwagen und die Abwehrsysteme Mis­tral und Milan zur Verfügung. Im Oktober kam Präsident Macron zum Truppenbesuch, um sich über die Fortschritte bei der Ausbildung zu informieren. Als Zeichen der französisch-ukrainischen Verbundenheit wurde die Brigade Anna von Kiew getauft. Die Prinzessin aus der Kiewer Rus war mit Heinrich I. verheiratet und auf diese Weise im 11. Jahrhundert Königin im Frankenreich.

Als Motto für die Einheit wurde der Spruch „Niemand kommt durch!“ gewählt. „On ne passe pas!“ geht auf Philippe Pétain zurück, der im Ersten Weltkrieg als Held von Verdun gefeiert wurde, im Zweiten Weltkrieg hingegen die Kollaboration mit den Nazis verkörperte. Die Anspielung auf den Stellungskrieg von Verdun, den Frankreich nach fast aussichtsloser Lage für sich entschied, solle den Ukrainern Hoffnung geben, hieß es.

Mittlere Führungsebene sei wenig motiviert

In Polen wurden weitere Einheiten der 155. Brigade unter norwegischem Kommando an Leopard-2-Panzern ausgebildet. Der Rest der Brigade, die 5800 Mann umfassen soll, wurde in der Ukraine zusammengestellt.

In der Ukraine haben die Vorgänge um die 155. Brigade für erheblichen Wirbel gesorgt. Am Mittwoch räumte der Chef der ukrainischen Landstreitkräfte, Mychailo Drapatyj, erhebliche „systemische Mängel“ im Zusammenhang mit dem ukrainisch-französischen Projekt ein, darunter eine hohe Zahl an Deserteuren sowie eine nachlässige Organisation. Innerhalb der Einheit habe es „Fehler bei der Rekrutierung“, „unvollkommene Ausbildungsplanung“ und „unzureichendes Management“ gegeben, schrieb Drapatyj auf Telegram. Die größte Herausforderung sei jedoch „die geringe Effizienz und Motivation der Kommandeure der mittleren Ebene, die Menschen direkt führen“.

Ursprünglich 14 gemeinsame Brigaden mit NATO-Verbündeten geplant

Zuvor hatte der ukrainische Journalist Jurij Butusow, Chefredakteur des ukrainischen Internetportals Censor.net, gravierende Versäumnisse bei dem durch den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj vorangetriebenen Prestigeprojekt offengelegt und schwere Vorwürfe gegen Regierung und Armeeführung erhoben. Seine Recherchen zeichnen das Bild einer überforderten, hektisch agierenden Führung, die sich einerseits große Ziele setzt, deren Verwaltungsapparat aber noch mit anderthalb Beinen in sowjetischen Strukturen steckt, deren Kennzeichen es war, möglichst keine Verantwortung zu übernehmen, nach oben zu gehorchen und heikle Dinge lieber wegzuschieben.

So habe der ursprüngliche Plan Selenskyjs vorgesehen, gemeinsam mit den NATO-Verbündeten 14 neue Brigaden aufzustellen, wobei die Ukraine die Soldaten und ihre Verbündeten die Waffen liefern sollten. Schätzungen des ukrainischen Verteidigungsministeriums zufolge beliefen sich die Kosten je Brigade auf rund 900 Millionen Euro, wobei 80 Prozent davon auf Militärgerät entfallen.

Allein die Aufstellung der 155. Brigade sei jedoch „vom ersten Tag an ein völliges organisatorisches Chaos in buchstäblich allen Komponenten“ gewesen, schreibt Butusow. So seien seit Beginn des Aufstellens der Brigade ab März 2024 immer wieder Soldaten zur Verstärkung anderer Einheiten abgezogen worden, sodass gerade aufgebaute Strukturen permanent zerstört wurden. In den darauffolgenden Monaten entfernten sich fast tausend Mann unerlaubt von der Truppe.

Fehlerhafte Granaten und fehlendes Material

Von den 1924 einfachen Soldaten, die im Oktober schließlich nach Frankreich geschickt wurden, hatten dem Bericht zufolge lediglich 51 mehr als ein Jahr und weitere 459 bis zu ein Jahr Militärerfahrung. Die Mehrheit, 1414 Männer, war frisch eingezogen, davon 150 ohne Grundausbildung. Unter ihnen sei auch die höchste Zahl an Deserteuren gewesen. Während die Brigade samt Führung in Frankreich weilte, seien in der Ukraine weitere mehrere Tausend Männer für die Brigade rekrutiert wurden, die dann jedoch ohne Kommandeure dagestanden hätten. In dieser Zeit seien mehr als 700 Soldaten desertiert, woraufhin es abermals zu Umbesetzungen in der Brigadeführung gekommen sei.

Darüber hinaus habe die Brigade, die ab Mitte November im Kampf an einem der heißesten Frontabschnitte nahe der Stadt Pokrowsk eingesetzt wurde, zunächst keinerlei Drohnen oder Mittel zur elektronischen Kriegsführung zu Verfügung gehabt. Auch die Soldaten hätten wegen ausstehender Gehälter keine Ausrüstung kaufen können. Dass Soldaten sich selbst sowie mit Hilfe von Freiwilligen mit Munition und vergleichsweise preiswerten Drohnen versorgen, gehört in diesem Krieg, in dem von Drohnen nahezu alles abhängt, zum Alltag an der Front.

Diese haben Butusow zufolge jedoch in den ersten zehn Tagen des Kampfeinsatzes gefehlt, weshalb auch nagelneue Kampfpanzer vom Typ Leopard 2A4 sowie anderes Kriegsgerät von russischen Drohnen beschädigt worden seien. Und schließlich seien auch die aus ukrainischer Produktion gelieferten Mörsergranaten überwiegend fehlerhaft gewesen. An einem Tag im Dezember sei von zehn dieser Granaten keine einzige explodiert. Das alles habe dazu geführt, dass die 155. Brigade im Einsatz „vom ersten Tag an erhebliche Verluste“ zu beklagen hatte.

Geschönte Berichte ans Verteidigungsministerium

Butusow zufolge seien die Soldaten der Brigade an der Front verheizt worden, statt mit ihnen erfahrene, kampferprobte Brigaden zu stärken, die über gefestigte Strukturen verfügen und Personal schnell ausbilden könnten. Das alles sei geschehen, um ein „Prestigeprojekt“ an den Start zu bringen, dem sich trotz besseren Wissens niemand im Verwaltungs- und Armeeapparat in den Weg gestellt habe, im Gegenteil: Mit geschönten Berichten an Verteidigungsministerium und Oberbefehlshaber sei die Realität grob verfälscht worden.

Im Dezember leitete das Staatliche Ermittlungsbüro der Ukraine eine strafrechtliche Untersuchung in dem Fall ein, um die Verantwortlichen für Chaos und Missmanagement zu finden. Unterdessen spitzt sich die Lage um die für die Ukraine aufgrund ihrer Lage und Infrastruktur strategisch wichtige Stadt Pokrowsk weiter zu. Russische Truppen rücken dort langsam, aber stetig vor.

Landstreitkräfte-Chef Drapatyj hatte bereits Anfang der Woche erklärt, aus der „negativen Erfahrung“ Lehren zu ziehen. „Das wird alles sehr genau analysiert“, sagte er auf einer Pressekonferenz in Kiew. Die Armee werde Konsequenzen ziehen, um künftig ähnliche Probleme zu vermeiden. Am Mittwoch wurde er konkreter. So würden jetzt „erfahrene Offiziere und Kommandeure auf allen Ebenen“ für die Brigade rekrutiert, zudem gebe es eine Hotline für Soldaten, um neben den offiziellen Tagesberichten auch direkt zu erfahren, wie sich Entscheidungen der Militärführung auswirkten.

Darüber hinaus würden der Brigade Psychologen gestellt, um den Zusammenhalt bei der Verteidigung von Stellungen bei Pokrowsk zu stärken. Kiew mache Paris in der Angelegenheit keine Vorwürfe, betonte Drapatyj. „Die französische Seite hat ihre Verpflichtungen gegenüber der Ukraine vollständig erfüllt.“