Wirecard-Skandal: Jan Marsaleks Spionagering

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Im Prozess gegen fünf bulgarische mutmaßliche Spione, die auf Russlandkritiker angesetzt waren, kommen immer mehr Details ans Licht, die auch die Agententätigkeit des früheren Wirecard-Vorstands Jan Marsalek betreffen. Er soll – unter dem Decknamen Rupert Ticz – den Spionagering in Großbritannien nach seinem Un­tertauchen im Juni 2020 angeleitet haben. Zwei der fünf Angeklagten haben dies vor dem Londoner Strafgericht Old Bailey schon gestanden. Im Fokus der Agentenaktivitäten standen in den Jahren 2021 und 2022 zwei bekannte Inves­tigativjournalisten, Christo Grozew und Roman Dobrokhotow, sowie der kasachische Dis­sident Bergey Ryskaliyew. Er hat die russischsprachige Internetseite The Insider gegründet. Nach seiner Flucht nach Groß­britannien wurde ihm dort politisches Asyl gewährt.

Auf Grozew setzte der Spionagering un­ter anderem eine attraktive junge Dame namens Vanya Gaberova an, die in London den Schönheitssalon Pretty Woman Ltd. betrieb. Die 30-Jährige sollte als „Honigfalle“ dienen, Grozew in eine Affäre verwickeln und kompromittierende Videos für eine Pornoplattform herstellen. Marsalek besprach die Operation mit dem lokalen Agentenführer Orlin Roussew. Dabei äußerte Marsalek Zweifel, ob Gaberova verlässlich sei; er habe „schon einmal mit einer Honigfalle Pro­bleme“ gehabt. Roussew beruhigte ihn.

Die Agentin sei verlässlich, „eine echt sexy Bitch“, so die Protokolle der Telegram-Chats, die am zweiten Prozesstag am Old Bailey vorgelegt wurden. Eine andere mutmaßliche Spionin, Katrin Ivanova, beschattete Grozew auf Flügen. Sie trug dabei eine Brille mit integrierter Kamera. Ivanova gelang es, Grozews Sicherheits-PIN für das Handy herauszufinden. Laut Anklage hat die Gruppe zudem Hotelmitarbeiter bestochen und Taschendiebe angeheuert, um an die drei Zielpersonen he­ranzukommen.

Ermittler vermuten, dass Marsalek sich nach Russland abgesetzt hat

Der Investigativjournalist Christo Grozew, der für die Plattform Bellingcat und The Insider arbeitet, ist Moskau seit Jahren ein Dorn im Auge. Er hat mitgeholfen, die in den Abschuss des MH17-Flugs involvierten russischen Offiziere zu identifizieren, und führend zum Giftanschlag auf Sergei Skripal in Salisbury und den Giftanschlag auf Alexej Nawalnyj recherchiert. Grozew half auch, den Berliner Tiergarten-Mörder zu identifizieren, der jüngst im Rahmen eines Gefangenentausches wieder freikam. Roman Dobrokhotow ist Chefredakteur von The Insider und schon lange als kremlkritischer Oppositioneller aktiv.

Die Londoner Antiterror-Staatsanwaltschaft beschuldigt die fünf Bulgaren nicht nur der Spionage, einige der Agenten sollen sogar tödliche Anschläge be­absichtigt haben. Laut Chatprotokollen diskutierten Marsalek und sein Kontaktmann Roussew im Jahr 2021, ob sie den Journalisten Grozew oder auch Dobro­khotow kidnappen und entführen könnten. Marsalek schrieb demnach, „eine erfolgreiche Operation auf britischem Boden wäre irre nach dem abgefuckten Skripal-Ding“ – eine Anspielung auf die fehlgeschlagene Tötung Skripals. Marsalek und Roussew tauschten insgesamt 80.000 Telegram-Nachrichten aus. Roussew und ein Mittäter haben die Agententätigkeit gestanden und Marsalek mitbeschuldigt. Die drei anderen, unter ihnen Gaberova, streiten die Vorwürfe bislang ab.

Durch den Londoner Prozess gewinnt die Tätigkeit des mutmaßlichen Wirecard-Milliardenbetrügers Marsalek noch eine ganz andere, politische Dimension. Die Milliardenpleite des einstigen Dax-Konzerns wird seit zwei Jahren vor dem Landgericht München verhandelt. In dem Betrugsprozess ist von Marsalek an fast jedem Verhandlungstag die Rede. Der mutmaßliche Haupttäter ist ge­wissermaßen der Elefant im Raum, genauer: im halb unterirdischen Gerichtssaal in der Justizvollzugsanstalt Stadelheim. Die Strafverfolger sehen in ihm das Mastermind im Betrugssystem von Wirecard.

Nachdem im Frühsommer 2020 aufflog, dass die vorgeblichen 1,9 Milliarden Euro auf Wirecards Treuhandkonten in Manila nicht auffindbar waren, ist Mar­salek auf der Flucht. Seit Juni 2020 ist er untergetaucht. Er war der engste Vertraute des damaligen Wirecard-Chefs Markus Braun und bei dem kollabierten Zahlungsabwickler für das ominöse Drittpartnergeschäft verantwortlich. Vor gut einem Jahr ließ der 44 Jahre alte Österreicher im Prozess mit einer Botschaft aufhorchen, übermittelt durch seinen Anwalt Frank Eckstein. In dem acht Seiten langen Schreiben behauptete Marsalek, dass es die fraglichen Milliardenumsätze in Asien wirklich gegeben habe. Belege dafür lieferte er nicht. Seitdem hat man von ihm nichts mehr gehört.

Ermittler vermuten, dass Marsalek sich nach Russland abgesetzt hat. Laut Anklagevertreterin Alison Morgan müsse er „als ein echter russischer Agent“ betrachtet werden. Die Ermittler haben vor dem Old Bailey aufgezeigt, mit welchem Arsenal an Spionagewerkzeugen die fünf bulgarischen „Verschwörer“ unterwegs waren: In den dreieinhalb Jahren ihrer Tätigkeit nutzte die Gruppe 221 Mobiltelefone, 258 Festplatten, 495 SIM-Karten, 33 Audio-Aufnahmegeräte, 55 vi­suelle Aufnahmegeräte, 11 Drohnen, 16 Funkgeräte und drei IMSI-Catcher, mit denen Handy-Standorte lokalisiert werden können. Die Beweise zeigten „Spionage auf hohem Niveau mit einem hohen Maß an Täuschung“, so Morgan.