Warum junge Frauen progressiver sind und ein Teil der jungen Männer verunsichert

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Frau Quenzel, junge Frauen kommen mit den Veränderungen der Gesellschaft gerade besser klar als junge Männer. Das hat die Shell-Jugendstudie gezeigt, an der Sie mitgeschrieben haben. Warum ist das so?

Junge Frauen haben viel in ihre Bildung investiert, deshalb nehmen sie die He­rausforderungen in Schule und Ausbildung im Schnitt leichter und lockerer. Auch was die Vereinbarkeit von Job und Familie betrifft, oder die Folgen einer pluralistischen Gesellschaft, sind sie entspannter. Das hat mit der Eman­zipa­tionsbewegung der letzten 30 Jahre zu tun. Von der profitieren viele junge Frauen.

Gudrun Quenzel ist Mitautorin der Shell-Jugendstudie und Bildungssoziologin an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg.
Gudrun Quenzel ist Mitautorin der Shell-Jugendstudie und Bildungssoziologin an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg.Shell Jugendstudie
Aber die Welt ist doch auch für junge Frauen nicht rosig. Der Gender Pay Gap ist immer noch groß, die 40 großen Dax-Unternehmen werden vor allem von Männern geführt, und Frauen leisten jährlich 72 Milliarden Stunden unbezahlte Care-Arbeit.

Ja, das stimmt, aber es gibt auch die andere Seite. Frauen sind zuletzt zu­nehmend in Führungspositionen gegangen, sie streben gut bezahlte Berufe an. Der Gender Pay Gap wird kleiner. Es gibt immer mehr Politikerinnen, die etwas zu sagen haben – Angela Merkel als langjährige Bundeskanzlerin, Annalena Baerbock oder Nancy Faeser als Minis­terinnen in der aktuellen Regierung. Da tut sich relativ viel, aber das hat eben auch Folgen für junge Männer.

Mehr Gleichberechtigung als Nullsummenspiel – wo die jungen Frauen gewinnen, verlieren die jungen Männer?

In dem Moment, wo mehr Gruppen in der Gesellschaft Macht, Prestige und Anerkennung haben wollen, geht das zulasten derer, die zuvor sehr privilegiert waren. Es gibt ja nicht unendlich viele tolle Positionen, das gilt für die Wirtschaft genauso wie für die Politik.

Aber es gibt inzwischen andere Hierarchien und Arbeitsformen.

Aber auch das hat Folgen. Man kann das in der Familie beobachten. Früher hat der Vater gesagt: Das geht, das geht nicht. Heute reden alle mit, die Kinder, die Frau. Beim Urlaubsziel, bei der Frage, ob ein Haustier angeschafft wird. Familie ist demokratischer geworden, man muss Kompromisse finden. Das finden viele gut – junge Frauen, auch junge Männer. Aber eben nicht alle jungen Männer. Und das ist nachvollziehbar. Sie geben Privilegien ab, die ihre Väter noch hatten.

Sind es auch diese jungen Männer, die zuletzt stärker nach rechts gerutscht sind?

Über den vermeintlichen Rechtsrutsch der jungen Männer wurde nach der Veröffentlichung unserer Studie viel geredet. Zum besseren Verständnis: Wenn man sich beide Geschlechter im Zeitverlauf anschaut, sieht man, dass Frauen immer progressiver geworden sind. Sie sind derzeit auch die Progressiveren und idealistischer eingestellt, während bei jungen Männern materialistische Werte wieder an Bedeutung gewinnen. Gleichzeitig ist bei den jungen Männern ein großer Teil weiter nach links gerutscht. Aber der Teil, der ohnehin schon eher rechts orientiert war, ist weiter nach rechts gerückt. Diese jungen Männer sind ziemlich modernisierungsfeindlich, sehr traditionell ausgerichtet und relativ verunsichert von den herausfordernden Zeiten, die sie gerade erleben.

Woher rührt diese Verunsicherung?

Sie hat nicht so sehr mit echter Be­nachteiligung zu tun als mit dem Gefühl, benachteiligt zu werden beziehungs­weise etwas zu verlieren zu haben. Das sind Jugendliche, die das Gefühl haben, dass die Veränderungen in der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt – KI, Automatisierung, Globalisierung – ihnen die Kontrolle über ihr Leben nehmen.

Ist das nicht paradox? Überall werden doch Arbeitskräfte gesucht.

Während die meisten Jugendlichen an eine bessere Zukunft glauben, hat diese Gruppe den Glauben daran verloren. Sie sehen, dass die Jobs anspruchsvoller werden, dass mehr verlangt wird. Dass es – salopp gesagt – nicht mehr okay ist, einfach in Ruhe vor sich hinzuarbeiten. Dass man als Handwerker durch den Trend zum Studium inzwischen eher in die untere Mittelschicht geschoben wird. Dass gut bezahlte Facharbeiterjobs wie bei VW am Band wegfallen.

Könnte man dieser Verunsicherung nicht mit einer besseren Ausbildung begegnen?

Ein Stück weit ist das sicher möglich. Aber unsere Gesellschaft muss lang­fristig auch Antworten auf die Frage finden, wie sie mit denen umgeht, die auf dem modernen Arbeitsmarkt nicht so gute Chancen haben. Bisher sehe ich nicht, dass das breit diskutiert würde.

Politiker wie Maximilian Krah von der AfD scheinen die schwierige Lage junger Männer schon länger erkannt zu haben – und adressieren sie gezielt mit ihren Tiktok-Botschaften.

Manchmal schaue ich mit meinen Studierenden rechtspopulistische Wahlwerbung an. Dabei habe ich das Gefühl, dass deren Macher die Ergebnisse unserer Studie schon vorhergesehen haben. Das, was wir an Ängsten, Unsicherheiten oder Identitätsfragen herausarbeiten, wird in diesen Spots schon aufgegriffen und sozialpädagogisch geschickt gedreht.

Was meinen Sie mit „geschickt“?

Nehmen wir mal die Frage nach dem Haushalt und wer dafür zuständig sein sollte. Da wäre die Botschaft eines Spots ungefähr so: „Wer macht dann schon gerne den Abwasch? Klar, ich auch nicht.“ Die Zuschauer sollen das Gefühl bekommen: Es ist vollkommen in Ordnung, wenn du denkst, dass Hausarbeit Frauensache ist. Du bist okay so, wie du bist.

Spätestens die Landtagswahlen in Ostdeutschland haben die Frage aufge­worfen, wie ansprechbar junge Menschen für die Botschaften der AfD sind.

Unsere Studie zeigt, dass wir eine kleine Gruppe haben, in unserer Typologie „die Progressiven“, die für rechte Wahlwerbung nicht anfällig ist. Bei allen anderen Gruppen gibt es einzelne Themen, bei denen sie ansprechbar sind für Rechtspopulismus. Zu den ostdeutschen Jugendlichen kann man grundsätzlich sagen, dass sie zwar dieselben Ängste habe wie die westdeutschen Jugend­lichen – vor Krieg, vor wirtschaftlicher Unsicherheit –, aber dass diese Ängste stärker sind. Genau wie die Unzufriedenheit mit der Demokratie. Bei den jungen Männern in Ostdeutschland ist das noch mal stärker ausgeprägt als bei den Frauen, vor allem dann, wenn sie nicht so hohe Bildungsabschlüsse haben. Ich vermute, dass da auch viele Abstiegsängste der Eltern und Großeltern an junge Menschen weitergegeben werden, aber das haben wir nicht untersucht.

Sie haben über echte und gefühlte Benachteiligung gesprochen. Welche Jugendlichen haben es strukturell am schwersten?

Lange war das Sinnbild der Benach­teiligung das katholische Mädchen vom Land – weil es katholisch war, hatte es weniger Zugang zu Bildung, weil es ein Mädchen war, verstärkte sich das noch mal, und auf dem Land gab es sowieso weniger Möglichkeiten. Heute trifft diese Mehrfachbenachteiligung Jungen mit Migrationshintergrund, die in der Großstadt aufwachsen. Sie erfahren im System die meisten Benachteiligungen. Gleichzeitig ist der Zukunftsoptimismus gerade bei eher frisch zugezogenen Mi­granten sehr hoch. Sie wissen, dass sie es schwerer haben, dass sie den Aufstieg vielleicht nicht schaffen werden, aber erst einmal sehen sie die vielen Möglichkeiten, die sie in Deutschland haben.