Ruhe bitte! Etwas Andacht halten, Stille einkehren lassen. Denn hier geht ein Mann zwar nicht übers Wasser, aber seine Gemeinde möchte etwas erwarten, was fast genauso gut ist: „Den Bach rauf“ soll es gehen. Robert Habeck will das schaffen. Und zwar erstmal mit einer Schrift, die er „eine Kursbestimmung“ nennt. Viele wollten dem folgen, zumindest mal anhören, wie der Wirtschaftsminister sich das vorstellt, der jetzt Kanzlerkandidat der Grünen ist.
Die Gemeinde hat sich auf mehr als 650 Plätzen im Delphi-Kino versammelt, einem Illusionspalast des alten, manche sagen guten alten West-Berlin. Bevor die Filmfestspiele an den seelenlosen Potsdamer Platz zogen, war das Delphi neben dem Zoo-Palast das Festival-Kino. Habecks Auftritt ist ausverkauft, 18 Euro haben die Interessenten gezahlt, plus langem Anstehen an einem kalten Berliner Winterabend. Journalisten, die reinwollen, dürfen keinen Laptop mitbringen. Das Klappern der Tastaturen könnte die Versammlung stören. Also, Ruhe bitte!
Kaum ist Habeck im Saal, 20 Minuten verspätet, entschuldigt er sich auch schon. Das fängt gut an, freundlicher Beifall des Publikums. Die Personenschützerin am linken Bühnenrand lächelt sogar ein wenig, als Habeck von ihr und den anderen Polizisten erzählt, die „sowas wie Familie geworden seien“. Andere müssten mehr Angst haben als er, etwa wenn sie in Sachsen Plakaten klebten, er wolle nicht „rumheulen“. Der Moderator Micky Beisenherz will gleich wissen, warum Habeck jetzt gerade lächelt, als von der Schaumtorte die Rede ist, die kürzlich Christian Lindner um die Ohren flog. Habeck antwortet ernst, es hätte „auch ein Stein sein können, ein Hammer oder ein Schraubenzieher“.
Habeck appelliert an das Miteinandersprechen
Im Berliner Delphi präsentiert der frühere oder Immer-noch-Schriftsteller Habeck nun sein jüngstes Buch, sein Orakel für das Land. Deutschland soll nicht den Bach runter gehen und er hat Ideen, wie das laufen kann. „Dieses Buch läuft auf eine Hoffnung hinaus“, schreibt er gleich am Anfang. Habeck glaubt, dass höflicher, normaler Umgang sich lohnt, dass man miteinander sprechen kann – und mit ihm. Am Küchentisch oder auch am Telefon. Auch das erfährt man in seinem Buch, ebenso einige weitere Indiskretionen über Habeck selbst.
So berichtet er, dass er noch in härtesten Zeiten der vergangenen drei Jahre sich hinsetzte und einfach Leute anrief, die ihm geschrieben hatten, meist im Zorn übers Heizungsgesetz oder in Sorge um ihre Zukunft. „Ich lasse mir hin und wieder ein paar Zeitfenster in meinen Kalender einbauen, um ein paar Absender anzurufen. Meist am frühen Abend setze ich mich ans Telefon und schaffe es vielleicht, mit vier, fünf Leuten zu sprechen, die mir geschrieben haben. Ich versuche, mich an die zu wenden, die nicht zufrieden mit mir sind. Die zornig oder verunsichert oder bedrückt sind.“
Habeck schreibt, er versuche einerseits zu erklären, andererseits zu lernen. Vor allem aber: Miteinander zu sprechen. Meistens gelinge das. Man werde nur Antworten finden, für das, was auch im Wahlkampf in Frage stehe, „wenn wir uns selbst infrage stellen“. An anderer Stelle heißt es im Buch: „Mehr Gelassenheit dabei wäre schön. Dass wir uns gegenseitig als Menschen nehmen, wie wir sind.“ Ihm selbst ist das schon ganz anders widerfahren, Stichwort Heizungsgesetz. Monatelang auf der Seite 1 der Bild-Zeitung angegriffen zu werden, das schaffe auch nicht jeder, sagt Habeck selbstironisch. „Drosten“, wendet Beisenherz ein und meint den Virologen. Habeck sagt, das Heizungsgesetz sei „die heiße Herdplatte meiner Legislaturperiode gewesen“. Er habe viel daraus gelernt.
Die Kapitel-Überschriften passen auch zu Yoga-Büchern
Manche bezweifeln das gerade, seit Habeck im Wahlkampf einen recht ungefähren Plan für Sozialabgaben auf Aktiengewinne angedeutet hat. Doch zur Bilanz gehört auch, fast schon vergessen, wie Habeck nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine weltweit Energie für Deutschland eingekauft hatte. Einen tiefen Blick in den Abgrund habe man da gehabt. Der Wechsel auf andere Heizungen, weg von Gas und Öl, hin zu Wärmepumpen, sei da der logische nächste Schritt gewesen. Für viele Bürger war es nach teurem Winter und Inflation einer zu viel.
Passagen wie diese fülle viele Seiten, neben barrierefreien Erläuterungen des grünen Wahlprogramms unter Kapitel-Überschriften wie: „Das Erfolgsmodell Deutschland neu ausrichten“, oder Titelzeilen, die auch zu Yoga-Büchern passen würden, wie „Lass dich nicht verhärten“ und „Die Dinge einfacher machen“. Auf vielen Seiten und auch im Delphi spricht Habeck über politische Kommunikation und wie sie allmählich vor die Hunde geht. Die Sprache der Populisten sieht er als Waffe im Kampf gegen die Demokratie und er warnt, wie jeden Tag, davor, dass Demokraten sie nutzen, um einander zu bekämpfen. Das liest sich – und Habeck nennt bei jeder Gelegenheit den Namen – wie eine permanente Ermahnung an den Vorsitzenden einer Regionalpartei, mit der Habeck es aushalten will, um das Land besser zu machen, die aber in Grünen den Hauptgegner sieht und in Habeck fast einen Feind.
Habeck sorgt sich, dass Deutschland „seine Balance verliert“
Wenn das so weitergehe, nütze es nur der AfD. Und dann komme es, wie in Österreich, wo der Präsident den Rechtspopulisten mit der Regierungsbildung beauftragen muss, weil die Demokraten keine Kompromisse mehr miteinander finden. Eine Warnung soll das sein. „Ich schreibe diese Seiten, weil mich die tiefe Sorge umtreibt, dass Deutschland seine Mitte oder – vielleicht besser – seine Balance verliert.“
Kompromisse müssten (lieber Herr Söder) möglich bleiben. Sein Buch, sagt Habeck, beschreibe den „Zustand der Gesellschaft und meine Rolle darin“. Und nach einer Stunde Plauderei mit Beisenherz liest er auch ein Stück daraus vor. Wer sich später anstelle und – „bitte aus Sicherheitsgründen einzeln“, sagte die Verlegerin – zu Habeck auf die Bühne steige, könne auch ein soeben gekauftes Exemplar signieren lassen. Es wird ein langer Abend für Habeck.
Der Grünen-Politiker schreibt über Deutschland, so wie er es aus dem Wirtschaftsministerium und unterwegs auf Reisen gesehen hat. Er nennt es „Heimat“ und sagt: „Ich nenne Heimat das Land, dessen Probleme mich direkt angehen. Das mich fordert. (…) Das Land zu dem ich stehe. Um dessen Gegenwart und Zukunft ich kämpfe. Das nenne ich Heimat.“ Geschrieben hat er das Ganze überwiegend im Sommer 2024, die letzten Passagen im November.
Den meisten Beifall bekommt er am Abend für sein Augenmerk auf die Sichtweise junger Leute, die anders als die Generation Habeck oder die (meist) Älteren im Saal immer nur besser werdende Zeiten gekannt haben. Seit 9/11 immer wieder schlechte und immer schlechtere Nachrichten, von Krisen, Kriegen, vom Klima, der Pandemie. Das habe Lebensperspektiven bestimmt. Sein Wunsch: „Ein politischer Raum, der Zuversicht schafft. Vertrauen zurückgewinnen.“
Sein Ratschlag für sich und andere: „Lass Dich nicht verhärten“, Copyright bei Wolf Biermann. Der Abend endet freundlich, niemand hat eine Torte geworfen. War es Wahlkampf, war es heilsam? Abwarten. Den Bach rauf soll es gehen mit dem Land. Dass Habeck es damit in den kommenden fünf Wochen ins Kanzleramt schafft, wäre nach Lage der Umfragen ebenso ein Wunder.