Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat die Lage an der Front im Osten seines Landes als schwierig bezeichnet. „Dass wir im Moment schwächer sind, trifft zu“, sagte er am Mittwoch bei seinem Besuch in Warschau in einem Gespräch mit polnischen Medien. „Es gibt Städte und Dörfer, die in Feindeshand fallen, und das ist in letzter Zeit am häufigsten im Osten unseres Landes passiert, weil die russische Armee dort massiv auftritt.“ Zugleich erleide Russland „enorme Verluste“ an Soldaten, die ukrainische Armee hingegen setze mehr auf Technik und Technologie. „Wir behandeln Menschen nicht wie Kanonenfutter.“
Allerdings fehle der Ukraine Ausrüstung. „Manches kommt, manches kommt nicht, manches nur mit Verspätung“, sagte der Präsident. Er wolle niemanden beschuldigen, doch verteidige sich die Ukraine mit erheblich weniger Mitteln, als sie Russland zur Verfügung habe. Ein Drittel der ukrainischen Waffen seien heute aus heimischer Produktion, knapp 30 Prozent kämen aus Europa, rund 40 Prozent aus den USA. Er sei dankbar für jede Hilfe, sagte Selenskyj. Erst am Montag hatten die Verteidigungsminister Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens, Italiens und Polens beschlossen, die wegen Geldmangels brachliegenden Teile der ukrainischen Rüstungsindustrie zu stärken.
Die Ukraine kenne ihre Ziele
Zugleich verwies Selenskyj darauf, wie wichtig die Erlaubnis Großbritanniens und der USA gewesen sei, Raketen und Marschflugkörper gegen militärische Ziele in Russland einzusetzen. „Das hast uns sehr geholfen. Sehr!“ Die Ukraine kenne die russischen Kommandozentralen, Munitions- und Waffenlager sowie die Fabriken und habe mit den Waffen mit größerer Reichweite viele davon zerstören können. Nur darum gehe es. „Es ist kein Zufall, dass die Russen bei Kursk so große Verluste erleiden.“ Selenskyj zufolge hat Russland allein im Gebiet Kursk, das die ukrainische Armee im August teilweise besetzte, bis Tausende Soldaten verloren. „Stellen Sie sich vor, das Leben von 35.000 Ihrer Bürger zu opfern, nur um vergeblich zu versuchen, uns zu beeinflussen.“
Gefragt nach Verhandlungen mit Russland sagte Selenskyj, dass man einen Krieg nicht ohne Diplomatie beenden könne, sein Land zurzeit aber keine Gespräche mit Moskau führe, „auch nicht im Verborgenen“. Er sehe mit Sorge, wie manche EU-Länder versuchen, „hinter dem Rücken der Ukraine“ Vereinbarungen mit Russland zu Lasten der Ukraine zu treffen. Erst Anfang dieser Woche hatte sich Selenskyj deshalb öffentlich einen Schlagabtausch mit dem slowakischen Ministerpräsidenten Robert Fico geliefert, der sich ebenso wie Ungarns Regierungschef Victor Orbán in Moskau mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin getroffen hatte, freilich ohne Ergebnisse.
Die Ukraine sei bereit, über einen Waffenstillstand zu sprechen, sagte Selenskyj. Voraussetzung dafür seien jedoch Sicherheitsgarantien für sein Land. Diese seien auch für Europa von großer Bedeutung, denn ohne wirksame Garantien werde sich Russland auf eine weitere Aggression vorbereiten und dann womöglich an der polnischen Grenze stehen. „Deshalb ist es sehr wichtig, welche Garantien es für die Ukraine geben wird, wo die NATO sein wird und welche Waffen und finanzielle Unterstützung es für uns geben wird.“
Europa könne ohne Kiew nicht gegen Russland bestehen
Angesichts der leidvollen Erfahrungen der Ukraine mit früheren Sicherheitsabkommen, etwa das Budapester Memorandum oder die Minsker Verträge, ist Selenskyj überzeugt, dass nur eine NATO-Mitgliedschaft sein Land vor einem weiteren Überfall Russlands bewahren könne. In Warschau sagte er auch, dass die Ukraine mit fast einer Million Soldaten einen wichtigen Beitrag für den Schutz Europas innerhalb der NATO leisten könne. „Ohne die ukrainische Armee hat Europa heute leider keine Chance mehr gegen Russland.“ Und das wisse Putin.
Gefragt nach einem Ende des Krieges binnen Jahresfrist, sagte Selenskyj, dass der künftige amerikanische Präsident Donald Trump in der Lage sei, auf Russland einzuwirken. „Ich denke, Trump kann es schaffen.“ Aber nur mit „echten“ Sicherheitsgarantien. „Ich bin sicher, dass Russland Angst hat vor den Vereinigten Staaten, Angst vor China und Angst vor einem vereinten Europa.“ Um aber Russland zum Einlenken zu bewegen, müsse auch Europa Stärke zeigen. Die EU müsse pragmatischer agieren, ihre Rüstungsproduktion verdreifachen und damit Putin die Stirn bieten.
„Ich glaube, der Westen versteht eine einfache Sache nicht“, sagte Selenskyj. Anders als etwa Polen, Balten und Rumänen, die schmerzliche Erfahrungen mit Russland gemacht hätten und Putin deshalb realistisch einschätzten, mache sich der Westen weiter Illusionen. „Wenn man sicher weiß, dass die Russen noch weiter gehen werden, dann weiß man auch, dass man dringend gegensteuern muss.“ Russland habe tausende Raketen auf Europa gerichtet, und es werde sie einsetzen, um seine Ziele zu erreichen.