Wenn die KI die Entscheidungen trifft

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Raphael Maier weiß sehr gut, welche Tücken die Lieferkette für Unternehmen bereithalten kann. Der Manager arbeitet sein gesamtes Berufsleben in der Logistikbranche und verantwortet inzwischen die Lieferkette der Otto Gruppe – keine triviale Aufgabe. „Die Abstände zwischen Großereignissen, welche die globalen Lieferketten beeinträchtigen, sind immer kürzer geworden“, sagt Maier. „Und unsere Endkunden erwarten, dass wir immer alles sofort verfügbar haben.“ Da sich Ereignisse wie die Blockade des Suezkanals im Jahr 2021 nur schwer vorhersehen ließen, gehe es für ihn und sein Team vor allem darum, sich schnell an die neuen Gegebenheiten anzupassen. „Menschliche Erfahrung reicht dafür nicht aus“, sagt Maier.

Deshalb werden immer öfter Maschinen in die Entscheidungen in der Logistik der Otto Group mit einbezogen: Wie viele Verkäufe von welchen Produkten sie bei Otto erwarten, berechnen längst keine Menschen mehr auf Basis von Erfahrungswerten, sondern mit riesigen Datenmengen gefütterte Modelle. Sie schlagen auch vor, wie viel der Handelskonzern nachbestellen sollte. Und sie sehen voraus, wann gewisse Artikel in manchen Lagerstätten knapp werden, und regen dann eine Umlagerung des Artikels aus Lagern an, in denen noch genügend Exemplare vorhanden sind. Das Tochterunternehmen Lascana, ein Unterwäschehändler, habe dank der neuen Technik die Qualität seiner Absatzprognosen um 78 Prozent erhöht, schwärmt Maier. „Dadurch ist die Verfügbarkeit der Waren viel besser geworden.“

„Decision Intelligence“ – zu Deutsch „Entscheidungsintelligenz“ – heißt dieser Ansatz, der sich in den vergangenen Jahren zu einem der beliebtesten Schlagwörter in der Tech-Branche gemausert hat. Er kombiniert digitale Technologien wie Datenanalyse, Maschinelles Lernen und Künstliche Intelligenz (KI), um Entscheidungsprozesse in Unternehmen zu verbessern, zu beschleunigen oder ganz zu automatisieren. Im Kern geht es darum, dass Mitarbeiter weniger über Excel-Tabellen brüten sollen und stattdessen Künstliche Intelligenz Daten analysiert und Empfehlungen ausspricht. Mitarbeiter schauen dann nur noch einmal über diese Empfehlung und geben ihr Einverständnis, teilweise nicht einmal mehr das. „Business Intelligence beschreibt mit Daten deskriptiv, was im Unternehmen passiert. Decision Intelligence sagt mit Daten voraus, was passieren wird, und empfiehlt Maßnahmen, um Risiken abzuwehren oder Chancen zu nutzen“, erklärt EY-Berater Heiko Kahrels, der das Thema für die Unternehmensberatung betreut.

„Die Technologie darf kein Selbstzweck sein“

Unternehmen würden aus ihren Datenschätzen aktuell noch viel zu wenig rausholen, meint Kahrels. „Ein Mensch kann diese Datenmengen gar nicht sinnvoll verarbeiten.“ Dazu brauche es Digitalisierung. 80 Prozent der Entscheidungsprozesse in Unternehmen könnten automatisiert werden, ist Kahrels überzeugt. Das sei neben Effizienzgewinnen gerade auch deshalb so wichtig, weil beispielsweise in der Steuerung der Lieferkette aktuell viele altgediente Mitarbeiter in den Ruhestand gingen. „Das Bauchgefühl dieser Mitarbeiter lässt sich nicht einfach auf Kollegen übertragen“, sagt Kahrels. Mit einer Plattform ließen sich Erfahrungswerte in Form von Daten konservieren.

Ganz neu ist all das nicht, schon im Jahr 2018 ernannte Google seine erste „Chef-Entscheidungswissenschaftlerin“, die Informatikerin Lorien Pratt machte den Begriff in einem Buch populär. 2021 erkoren die viel beachteten Analysten von Gartner „Decision Intelligence“ zum strategischen Technologietrend für das Jahr 2022. Wirklich Fahrt aufgenommen hat der Ansatz aber vor allem durch die Fortschritte in der Künstlichen Intelligenz, auch wenn sie nur ein Teil der „Decision Intelligence“ ist. Sie kann Muster in Daten erkennen und daraus Rückschlüsse auf künftige Ereignisse ziehen, kann wie im Fall von Otto historische Absatzzahlen mit externen Daten kombinieren und daraus eine Bedarfsplanung erstellen. Die Analysten von Markets and Markets sagen auch deshalb voraus, dass der Decision-Intelligence-Markt von 13,3 Milliarden Dollar in diesem Jahr bis auf 50,1 Milliarden Dollar im Jahr 2030 wachsen wird.

Thorsten Heilig will ein Stück von diesem Kuchen abhaben. Zusammen mit Fabian Rang hat er Mitte 2020 in Heidelberg, ganz in der Nähe des KI-Anbieters Aleph Alpha, das Start-up Paretos gegründet. Als Führungskraft des Mobilitätsdienstleisters Moovel hat Heilig selbst erlebt, wie die Entscheidungsfindung in großen Unternehmen funktioniert – und sah Verbesserungspotential. Mit Paretos bietet er seinen Kunden eine Decision-Intelligence-Plattform an. Zunächst gehe es darum, die Daten der Unternehmen so aufzubereiten, dass sie verwertbar werden, erzählt Heilig. Wichtig sei auch, vorab darüber zu sprechen, welche Probleme Unternehmen überhaupt konkret lösen wollten. „Die Technologie darf kein Selbstzweck sein“, sagt Heilig. Paretos sucht dann aus seiner Bibliothek die passenden Modelle zur Datenverarbeitung für das Problem, kombiniert sie miteinander und optimiert sie aufeinander. Dabei können nicht nur unternehmensinterne Daten, sondern auch externe Daten einfließen, zum Beispiel Wetterdaten.

Pro Region mehr als zehn Milliarden mögliche Zuordnungen

Die Software von Paretos kommt beispielsweise in der dynamischen Planung von Personal und Flotte eines großen Paketdienstes zum Einsatz, mehr als 10 Millionen Euro seien so eingespart worden. Auch die Supermarktkette Edeka nutzt Paretos, um Waren möglichst effizient in die Lagerstandorte zu bestellen und zwischen den Lagern umzuverteilen. Mehr als 10.000 unternehmerische Randbedingungen für Lagerverfügbarkeit, Preise oder Speditionen gebe es zu beachten, erzählt Heilig. Pro Region ergäben sich so mehr als zehn Milliarden mögliche Zuordnungen. Anstatt die Planung ein paarmal im Jahr manuell mit Excel-Listen zu überprüfen, macht jetzt permanent die Software Optimierungsvorschläge. Und auch die Otto Group arbeitet mit Paretos. Die Konkurrenz – etwa durch das kalifornische Unternehmen Aera Technology – ist groß, auch große IT-Konzerne dringen in das Feld vor. Es brauche aber gar nicht immer das neueste Deep-Learning- oder generative KI-Modell, sagt Heilig. „Wenn ein lineares Modell in unseren Tests für einen speziellen Fall besser abschneidet, nehmen wir ein lineares Modell mit in den Modell-Mix.“

Auch Tim Weckerle sieht Künstliche Intelligenz für die Optimierung von Prozessen nicht als sakrosankt. „KI ist kein Zauberstab, mit dem plötzlich alles funktioniert“ sagt er. Weckerle ist Geschäftsführer des Regensburger Software-Systemhauses Optware, das sich auf kombinatorische Optimierung – vor allem in der Produktion und der Logistik – spezialisiert hat. Die Algorithmen von Optware sorgen zum Beispiel für eine möglichst effiziente Reihenfolge an Produktionslinien. Die Montage eines Spiegels an einem Cabrio dauere etwa länger als an einem Kombi, erklärt Weckerle, deshalb sei es ungeschickt, drei Cabrios hintereinander zu montieren. Dann entstünden zu lange Pausen. Die mathematischen Modelle von Optware erstellen auch unter Berücksichtigung von Transportwegen, Maschinenrüstzeiten und CO2-Einsparungen werksübergreifende Belegungspläne: Welche Bauteile müssen wann in welchem Werk gefertigt werden?

Aber auch Optware nutzt KI für seine Anwendungen – „wo es Sinn ergibt“, wie Weckerle sagt. Beispielsweise in der sogenannten Ähnlichkeitssuche, eine Art Amazon-Empfehlungsalgorithmus für Firmenkunden. Wenn ein Krankenhaus etwa zeitnah Einwegspritzen brauche, aber der übliche Lieferant nicht schnell genug liefern könne, durchforste die KI alle angeschlossenen Händler nach Produkten mit der gleichen Größe und Beschaffenheit – kombiniert mit Daten, für welche Alternativprodukte andere Unternehmen in der gleichen Situation sich entschieden haben.

Kostensparen vs. Qualitätsverbesserung

Das Modewort Decision Intelligence nutzt Weckerle dabei nicht, auch wenn es letzten Endes auch genau darum geht. Auf Basis der algorithmisch erstellten Belegungspläne etwa lässt sich auch entscheiden, ob und wo es ein neues Werk braucht. Es gehe Optware um drei Arten von Effizienz, sagt der Software-Manager. Operationale Effizienz, Ressourceneffizienz und Entscheidungseffizienz. Erst wenn alle drei vorhanden seien, würden alle bestehenden Optimierungsmöglichkeiten ausgeschöpft. Die komplette Automatisierung von Entscheidungen sieht Weckerle aber eher kritisch. „Ich finde, es sollte immer noch einmal ein Experte draufschauen.“

Ein Selbstläufer ist die Technik trotz aller Automatisierung nicht. „Die Entscheidungsmacht ein Stück weit abzugeben ist für viele Unternehmen ein Paradigmenwechsel“, sagt EY-Berater Kahrels. Das Thema müsse deshalb tief in die Unternehmensstrategie verankert werden: Wie viele und welche Entscheidungen möchte man in den kommenden zwei bis drei Jahren automatisieren? Möchte man Kosten sparen oder die Qualität verbessern?

Am Ende müssen die Mitarbeiter die neue Technik natürlich auch nutzen. Otto-Group-Manager Maier schwärmt von der niedrigen Einstiegshürde der Anwendungen. „Wir müssen nicht erst viel erklären, die Mitarbeiter können direkt ausprobieren.“ Statt eines komplexen Roll-out-Prozesses im ganzen Unternehmen geht die Otto Group von Anwendungsfall zu Anwendungsfall. Solche kurzfristigen Erfolgserlebnisse seien wichtig, um die Belegschaft zu überzeugen, sagt auch Thorsten Heilig. „Wir müssen nicht erst mal ewig lange ein komplettes Datenabbild des Unternehmens erschaffen und können erst danach Anwendungsfälle bauen, sondern legen direkt mit den Anwendungen los und bauen das Datenabbild organisch und iterativ.“ Die Otto Group will noch weitere Entscheidungsprozesse automatisieren, etwa im Wareneingang. „Wir haben auf jeden Fall noch Phantasie“, sagt Maier.