Zehn Jahre Deutschland: Neun Flüchtlinge erzählen

13

Der Zufriedene

Rawand Izzat, 35, kommt aus dem ­Nordirak. Der Kurde lebt in Köln. Er ist verheiratet und Vater von zwei Töchtern. Er besitzt die ­deutsche Staatsbürgerschaft.

„Mein Vater wählte den Namen Rawand für mich, was so viel wie ‚Migrant‘ oder ‚Wanderer‘ bedeutet. Unsere Familie hat im Irak viele Kriege erlebt, wir mussten immer wieder fliehen. Als ich geboren wurde, benannte mein Vater mich nach dem, was er kannte. Rawand, der Mi­grant. Vor zehn Jahren floh ich mit meiner Frau nach Deutschland.

Für die Flucht aus dem Irak gibt es zwei Wege: Der eine ist schnell, aber sehr riskant, er führt über das Meer. Der andere Weg führt über Land, dauert lange und ist sehr teuer. Er ist weniger riskant. Wir konnten den zweiten Weg wählen, denn ich habe im Irak sehr gut verdient. Morgens habe ich in der Verwaltung einer Ölfirma gearbeitet, abends als Englischlehrer an einer Abendschule. Unsere Flucht dauerte eineinhalb Monate und kostete uns rund 25.000 Euro.

In Deutschland konnten wir nach ungefähr einem Jahr in ein Haus ziehen, dort lebten wir gemeinsam mit zwei anderen Menschen. Es lief viel besser, als wir es uns vorgestellt hatten. Vielleicht lag es daran, dass meine Frau schwanger war, vielleicht auch daran, dass ich mich auf Englisch mit den Behördenmitarbeitern unterhalten konnte. Flüchtlinge ohne Sprachkenntnisse haben es da schwerer. Aber es gibt Dinge, die verstehe ich bis heute nicht. Ich habe der Ausländerbehörde immer E-Mails geschrieben, die Antworten kamen aber immer per Post.

Zwei Jahre nach unserer Ankunft in Deutschland sollten wir abgeschoben werden. Das war ein Schock. Ich war damals schon ehrenamtlich beim Roten Kreuz tätig, ich spielte im Fußballverein. Meine Nachbarn, meine Freunde, sie alle schrieben Briefe an den deutschen Staat und setzten sich für uns ein. Mehr als 70 Briefe waren das. Es spielt eine große Rolle, in welchem Ort ein Flüchtling landet. Der Ort entscheidet darüber, wie erfolgreich man in Deutschland sein kann. Ich lebe heute in Köln, ich hatte Glück.

Im Irak habe ich Englisch und Literatur studiert. In Deutschland wollte ich Informatik studieren. Aber mein Anwalt riet mir wegen der drohenden Abschiebung zu einer Ausbildung. Ich wurde Bürokaufmann, heute arbeite ich als Kaufmann im IT-Bereich. Das deutsche Gericht entschied zum Glück, dass wir bleiben dürfen.

Ich bin sehr zufrieden in Deutschland, aber die deutsche Erde gehört mir nicht. Ich bin hier nicht geboren. Die Erde im Irak gehört mir, es ist mein Boden, der Boden meiner Frau. Wenn ich etwas am Irak vermisse, dann ist es dieses Gefühl der Heimat. In Deutschland muss ich mich jeden Tag erklären. Zeigen, dass ich gut integriert bin, dass ich nichts mit den Menschen aus den Nachrichten zu tun habe. Trotzdem haben meine Frau und ich nie darüber gesprochen, ob wir wieder zurück in unser Heimatland wollen. Das müssen wir nicht. Unsere Zukunft ist in Deutschland. Die deutsche Erde gehört mir nicht, aber sie gehört meinen beiden Töchtern. Sie sind in Deutschland geboren.“

Der Rückkehrer

Mohamed Sabah, 32, ist nach vier Jahren in den Irak zurückgekehrt. Der Kurde lebt in Erbil im Nordirak. Er ist verheiratet.

„Vier Jahre habe ich darauf gewartet, mein Leben in Deutschland beginnen zu können. Aber ich habe nie offizielle Papiere bekommen, nie einen richtigen Aufenthaltstitel. Ich habe immer nur gewartet.

In Deutschland habe ich in einer Schokoladenfabrik gearbeitet, eigentlich wollte ich eine Ausbildung zum Auto­mechaniker machen. Im Irak fahre ich Taxi, mein Auto repariere ich selbst. Hier braucht man keine Ausbildung, man macht einfach, was man kann. In Deutschland geht das nicht. Eine Ausbildung hätte mir vieles erleichtert. Aber ich habe keine gefunden.

Die meiste Zeit habe ich in einem Flüchtlingscamp in der Nähe von Aachen gelebt, eine günstige Wohnung konnte ich ohne Papiere und Ausbildung nicht finden. Ich habe gemeinsam mit anderen in einem kleinen Zimmer gelebt, das war häufig anstrengend.

Irgendwann habe ich das Warten nicht mehr ausgehalten. Ich habe meine Familie so sehr vermisst. Im Irak ist das Familienleben anders. Wir können nicht so lange voneinander getrennt sein. Wenn ich mit deutschen Freunden sprechen möchte, brauche ich einen Termin. Die Menschen im Irak kann ich einfach anrufen und wir treffen uns, wir sind viel spontaner.

Im Jahr 2019 bin ich zurück. Meine Eltern waren traurig, sie sagten, ich hätte in Deutschland bleiben sollen. Der Irak habe doch keine Zukunft. Ich liebe Deutschland wirklich. Ich will zurück. Aber ich bin jetzt verheiratet, damit wird es noch schwerer, ein Visum zu bekommen. Wenn ich es zurück nach Deutschland schaffe, will ich es noch mal mit einer Ausbildung versuchen. Bis dahin fahre ich weiter Taxi.“

Der Bürokratiebekämpfer

Hassan Haj, 36, kommt aus Syrien. Er lebt in Hohenahr, ist verheiratet und hat zwei Kinder. Er besitzt die ­deutsche Staatsbürgerschaft.

„Ich habe in Deutschland in drei Jahren mehr Papier und Dokumente gesammelt als in meinem ganzen Leben in Syrien. Ich war wirklich überrascht, wie viel Papier in Deutschland von A nach B bewegt wird. Das ist schon heftig.

Für viele syrische Flüchtlinge ist es am Anfang nicht so einfach mit den deutschen Behörden. Das liegt an unserer Geschichte. Wir Syrer haben in unserer Heimat keine guten Erfahrungen mit den Behörden gemacht. Das müssen wir erst einmal verarbeiten. Wir müssen begreifen, dass wir nicht mehr in Syrien sind.

Ich hatte es in Deutschland leichter, weil ich gut Englisch spreche. Ich habe in Syrien Betriebswirtschaft mit Schwerpunkt Rechnungswesen studiert. Nachdem ich Deutsch gelernt hatte, machte ich hier meinen Master.

Heute arbeite ich selbst im öffentlichen Dienst. In Hessen bin ich für die Digitalisierung und Modernisierung der Versorgungsverwaltung zuständig. Ich bin froh, dass ich jetzt so viel Papier abschaffen kann. Ich will in Deutschland Karriere machen, das klappt bisher sehr gut.“

Die Zweifelnde

Elham Jalil, 31, kommt aus Syrien. Die Palästinenserin lebt in ­Wettringen. Sie ist verheiratet und hat ein Kind. Sie besitzt die ­deutsche ­Staatsbürgerschaft.

„Als ich meinen deutschen Pass bekam, war das eine sehr wichtige Errungenschaft für mich. Als Palästinenserin war ich vorher staatenlos. Nun habe ich einen Staat. Mein Mann und ich sind gemeinsam geflüchtet. Wir haben hier Arbeit, von der wir leben können. Dafür bin ich Deutschland wirklich sehr dankbar, ich hatte gute Jahre hier.

Elham Jalil, 31, aus Syrien
Elham Jalil, 31, aus SyrienMaximilian Mann

Und trotzdem fühle ich mich unwohl, wenn ich meine Wohnung verlasse. Ich bin eine muslimische Frau mit Kopftuch. Ich spüre die Blicke, ich höre die dummen Sprüche. Jedes einzelne Mal.

Einmal suchten wir nach einer Wohnung. Ein möglicher Vermieter rief mich an. Am Telefon verstanden wir uns sehr gut, er sagte mir, wir könnten die Wohnung haben. Genaueres wollte er persönlich besprechen, deswegen lud ich ihn zu uns nach Hause ein. Als ich ihm die Tür aufmachte, habe ich seine Blicke sofort gespürt. Er hat nicht mehr viel mit mir gesprochen. Aber eines hat er mir gesagt: Mit meinem Kopftuch würden sich die Nachbarn nicht wohlfühlen. Die Wohnung haben wir nicht bekommen.

Seitdem wir ein Baby haben, bräuchten wir eigentlich wieder eine größere Wohnung. Aber ich schaffe es nicht, noch mal nach einer neuen zu suchen.

Die Menschen stört das Tuch, das ich auf meinem Kopf trage. Dabei müssten sie sich doch dafür interessieren, was ich in meinem Kopf habe. Sie denken, ich werde unterdrückt. Dabei sind sie es, die Druck auf mich ausüben. In meiner Familie tragen viele Frauen kein Kopftuch. Meine Schwester zum Beispiel.

Aber mein Mann und ich wollen wieder zurück nach Syrien. Das Land wieder aufbauen. Wann das sein wird, wissen wir noch nicht. Hier in Deutschland sind wir nur zu zweit mit unserem Baby, es ist sehr ruhig. Ich habe wirklich versucht, deutsche Freunde zu finden, aber alle haben schon ihren festen Freundeskreis aus der Kindheit. Bei uns ist das anders. Wenn man als Mutter in Syrien zum Kinderspielplatz geht, kommt man mit zwei neuen Freundinnen zurück.

Obwohl ich die deutsche Staatsbürgerschaft habe, bleibe ich für die Deutschen nur die Ausländerin, die Frau mit dem Kopftuch. Egal, was ich tue, ich gehöre nicht richtig dazu.“

Der Altenpfleger

Azhar Muhammad, 33 Jahre, kommt aus Pakistan. Er lebt in Ostfildern. Im nächsten Jahr kann er sich für die ­Einbürgerung bewerben.

„In Pakistan war ich Industriemechatroniker, in Deutschland arbeite ich als Altenpfleger. Das war eigentlich nicht mein Traumberuf. Aber ich habe gehört, dass in Deutschland viele Arbeitskräfte in der Pflege gebraucht werden. Deswegen habe ich den Beruf gewählt. Am Anfang fiel mir die Ausbildung schwer. Ich komme aus einer Kultur, die ganz anders ist als die deutsche. In der ersten Zeit konnte ich keine Frauen pflegen, ich konnte sie nicht waschen, das ging einfach nicht.

Heute ist das für mich kein Problem mehr. Für mich sind alle Patienten gleich. Mein Job macht mir viel Spaß, ich hoffe, bald noch studieren zu können.

Meine Familie lebt immer noch in Pakistan, ich erzähle ihnen nicht alles. Sie würden es nicht verstehen. Aber sie wissen, dass ich ein gutes Leben in Deutschland habe.“

Der Genügsame

Luqman Mohammad, 54, kommt aus ­Syrien. Der Kurde lebt in Hamm. Er ist verheiratet und Vater von drei Söhnen. Er besitzt eine ­Aufenthaltserlaubnis.

„Ich hatte nicht erwartet, dass die Leute uns so sehr hassen würden. Wir haben acht Jahre in Jena gelebt. Das war eine sehr schwere Zeit für meine Familie. In Thüringen werden wir Flüchtlinge als Feinde angesehen. Sie demonstrieren gegen uns. Sie reden nicht mit uns.

Luqman Mohammad, 54, aus Syrien
Luqman Mohammad, 54, aus SyrienMaximilian Mann

Der schlimmste Tag in Deutschland war, als mein ältester Sohn beschuldigt wurde, Kopfhörer im Supermarkt gestohlen zu haben. Und das, obwohl er gar nicht an der Kasse war. Die Angestellten haben ihn beschimpft und durchsucht. Ich habe die Polizei gerufen. Mein Sohn bekam Hausverbot, obwohl er nichts geklaut hatte. Aber was sollen wir machen? Nach diesem Vorfall wollte mein Sohn Jena verlassen.

Trotz allem ist vieles auch sehr gut in Deutschland. In Syrien muss die Familie für ihre Kinder vorsorgen, der Staat hilft nicht, wenn sie krank oder arbeitslos werden. Früher habe ich als Ingenieur gearbeitet. Ich war sehr reich, hatte viele Häuser. Das habe ich nun alles verloren.

Aber in Deutschland hilft der Staat den Menschen, wenn sie es brauchen. Deshalb habe ich hier ein neues Ziel. Früher wollte ich möglichst viel Geld verdienen, damit ich meinen Söhnen helfen kann. Jetzt will ich anderen Menschen helfen. Diesen Monat fange ich meine neue Arbeit als Sozialbetreuer an. Ich freue mich darauf. Das ist auch deshalb möglich, weil meine Kinder in Deutschland ihr Leben selbständig gestalten können, sie können arbeiten oder studieren.

Wir leben seit vier Monaten in Hamm. Es ist viel besser hier, die Leute sind netter. Ich habe in Deutschland keine Angst vor der Zukunft. Deswegen will ich hier bleiben.“

Der Arbeiter

Nouh Salah Ali, 28, kommt aus Somalia. Er lebt in ­Dinslaken. Er besitzt eine ­Aufenthaltserlaubnis.

„In Somalia gibt es Krieg. Mein Vater ist tot, mein Bruder ist tot. Meine Mutter lebt in Uganda.

Ich wohne in Dinslaken. Ich bin seit 2015 in Deutschland. Ich habe auch eine deutsche ‚Hoyo‘ (Mutter auf Somali), ich kenne sie seit 2016 aus dem Integrationscafé. Sie hat mir immer geholfen. Mit meiner Wohnung und mit meiner Arbeit. Ich habe nur vier Jahre lang die Schule in Somalia besucht. Deutsch ist eine schwierige Sprache. Aber an Deutschland mag ich alles.

Nouh Salah Ali, 28, aus Somalia
Nouh Salah Ali, 28, aus SomaliaMaximilian Mann

Am meisten aber mag ich die Arbeit in Deutschland. Ich habe auf der Baustelle gearbeitet. Fünf Jahre. Bald fange ich im Lager an. Das ist besser, nicht zu heiß, nicht zu kalt. Mein Ziel ist ein deutscher Pass. Und eine Frau. Und zwei Kinder.“

Der Meister

Serdar Sido, 27, kommt aus Syrien. Er lebt in Chemnitz. Der Kurde besitzt die deutsche Staatsbürgerschaft.

„Über Deutschland wusste ich vor meiner Flucht, dass es ein Industrieland ist. Hier kann man etwas erreichen, wenn man will. Ich habe hier eine Ausbildung zum Maler gemacht. Mein Bruder – wir sind zusammen geflohen – hat eine Ausbildung zum Trockenbauer absolviert. Wir hatten damals schon den Gedanken, uns selbständig zu machen. Als Maler kann man sich ohne viel Startkapital selbständig machen. Deshalb habe ich mich dafür entschieden.

Am Anfang meiner Ausbildung habe ich nicht alles verstanden. Einmal stand ich unter einem Gerüst, und ein Kollege sagte nur: ‚Gib mir mal Kelle.‘ Ich wusste gar nicht, was das ist. Ab und zu gab es rassistische Witze, aber sonst war es okay. Nach der Lehre kam der Meister. Im März stelle ich meinen zweiten Mitarbeiter ein. Einen Deutschen. Darauf bin ich stolz.

Meine Eltern und meine Geschwister sind noch in Syrien. Ich würde sie gerne auf dem legalen Weg nach Deutschland holen, hier wären sie sicher. Meine Schwester könnte in meinem Betrieb Bürokauffrau werden, mein Bruder eine Ausbildung anfangen, meine Mutter als Reinigungskraft arbeiten. Dann muss der Staat ihnen finanziell nicht helfen, weil sie ihr eigenes Geld verdienen.

Aber die Ausländerbehörde hat mir gesagt, dass das sehr schwierig wird. Vor allem für meine Mutter, weil sie kein ­Abschlusszeugnis hat. Ich finde das Quatsch. Wenn sie arbeitet, zahlt sie Steuern, da ist das mit dem Zeugnis doch egal.“

Der Eifrige

Sami Abdulsattar, 32, kommt aus dem Irak. Er lebt in Köln. Im nächsten Jahr kann er die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen.

„Meine schönsten Erinnerungen an den Irak sind die gemeinsamen Feste. Immer wenn wir gefeiert haben, kam die ganze Familie. Eines der wichtigsten Feste ist das Zuckerfest. Seit ich in Deutschland lebe, habe ich es nicht mehr gefeiert. Hier bin ich ganz allein, es gibt keine Familie, die zu Besuch kommt.

Ich habe fast acht Jahre lang auf eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung gewartet und hatte bloß eine Duldung. Jeden Moment hätte ich abgeschoben werden können. Als ich eine Ausbildung als Verkäufer gefunden habe, wurde es besser. Aber mich hat das Gehalt nicht besonders überzeugt. Im Irak habe ich als Fliesenleger und Friseur gearbeitet. Ich liebe die Arbeit als Fliesenleger. Ich arbeite jetzt wieder in diesem Beruf. Ich mache meine Arbeit wirklich perfekt, darauf bin ich stolz.

Ganz ehrlich, heute bin ich froh über diese schwere Zeit. Wäre alles einfach gewesen, hätte ich mich nicht so integriert. Jetzt weiß ich, meine Zukunft ist in Deutschland.“