Zu viel Strom für die Energiewende

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In der deutschen Energiewende gibt es eine Zahl, die ziemlich abstrakt klingt und dennoch eine wichtige Planungsgrundlage für die kommenden Jahre ist: Bis 2030 rechnet das Wirtschaftsministerium mit einem Anstieg des jährlichen Strombedarfs in Deutschland auf bis zu 750 Terawattstunden. Eine Terawattstunde, das sind eine Milliarde Kilowattstunden.

Die Stromverbrauchsprognose der Regierung stand schon im Koalitionsvertrag der Ampelregierung vom Herbst 2021, und sie hatte damals weitreichende Konsequenzen. Denn 750 Terawattstunden, das war ein Drittel mehr als der damalige Verbrauch Deutschlands. Es wurde also bis zum Ende des Jahrzehnts ein gewaltiger zusätzlicher Bedarf gesehen, der hohe Investitionen erforderte. Um den in einigen Jahren erwarteten Stromverbrauch decken zu können, kündigte die Regierung damals im Koalitionsvertrag einen „massiven Ausbau“ von Windkraft, Solarenergie und Stromnetzen an.

Das Problem ist nur: Heute, gut drei Jahre später, setzen Fachleute hinter die Verbrauchsprognose von damals ein großes Fragezeichen. Womöglich wird in Deutschland mittelfristig deutlich weniger Strom benötigt, als die Ampelkoalitionäre Ende 2021 angenommen haben – was wiederum dazu führen könnte, dass in den nächsten Jahren weniger neue Offshore-Windparks und Solaranlagen installiert werden müssen als gedacht und das Stromnetz weniger groß dimensioniert werden muss.

Anhaltspunkte dafür, dass der mittelfristige Bedarf überschätzt wurde, gibt es: In den vergangenen Jahren ist der Stromverbrauch nicht gestiegen, sondern deutlich gesunken. Zunächst lag das an der Energieversorgungskrise durch Russlands Angriff auf die Ukraine. Aber der Verbrauch ist bis heute schwach geblieben. 2024 betrug er lediglich 512 Terawattstunden, ein Rückgang um 55 Terawattstunden gegenüber 2019. So wenig Strom wie zuletzt wurde in Deutschland seit der Jahrtausendwende noch nie benötigt.

Niedriger Stromverbrauch ist Warnsignal für Energiewende

„Wir werden 2030 voraussichtlich keine 750 Terawattstunden brauchen“, sagt Bochumer Ökonom Andreas Löschel. „600 bis 650 Terawattstunden dürften realistischer sein.“ Und ob langfristig in Deutschland in der Spitze mehr als 1300 Terawattstunden Strom benötigt werden, wie es die Pläne der zuständigen Bundesnetzagentur aktuell vorsehen, hält er ebenfalls für ungewiss. Löschel leitet eine Expertenkommission, die im Auftrag der Bundesregierung regelmäßig den Stand der Energiewende bilanziert.

Auch andere Fachleute halten die 750 Terawattstunden für überholt. Die Energiewende könne in den nächsten zehn Jahren deutlich günstiger werden, wenn unter anderem der Ausbau von erneuerbaren Energien und Stromnetzen an eine realistischere niedrigere Bedarfsschätzung „angepasst“ werde, schrieben kürzlich die Energieökonomen Lion Hirth, Hanns Koenig und Christoph Maurer in einem Gastbeitrag für die F.A.Z. Die Investitionspläne für den Umbau des Energiesystems sollten wegen dieser „neuen Realität“ modifiziert werden.

So haben sich das die Planer der Energiewende nicht vorgestellt. Klimaschonend erzeugter Strom ist die wichtigste Zutat für das Jahrhundertprojekt. Denn die Energiewende basiert in weiten Teilen darauf, dass die fossilen Brennstoffe Kohle, Erdöl und Erdgas durch erneuerbaren Strom ersetzt werden: Auf den Straßen Elektroautos statt Benziner und Diesel, in Gebäuden elektrische Wärmepumpen statt Öl- und Gasheizungen und aus Strom erzeugter grüner Wasserstoff statt Kohle und Erdgas in Stahlhütten und Chemiefabriken.

Wärmepumpen-Ziel in weite Ferne gerückt

Wenn nun der Stromverbrauch schwächelt, dann ist das auch ein Warnsignal, dass die Energiewende trotz vieler neuer Windräder und Solaranlagen nicht richtig vorankommt. Wie lang der Weg noch ist, zeigt ein Blick auf die Zahlen: 2024 wurde in Deutschland nur ein Fünftel des gesamten Energiebedarfs durch klimaschonende erneuerbare Energien gedeckt – und fast 80 Prozent durch Öl, Erdgas und Kohle.

Es dauert länger als von den Ampel-Koalitionären erhofft, bis sich Elektroautos und Wärmepumpen durchsetzen. 15 Millionen E-Autos sollen 2030 auf deutschen Straßen unterwegs sein, auch das haben SPD, Grüne und FDP vor drei Jahren in ihren Koalitionsvertrag geschrieben. Doch dieses Ziel gilt längst als illusorisch. Aktuell sind in Deutschland nur rund 1,6 Millionen vollelektrische Autos zugelassen, 2024 schmierten die Neuzulassungen von E-Autos um 27 Prozent ab, nachdem die Bundesregierung aus Geldnot den staatlichen Kaufzuschuss gestrichen hatte.

Auch das Regierungsziel von jährlich einer halben Million neuer Wärmepumpen ist Deutschland nach dem Debakel um Habecks missglücktes Heizungsgesetz in weite Ferne gerückt. 2024 wurden nach Schätzung der Denkfabrik Agora Energiewende nur 200.000 Wärmepumpen verkauft – 45 Prozent weniger als im Vorjahr.

Stromverbrauch der Industrie sinkt

Der Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft für die Industrie, für den ebenfalls ein großer zusätzlicher Strombedarf eingeplant war, kommt auch nur schwer in Gang. Zwar brachte die Regierung den Bau eines Wasserstoffleitungsnetzes zum Transport des Energieträgers in die industriellen Zentren auf den Weg. Das sogenannte Kernnetz soll bis 2032 fertiggestellt werden und jährlich fast 300 Terawattstunden Wasserstoff transpor­tieren können. „Aber bisher gibt es praktisch noch keine Nachfrage für diese Mengen“, sagt Löschel.

Die Politik tut sich schwer. Er glaube nicht daran, dass eine schnelle Umstellung der Stahlerzeugung von Kohle auf Wasserstoff möglich sei, sagte der CDU-Chef Friedrich Merz diese Woche in Bochum. Dem Unionsmann räumen Umfragen derzeit die besten Chancen ein, nächster Bundeskanzler zu werden. Seine Energiewendepläne sind nebulös. Die Union hat zwar angekündigt, Habecks Heizungsgesetz „zurückzunehmen“ und das in der EU für 2035 geplante Verbot von Neuwagen mit Verbrennungsmotoren zu verhindern. Aber wie CDU und CSU stattdessen den Klimaschutz auf den Straßen und in den Heizungskellern voranbringen wollen, bleibt vage.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.


Auf längere Sicht gilt der zukünftige Verbrauch der Industrie als größte Unbekannte für die Abschätzung des Strombedarfs. Schon allein deshalb, weil die Industrieunternehmen mit einem Anteil von mehr als 40 Prozent am gesamten Verbrauch die größten Stromabnehmer in Deutschland sind. 2023 lag der Stromverbrauch der Industrie um 14 Prozent niedriger als 2019, vor Corona-Pandemie und Energiekrise. Die große Frage ist: Wie viel von diesem Rückgang ist vorübergehend und wie viel dauerhaft?

Zumindest teilweise ist der geringere Strombedarf der Industrie auf die Wirtschaftsflaute zurückzuführen. 2024 ist die deutsche Wirtschaft das zweite Jahr in Folge leicht geschrumpft. Wenn die Konjunktur sich bessert, dürfte auch der Verbrauch der Fabriken wieder zulegen. Aber vor allem in energieintensiven Branchen wie der Grundstoffchemie könnte der Strombedarf auch auf Dauer niedriger bleiben als bisher angenommen, weil die Produktion in Deutschland mit seinen hohen Energiepreisen international nicht mehr wettbewerbsfähig ist. Die Fabriken wandern womöglich ins Ausland ab.

„Es ist fraglich, ob die gesamte indus­trielle Wertschöpfung zurückkehrt, wenn sich die Konjunktur bessert“, sagt Christoph Maurer, Geschäftsführer des Aachener Energieanalysehauses Consentec. Er glaubt: „Die deutsche Industrie wird in Zukunft wahrscheinlich weniger Strom benötigen als noch vor einigen Jahren angenommen.“

„Ausbau der Erneuerbaren nicht stoppen – aber anpassen“

Energieökonomen wie Maurer und Löschel, die an der bisherigen Strombedarfsplanung zweifeln, wollen nicht missverstanden werden. „Das heißt nicht, dass wir jetzt den Ausbau der erneuerbaren Energien und der Netze stoppen sollten,“ sagt Maurer. Ein ambitionierter Ausbau werde weiter gebraucht. „Aber es wäre sinnvoll, ihn an realistischere Annahmen für den Stromverbrauch anzupassen. Dadurch könnte die Energiewende deutlich günstiger werden.“

„Neuen Schwung“ habe die Energiewende durch die Ampelregierung bekommen, lobt auch Markus Krebber, Chef des größten deutschen Stromerzeugers RWE. „Der Bau von Windrädern und Solaranlagen ist gut vorangekommen“, sagt Krebber der F.A.S. Aber der Ampel habe es an einem „klaren Fokus auf die Energiekosten“ gefehlt.

Die Energieökonomen Maurer, Hirth und Koennig empfehlen, sich stärker auf den Ausbau der kostengünstigen On­shore-Windkraft zu konzentrieren, den Bau von Windrädern auf dem Meer dagegen zu drosseln und zeitlich zu strecken. Die staatlich garantierten Einspeiseentgelte für kleine Solaranlagen und die Biogassubvention halten sie für unnötig.

Bedarfsplanung für Stromnetze ist schwierig

Auch Leo Birnbaum, Vorstandschef des größten deutschen Verteilnetzbetreibers Eon, fordert einen gezielteren Ausbau der grünen Stromerzeugung als bisher. „Warum sollte jemand, der einen Wind- oder Solarpark an einer Stelle baut, wo der Strom nicht gebraucht wird, komplett vom Investitionsrisiko befreit werden?“, sagt der Eon-Chef der F.A.S.

Der größte Kostentreiber für die Energiewende werden in den kommenden Jahren aller Voraussicht nach die notwendigen hohen Investitionen in die Netze sein. Geschätzte 250 Milliarden Euro soll allein der Ausbau des Höchstspannungs-Übertragungsnetzes kosten, das dem Stromtransport über lange Strecken dient. „Tempo beim Netzausbau ist weiter sehr wichtig“, sagt Energieökonom Löschel. „Aber wir sollten dabei auch mehr als bisher Szenarien mit einem weniger starken Anstieg des Strombedarfs betrachten.“

Die Bedarfsplanung für die Stromnetze ist zwangsläufig schwierig. Ohne mit erheblichen Unsicherheiten behaftete Verbrauchsprognosen geht es nicht, denn der Bau neuer Stromtrassen kann viele Jahre dauern. Man muss also heute bereits mit der Planung zusätzlicher Leitungen beginnen, damit sie in Zukunft rechtzeitig zur Verfügung stehen.

Jährlich 17 Milliarden Euro Zuschuss für grünen Strom

Der Regierungsberater Löschel empfiehlt, wegen der Ungewissheit über den zukünftigen Strombedarf den Netzausbau vorsichtiger anzugehen als bisher. Er rät zu einem „modularen Ansatz“ bei der Stromnetzplanung. Gemeint ist damit: Wenn bestimmte neue Stromtrassen nur in einem Szenario mit einem sehr stark steigenden Strombedarf benötigt werden, dann sollten diese zwar geplant und die notwendigen oft langwierigen Genehmigungsverfahren bereits durchgeführt – aber noch keine feste Investitionsentscheidung getroffen werden. Dann können die Stromleitungen, wenn sich in einigen Jahren zeigen sollte, dass sie auch wirklich gebraucht werden, vergleichsweise schnell gebaut werden. Denn Pläne und Genehmigungen liegen bereits in der Schublade.

Starke Netze seien notwendig, sagt Tim Meyerjürgens, Deutschland-Chef des niederländischen Unternehmens Tennet, das das größte deutsche Stromübertragungsnetz betreibt. Er fügt aber hinzu: „Der Netzausbau muss flexibel bleiben.“ Der für 2026 vorgesehene nächste Netzentwicklungsplan, in dem die Betreiber den Ausbaubedarf der Stromnetze darstellen, werde „vor allem mit Blick auf die Stromverbräuche mehrere Szenarien prüfen“.

Derzeit ist die Energiewende aus der Balance geraten. Windräder und Solaranlagen erzeugen je nach Wetterlage und Tageszeit manchmal viel mehr Strom als benötigt wird – und manchmal zu wenig. Die Folgen sind eine drohende Überlastung der Netze, stark schwankende Strompreise und Kosten, die die Energiewende weiter verteuern.

17 Milliarden Euro Kosten

2024 gab es insgesamt 459 Stunden mit negativem Börsenstrompreis in Deutschland, ein neuer Rekordwert. In diesen Phasen war der Angebotsüberschuss auf dem Strommarkt so groß, dass die Erzeuger die Energiekunden an der Börse dafür bezahlen mussten, damit diese ihnen den überschüssigen Strom abnahmen.

Selbst wenn der Strom an wind- und sonnenreichen Tagen nichts wert ist, dürfe weiter produziert werden und die Grünstromerzeuger erhielten weiter ihre garantierte Förderung, kritisiert Eon-Chef Birnbaum. Er sieht die nächste Bundesregierung gefordert: „Das passt nicht mehr, und das muss die Politik rasch ändern.“

Derzeit bekommen Betreiber von Windrädern und Solaranlagen in Deutschland einen staatlich garantierten Mindestabnahmepreis für ihren Strom. Zu Zeiten, an denen der Marktpreis niedriger oder kurzzeitig sogar negativ ist, leistet der Staat eine Ausgleichszahlung, die die Differenz zum Garantiepreis wettmacht. Diese sogenannte Marktprämie wird aus dem Bundeshaushalt bezahlt. Die Kosten sind enorm: Allein dieses Jahr wird diese Subvention den Steuerzahler voraussichtlich rund 17 Milliarden Euro kosten.