Vor einer Woche war Mark Rutte im Auswärtigen Ausschuss des Europäischen Parlaments zu Gast, es ging auch um die künftigen Verteidigungsausgaben. Man werde „sicherlich deutlich mehr als zwei Prozent“ ausgeben müssen, sagte der NATO-Generalsekretär. Wie viel genau, hakten Abgeordnete nach. Das war Rutte schon oft gefragt worden. Für eine Zahl sei es noch zu früh, hatte er dann stets geantwortet. Auch am Montagabend wollte er sich erst nicht auf eine Zahl festlegen, nur um es dann doch zu tun: „Wenn man einen ersten Blick auf die Fähigkeitsanforderungen im NATO-Planungsprozess wirft, dann wird es nördlich von drei Prozent sein.“
Nördlich von drei, das ist Militärjargon. Gemeint ist: mehr als drei Prozent. Bisher sind es zwei Prozent als „Untergrenze“, zwei Prozent der gesamten Wirtschaftskraft jedes Mitgliedslands. Was die Erhöhung bedeuten würde, kann man sich gut am deutschen Beispiel vergegenwärtigen. Berlin wendete im vergangenen Jahr 2,1 Prozent für Verteidigung auf, müsste also fast die Hälfte mehr ausgeben, um auf drei Prozent zu kommen. In absoluten Zahlen ist das der Unterschied zwischen 90 und 130 Milliarden Euro. Allerdings liegt der reguläre Etat lediglich bei gut 50 Milliarden Euro, nur die zusätzlichen Aufwendungen für die Ukraine und aus dem „Sondervermögen“ für die Bundeswehr schraubten die Ausgaben über die magische Schwelle. Eine massive Erhöhung würde jede Regierung vor ein gewaltiges Loch im Haushalt stellen. Gestopft werden könnte es nur mit höheren Schulden oder geringeren Sozialausgaben.
Zunächst fand die Aussage kaum Aufmerksamkeit
Rutte ging nun sogar noch weiter. Wenn man alle Fähigkeitsziele erfülle, auf die sich die Mitgliedstaaten verpflichtet haben, sagte er, dann lande man bei 3,6 oder 3,7 Prozent. Davon könne man dann noch Einsparungen abziehen, die sich aus Innovation und gemeinsamer Beschaffung ergäben. Also vielleicht ein paar Zehntel, sodass man am Ende etwas näher an drei Prozent herankommt. Diese Aussagen fanden kaum Aufmerksamkeit, ein EU-Ausschuss ist nicht die Bühne, auf der ein Generalsekretär Neuigkeiten verkündet. Im Hauptquartier der Allianz schlugen sie jedoch ein wie eine Bombe, wenn man das so sagen kann. Rutte hat eine neue Debatte mit hohem Spaltpotential eröffnet – und er will sie bis Juni zu Ende bringen.
Es war schon der zweite Paukenschlag für die Mitgliedstaaten. Ein paar Tage zuvor hatte Donald Trump Verteidigungsausgaben von fünf Prozent gefordert, „sie können es sich alle leisten“, sagte er. Eine typische Trump-Provokation. Wie er auf die Zahl kam, erklärte er nicht. Dass sein eigenes Land mal eben 350 Milliarden Dollar mehr im Jahr für Verteidigung aufwenden müsste, ließ er ebenfalls unter den Tisch fallen. Die USA geben zwar extrem viel für ihr Militär aus, trotzdem waren es nach NATO-Berechnungen zuletzt „nur“ 3,4 Prozent. Einige europäische Diplomaten glaubten deshalb sogleich, dass Trump in Wahrheit von ihren Staaten einen Strafaufschlag für die Jahre verlange, in denen sie weit weniger als zwei Prozent ausgegeben haben. Er hatte ja schon oft gesagt, dass Europa seine „Schulden“ begleichen müsse. In Brüssel breitete sich Unruhe aus.
Wie Gespräche der F.A.Z. mit Diplomaten und Beamten im Hauptquartier der Allianz ergaben, war Trumps Vorstoß der Grund, warum Rutte seine bis dato vorsichtige Kommunikation aufgab. Zum einen wollte er dem neuen Präsidenten signalisieren, dass er selbst für deutlich höhere Ausgaben wirbt. Bisher hatten viele Staaten intern 2,5 Prozent als Maximum einer Erhöhung genannt, auch aus Berlin kam dieses Signal. Derweil haben Trumps Berater in den vergangenen Wochen klargemacht, dass es mindestens drei oder 3,5 Prozent sein müssten – wie im Kalten Krieg. Zum anderen wollte Rutte die Debatte vom Kopf auf die Füße stellen. Seine Zahl ist aus dem Planungsprozess der Allianz abgeleitet. Sie ist deshalb auch viel schwerer aus der Welt zu schaffen.
Auf einen Krieg mit Moskau einstellen
Alle vier Jahre startet die NATO einen neuen Planungszyklus, der aktuelle begann 2023. Zuerst wurden die Bedrohungen definiert, dann im vorigen Jahr notwendige Fähigkeiten benannt. Gegenwärtig verhandeln die Staaten über ihre nationalen Anteile: wie viele Brigaden, Fregatten, Kampfflugzeuge ein Land der Allianz zusagt. Danach folgen Implementierung und Überprüfung, bevor 2027 ein neuer Zyklus beginnt. Das war schon immer so. Neu ist: Seit der russischen Invasion in der Ukraine hat sich die Allianz konsequent auf einen möglichen Krieg mit Moskau eingestellt.
Die Militärs haben dafür Verteidigungspläne entwickelt, wie es sie seit dem Kalten Krieg nicht mehr gab. Erstmals wurden militärische Kontingente wieder Räumen zugeordnet, die sie zu verteidigen haben. Eine halbe Million Soldaten wurde in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt, vorher waren es maximal 40.000. An der Ostflanke werden sieben vorgeschobene Brigaden aufgestellt. Außerdem hat man aus dem Krieg in der Ukraine Rückschlüsse auf eigene Fähigkeitslücken gezogen. Die Allianz braucht mehr Kapazitäten für Schläge in die Tiefe, für Luftverteidigung, für Transport und Logistik, für die Manövrierfähigkeit an Land und Unmengen an Munition – um nur die wichtigsten Mängel zu nennen.
„Zum ersten Mal seit langer Zeit ergibt sich die Zusage (für ein Ausgabenziel) aus den Plänen“, sagte der für Transformation verantwortliche NATO-Oberbefehlshaber, der französische Admiral Pierre Vandier, vorige Woche. „Die Pläne diktieren, was wir brauchen, nicht eine allgemeine Ambition.“ Das unterscheidet die neue Debatte von der, die 2014 zum Zwei-Prozent-Ziel von Wales führte: Seinerzeit gab es keine echten Verteidigungspläne, sondern bloß die Einsicht, dass man nach Jahren des Sparens und Kürzens wieder mehr Geld in Verteidigung investieren müsse. Auch das hing mit der Ukraine zusammen. Anfang 2014 hatte Russland sich die Krim-Halbinsel unter den Nagel gerissen, ein Schock für das Bündnis.
Der Zeithorizont ist unklar
Die neuen Pläne sind den Staaten bekannt. Wie Rutte daraus die 3,7 Prozent errechnet hat, wissen sie allerdings nicht. Hohe Diplomaten und Militärs der Mitgliedstaaten wurden deshalb von seinem Vorstoß überrascht. Ihnen liege keine Berechnung vor, sagen sie, auch wenn sie die Größenordnung durchaus für realistisch halten. Unklar sei auch der Zeithorizont: Bis wann soll das Ziel erfüllt sein? Schon in fünf Jahren oder erst in zehn Jahren? Außerdem wird darauf verwiesen, dass die nationalen Fähigkeitspakete noch verhandelt werden. Zum Beispiel plante die NATO bisher mit rund 80 Heeresbrigaden, künftig sollen es 130 sein, also 50 mehr. Deutschland müsste davon eigentlich fünf bis sechs übernehmen. Vielleicht werden es aber auch nur vier, weil das Vereinigte Königreich oder Lettland mehr schultern. Ein Preisschild könne man erst am Ende ermitteln. Allerdings: Wer weniger Heereskräfte anbietet, wird dann etwa um mehr Fregatten gebeten. Es geht immer um Lastenteilung.
Allerdings driften die Ambitionen der Mitgliedstaaten weit auseinander. Zwar haben 23 Staaten im vorigen Jahr das Zwei-Prozent-Ziel erfüllt. Doch geben jene, die näher an Russland liegen, deutlich mehr aus. In Polen sind es mehr als vier Prozent, in den baltischen Staaten mehr als drei Prozent. Litauen beschloss am Freitag, bis 2030 sogar fünf bis sechs Prozent für seine Verteidigung aufzuwenden – das wäre ein neuer Rekord in der Allianz. Dagegen liegen die Mitglieder, die in der Statistik weniger als 1,6 Prozent ausgeben, weiter von Russland entfernt: Portugal, Italien, Kanada, Belgien, Luxemburg, Slowenien und Spanien als Schlusslicht mit 1,3 Prozent. Sie alle mussten Pläne einreichen, wie sie das jetzige Ziel erreichen wollen. Bei Spanien wird das nicht vor 2029 der Fall sein.
Diese Staaten werden sich nun am stärksten dagegen sträuben, die Messlatte noch höher zu legen. Putin zwinge Europa zu Ausgaben, die auf Kosten seiner Wirtschaft und Wettbewerbsfähigkeit gingen, so formulierte es kürzlich ein einflussreicher Politiker. Natürlich könne er das nicht öffentlich sagen, fügte er hinzu. Doch sei das die Auffassung fast aller Regierungen westlich von Deutschland.
Ende Juni treffen sich die NATO-Regierungschefs in Den Haag. Ein neues Ausgabenziel soll dann das wichtigste „Deliverable“ sein, heißt es aus Ruttes Umgebung, das wichtigste zu liefernde Ergebnis. So bleibt ein halbes Jahr, um einen Konsens unter 32 Staaten zu erzielen – das ist wenig Zeit. Zumal nationale Wahlen dazwischenkommen. In Deutschland kann erst die nächste Bundesregierung eine Festlegung treffen, doch wird sie frühestens im Mai im Amt sein. Bei aller Ungewissheit ist freilich eines klar: Von diesem Montag an sitzt ein neuer Präsident im Weißen Haus. Und der schreckte in seiner ersten Amtszeit nicht davor zurück, mit dem Bruch von Artikel 5, dem Versprechen gegenseitiger Verteidigung, oder gar mit dem Austritt Amerikas aus der Allianz zu drohen, wenn die Partner nicht spuren.