Der junge Palästinenser am Telefon spricht mit ruhiger Stimme, als er von der Schussverletzung erzählt, die ihn im vergangenen Jahr fast umgebracht hätte. Mitten in die Brust traf ihn die Kugel des israelischen Soldaten, als er sich in den frühen Morgenstunden auf den Weg zur Arbeit machte. In der Nacht zuvor war die israelische Armee, wie so oft, in das Flüchtlingslager in Dschenin einmarschiert, um gegen bewaffnete Militante und Terroristen vorzugehen. Warum sie auf ihn zielten, kann Adnan sich bis heute nicht erklären. „Ich bin kein Kämpfer, sie hatten keinen Grund, auf mich zu schießen“, sagt er.
Erstaunt klingt er trotzdem nicht. „Bei den Operationen der Besatzer kann es jeden treffen. Das war schon immer so, und das wird so bleiben.“ Adnan macht eine Pause, bevor er weiterspricht. „Wenn ich irgendwann von den Israelis umgebracht werde, dann kann ich das akzeptieren“, sagt er. „Aber was hier in den letzten Wochen passiert ist, ist etwas anderes. Das waren unsere Brüder, die die Waffen gegen uns erhoben haben. Palästinenser, die Palästinenser töten. Es ist eine Schande.“
Adnan, der eigentlich anders heißt, kann viel erzählen über die Gewalt, die er in den vergangenen Jahren im Flüchtlingslager von Dschenin erlebt hat. Das Camp im Norden des Westjordanlandes gilt seit jeher als Hochburg des „bewaffneten Widerstands gegen die Besatzer“; die militärischen Fraktionen der Hamas, des Palästinensischen Islamischen Jihad (PIJ) und der Fatah haben sich dort zum „Dschenin Bataillon“ zusammengetan. Zahlreiche Anschläge auf Israel wurden von Kämpfern aus dem Lager geplant und ausgeführt, die israelische Armee antwortet darauf regelmäßig mit Militäroperationen und Luftangriffen. Im September wurden während des größten Einsatzes seit der Zweiten Intifada Dutzende Bewohner des Camps getötet, auch mehrere Zivilisten.
Palästinensische Sicherheitskräfte belagerten Dschenin
Nur wenige Wochen später stand das Lager wieder unter Belagerung. Dieses Mal, wie Adnan es ausdrückt, von „den eigenen Brüdern“: Anfang Dezember begann die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) die Operation „Schutz der Heimat“ in Dschenin, um eigenen Angaben zufolge „Aufruhr und Instabilität im Westjordanland auszurotten“ und gegen Kriminelle vorzugehen. Militante Bewohner des Camps hatten zuvor Fahrzeuge der PA gestohlen und Polizisten angegriffen.
Palästinensische Sicherheitskräfte umstellten daraufhin das Lager, stellten Strom und Wasser ab, begannen, durch die engen Gassen zu patrouillieren und Bewohner zu verhaften. Nacht für Nacht kam es in den Wochen darauf zu Schusswechseln zwischen den Sicherheitskräften und bewaffneten Kämpfern. Die Zahl der Toten kletterte in die Höhe. „Es hat auch früher Auseinandersetzungen mit der PA gegeben“, sagt Adnan dazu, aber dieses Mal sei die Situation vollkommen eskaliert. „Keiner hat sich mehr auf die Straße getraut, die Kugeln flogen in alle Richtungen. Es war das pure Chaos.“
Am vergangenen Freitag einigten sich beide Seiten nach Wochen der Gewalt darauf, die Kämpfe einzustellen. Doch die Stimmung bleibt angespannt. Die israelische Armee hat in den vergangenen Tagen abermals einen großangelegten „Antiterroreinsatz“ begonnen, allein bis Mittwoch wurden dabei lokalen Angaben zufolge zehn Palästinenser getötet und mindestens 40 verletzt. Die PA und die bewaffneten Milizen werfen sich gegenseitig vor, das Friedensabkommen gebrochen zu haben. Bewaffnete Kämpfer eröffneten kurz vor dem israelischen Einmarsch das Feuer gegen palästinensische Sicherheitskräfte, die PA stockte ihre Präsenz wieder auf und positionierte rund um das Camp zahlreiche Scharfschützen. Adnan ist wütend, wenn er davon berichtet: „Diese Regierung hat sich endgültig zu einem Diener der israelischen Besatzer machen lassen“ sagt er. „Die PA will um alles in der Welt die Macht in Gaza zurück. Dafür geht sie auch über Leichen.“
Die Einschätzung des jungen Palästinensers teilen auch andere Beobachter, die den Zeitpunkt des radikalen Durchgreifens der PA für kaum zufällig halten. Seit Monaten stellt sich die Frage, wie eine zukünftige Regierung im Gazastreifen nach dem Ende des Krieges aussehen könnte. Seit der Vereinbarung zwischen Israel und der Hamas über einen Waffenstillstand in dem Küstenstreifen ist sie noch einmal drängender geworden. Die PA sei bereit, die „volle Verantwortung“ nach dem Krieg im Gazastreifen zu übernehmen, ließ Palästinenserpräsident Mahmud Abbas in seiner ersten Stellungnahme nach Verkündung des Abkommens mitteilen. „Alle nötigen Vorbereitungen“ dafür seien getroffen worden. Unter arabischen wie westlichen Staaten hat er für dieses Vorhaben zahlreiche Unterstützer. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, der vor allem vonseiten seiner extrem rechten Koalitionspartner unter Druck steht, schließt eine PA-Regierung im Gazastreifen dagegen bislang öffentlich aus.
Abbas könnte Israel beeindrucken wollen
Abbas, so die Vermutung einiger Fachleute, habe den Israelis am Beispiel Dschenin demonstrieren wollen, dass er die Lage im Westjordanland unter Kontrolle habe – und damit auch als verlässlicher Partner im Gazastreifen Verantwortung übernehmen könne. Auch Ibrahim Dalalsha, Leiter eines Thinktanks in Ramallah, hält das für plausibel: Angesichts der zahlreichen Terrorangriffe auf Israel, die von Terroristen aus dem Camp in Dschenin geplant wurden, habe die Palästinenserregierung einen zunehmend machtlosen Eindruck vermittelt.
Die PA, die seit dem Oslo-Abkommen von 1993 in Sicherheitsfragen eng mit der israelischen Seite zusammenarbeitet, habe deshalb ein Zeichen setzen wollen. „Die Autonomiebehörde leidet unter einem extremen Glaubwürdigkeitsproblem“, sagt Dalalsha. „Wenn sie nicht einmal ein paar Bewaffnete im Norden des Westjordanlandes in den Griff bekommt – wer soll ihnen dann glauben, dass sie mit der Hamas im Gazastreifen zurechtkäme?“
Dass das militärische Vorgehen in Dschenin die israelische Seite beeindruckt habe, hält Dallasha indes für wenig wahrscheinlich. Seit der Staatsgründung Israels und der Vertreibung der Palästinenser im Jahr 1948 seien die Flüchtlingslager eine „Keimzelle des Widerstands gegen die Besatzung“, sagt er. Dass die PA daran durch gewaltsame Operationen etwas ändern könne, sei eine Illusion. Noch während die palästinensischen Sicherheitskräfte und die Milizen in Dschenin am Freitag das Abkommen zur Beilegung des Konfliktes unterzeichneten, zogen in dem Flüchtlingslager jubelnde junge Männer durch die Straßen, reckten die Waffen in die Höhe und feierten den „Sieg ihrer Kämpfer“. Für Dalalsha waren die Videos, die davon im Internet kursierten, wenig überraschend. „Die Autonomiebehörde hätte noch wochenlang gegen ihre eigene Bevölkerung weiterkämpfen können“, sagt er. „Aber es war von Anfang an klar, dass sie irgendwann kapitulieren würde.“
Dem Politikanalysten zufolge liegt das nicht nur daran, dass die palästinensischen Sicherheitskräfte im Vergleich zur israelischen Armee militärisch nur wenig zu bieten haben. Der erbitterte Widerstand in Dschenin sei auch Ausdruck davon, wie schlecht es um die PA insgesamt stehe. „Die Umfragewerte für die Autonomieregierung sind so schlecht wie nie zuvor“, sagt Dalalsha. Der Hass auf Mahmud Abbas sei allgegenwärtig. Seit 2006 hat es im Westjordanland keine Wahlen mehr gegeben, allein deshalb sei ein Großteil der jungen Männer und Frauen von ihrem Präsidenten vollkommen entkoppelt. „70 Prozent der Bevölkerung im Westjordanland sind unter 40 Jahre alt“, gibt Dalalsha zu bedenken. „Die meisten von ihnen haben von einer Wahl noch nie etwas gehört.“
Hinzu komme das grundsätzliche Unbehagen gegen die Sicherheitskooperation der PA mit Israel, verbunden mit Korruption und Vetternwirtschaft. Die Autonomiebehörde habe es von Beginn an versäumt, die Zusammenarbeit mit der israelischen Regierung so zu gestalten, dass auch die Bevölkerung davon profitiere. Dalalsha nennt ein Beispiel: Während die Bewegungsfreiheit der meisten Palästinenser im Westjordanland immer stärker eingeschränkt werde, gebe es für die Sicherheitskräfte der PA zahlreiche Erleichterungen. „Aus der Sicht der meisten Menschen hat von der Kooperation mit den Israelis allein ihre autokratische Regierung Vorteile“, sagt er. Adnan, der junge Palästinenser aus Dschenin, kann das nur bestätigen: „Es gibt nichts, was diese Regierung für uns tut“, beklagt er. „Sie schützt uns nicht vor den israelischen Soldaten, sie schützt uns nicht vor den Übergriffen radikaler Siedler. Und jetzt hat sie auch noch damit begonnen, direkt gegen uns zu kämpfen.“
„Diese Regierung besteht nur aus Verbrechern“
Hört man sich in anderen Teilen des Westjordanlandes um, ist die Stimmung ähnlich. In Ramallah berichtet ein Restaurantbesitzer von vermeintlichen Pro-Abbas-Demonstrationen, für die sich PA-Polizisten als Zivilisten verkleideten. Zwei junge Männer, die bei der Autonomiebehörde angestellt sind, erzählen von Repressalien wegen regierungskritischer Posts auf Facebook. „Die israelischen Gefängnisse sind ein Albtraum“, sagt einer von ihnen und lacht bitter. „Aber die palästinensischen sind noch viel schlimmer.“
Auf dem Handy zeigt er zwei Videos, die bei der Militäroperation in Dschenin entstanden sein sollen und vielfach in den sozialen Medien geteilt wurden. Auf einem ist ein junger Palästinenser mit verbundenen Händen zu sehen, der von PA-Polizisten in eine Mülltonne gezwängt wird. Das andere zeigt mehrere junge Männer in Haft, die – offenbar unter Zwang – „Abu Mazen“ huldigen, wie Mahmud Abbas auch genannt wird. „Es gibt überhaupt keine Kontrollmechanismen, diese Regierung besteht nur aus Verbrechern“, sagt der junge Mann und spuckt auf den Boden. Ein Taxifahrer formuliert es noch drastischer. „Man muss nur nach Syrien schauen, um zu sehen, wo das hinführt“, sagt er. „Unser Präsident ist genauso schlimm wie Baschar al-Assad.“
„Die Hamas wird in Gaza niemals verschwinden“
Politikanalyst Dalalsha vermutet, dass die Verachtung der eigenen Bevölkerung für die PA durch das jüngst geschlossene Gazaabkommen noch einmal befördert werden dürfte. Die Autonomieregierung hatte den Terrorüberfall der Hamas vom 7. Oktober 2023 immer wieder als schädlich für den palästinensischen Freiheitskampf bezeichnet, da er der israelischen Seite eine Rechtfertigung für den Krieg und die Zehntausenden Toten im Gazastreifen geliefert habe. Viele Bewohner des Westjordanlandes sehen das indes anders. „Natürlich wird die Hamas nun als Sieger gefeiert“, sagt Dalalsha. In den Augen vieler Palästinenser hätten sie das geschafft, was die PA mit ihrer Strategie nie erreicht habe: Die ganze Welt habe die Terrororganisation als Verhandlungspartner akzeptiert und ernstgenommen. Und letztlich habe sie ihre Forderung nach der Freilassung Hunderter palästinensischer Gefangener durchgesetzt. „Die Menschen sind nach mehr als einem Jahr Krieg extrem emotional“, sagt Dalalsha. „Würde zum jetzigen Zeitpunkt im Westjordanland gewählt werden, würde die Hamas mit Sicherheit gewinnen.“
Was die Zukunft angeht, ist sich der Politikanalyst weniger sicher. Bei gut vorbereiteten Wahlen mit mehreren Kandidaten könne sich das Blatt in ein, zwei Jahren schon längst wieder gewendet haben. „So fern das im Moment auch erscheinen mag – eine reformierte PA mit neuen Gesichtern könnte durchaus ein Erfolgsmodell für das Westjordanland sein“, sagt er. Ähnliches gelte für eine zukünftige palästinensische Führung in Gaza. „Die Hamas selbst hat momentan gar kein Interesse daran, die nächste Regierung im Gazastreifen zu stellen“, sagt Dalalsha. Nach den vergangenen Monaten sei sie viel zu geschwächt, um die immense Herausforderung des Wiederaufbaus anzugehen.
Illusionen sollte man sich aus Sicht des Politikanalysten aber nicht machen. „Die Hamas wird in Gaza niemals verschwinden“, sagt er. Sollte die PA tatsächlich in den Küstenstreifen zurückkehren, dann werde sie ohne ein beträchtliches Mitspracherecht der Terrororganisation nicht überleben können. Dass sowohl internationale Partner wie die Vereinigten Staaten als auch Israel dies bislang kategorisch ablehnen, ist für Dalalsha noch lange kein Ausschlusskriterium. „Insgeheim weiß auch jetzt jeder, dass die Hilfslieferungen für den Gazastreifen nur in Kooperation mit der Hamas verteilt werden können,“ sagt er. „Was öffentlich geäußert wird, ist das eine. Aber hinter den Kulissen sieht es meist anders aus.“