Mit dem Deutschlandticket hat die Ampelregierung für den öffentlichen Nahverkehr „die größte Tarifrevolution“ eingeläutet, so schreibt es der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV). Nur: Das Deutschlandticket korrespondiere nicht mit dem Angebot, sagt VDV-Vizepräsident Knut Ringat bei einem Redaktionsgespräch mit der F.A.Z. Zwar hätten die Fahrgastzahlen durch das neue Ticket deutlich zugenommen. Aber die Betriebsqualität im öffentlichen Nahverkehr sei vielerorts schlecht. Die Gründe dafür sieht Ringat in der finanziellen Ausstattung, dem Personalmangel und den vielen Baustellen. Auch der Tarifdschungel ist vielerorts nicht gelichtet.
Um dem Deutschlandticket ein Deutschlandangebot gegenüberstellen zu können, fordern die Vertreter der öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) vor der Bundestagswahl größere Verlässlichkeit vom Bund. Dies gelte zum einen für das Deutschlandticket, dessen Finanzierung über das Wahljahr hinaus nicht gesichert ist, zum anderen müsse der Anstieg der Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur verstetigt werden. „Wir müssen kooperativer und somit effizienter arbeiten, dann können wir auch von der Politik eine Verstetigung der Mittel erwarten“, sagt VDV-Hauptgeschäftsführer Oliver Wolff.
Zur Finanzierung des Deutschlandtickets für das Jahr 2025 wurde erst im Dezember von der rot-grünen Minderheitsregierung eine Einigung mit der Union gefunden. Wie es danach mit dem deutschlandweit gültigen ÖPNV-Ticket weitergeht, ist unklar. Für Ringat, der auch der Geschäftsführung des Rhein-Main-Verkehrsverbund (RMV) vorsteht, bedeutet das Planungsunsicherheit, die der Weiterentwicklung des ÖPNV entgegensteht. Er sagt, sein Bundesland Hessen würde ohne die Finanzierung des Bundes seine Förderung des Tickets womöglich ebenso einstellen. Daher könne er nicht das RMV-Angebot systematisch an den neuen Tarif anpassen, die Unsicherheit sei zu groß.
„In Deutschland gibt es zur Verkehrswende keine Alterative“
Der Vorstandssprecher des Verkehrsverbunds Rhein-Ruhr (VRR), Oliver Wittke, lobt die eingeleitete Generalsanierung der Bahn. Die kontinuierliche Sanierung und der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur müssten aber dauerhaft gesichert werden. Das sei wichtig für die Investitionssicherheit und für Unternehmen, die auf eine funktionierende Verkehrsinfrastruktur angewiesen seien. Den Sanierungsbedarf im ÖPNV beziffert der VDV bis 2030 auf 64 Milliarden Euro. Um den Bedarf bei Haltestellen, Gleisen und Busspuren zu decken, müssten jährliche Bundesmittel von einer auf drei Milliarden Euro angehoben werden. Der Verband fordert zudem einen Infrastrukturfonds, um verlässlich mit den nötigen Mitteln planen zu können.
Dass die verkehrspolitisch erwünschte Verlagerung des Verkehrs zum öffentlichen Nah- und Fernverkehr in Deutschland nach der Wahl infrage gestellt werden könnte, erwarten die VDV-Vertreter nicht. Auch wenn in den USA unter Trump öffentliche Maßnahmen zum Klimaschutz zurückgestellt werden, ist sich Wittke sicher: „In Deutschland gibt es zur Verkehrswende keine Alterative.“ Der Verkehr werde in den Großstädten weiter zunehmen. Das Straßennetz in den Innenstädten sei jedoch kaum erweiterbar, der Zuwachs müsse daher durch den öffentlichen Nahverkehr geleistet werden. Es könne aber sein, dass bei der Umsetzung „ein Gang zurückgeschaltet“ werde.
Für Wittke macht die zunehmende Bedeutung des ÖPNV die Nahverkehrsunternehmen zu attraktiven Arbeitgebern. Jungen Leuten sage er, „wenn ihr etwas Krisensicheres wollt, kommt zum ÖPNV“. Genug neues Personal zu werben wird für die Branche in den kommenden Jahren eine zentrale Aufgabe sein. Laut VDV-Umfrage erwarten die Mitgliedsunternehmen im Schnitt, dass 23 Prozent ihres Fahrdienstpersonals bis 2030 in den Ruhestand gehen.
Nicht alle passen die Tarife an
Den schon jetzt drängenden Personalmangel geben die VDV-Vertreter als einen der Gründe an, warum zuletzt in vielen Verbänden das Angebot reduziert wurde. Mehr als die Hälfte der VDV-Unternehmen hat 2023 oder 2024 ihr Angebot eingeschränkt. Das Angebot auf der Schiene ging im Jahr 2024 um etwa sechs Prozent zurück. Für den Nahverkehrsverbund Rhein-Ruhr erklärt dessen Vorstandssprecher Wittke, das Angebot sei zuvorderst auf engen Taktungen und auf Parallelstrecken ausgedünnt worden. Dadurch komme es weniger häufig zu Ausfällen wegen Personalmangels, Bahn und Busse führen zuverlässiger.
Potential, das eigene Angebot attraktiver und kostengünstiger zu machen, sehen Ringat, Wittke und Wolff durch den digitalen Umbau der Verkehrsunternehmen. Das gelte sowohl für den Vertrieb, den Verkauf der Tickets über Apps, als auch für die Hintergrundsysteme der Unternehmen. Ringat rechnet die Vorteile eines vereinheitlichten Hintergrundsystems für die Branche vor: „Das könnte zwischen 50 und 100 Millionen Euro jährliche Kosteneinsparungen bewirken.“ Den eigenen Betrieb zu modernisieren, da sind sich die VDV-Vertreter einig, sei wichtig für die Verhandlungen mit der neuen Bundesregierung.
Wenn die ÖPNV-Unternehmen Deutschlands darüber hinaus einheitliche digitale Systeme nutzen würden, könnte dadurch mittelfristig ebenso deutlich effizienter gearbeitet werden. Ein Versuch dazu: Die App „Mobility Inside“ sollte etwa die 154 ÖPNV-Apps in Deutschland durch eine ersetzen. Die Verbände wurden sich aber nicht einig, die Initiative ist bereits 2023 gescheitert. Eine weitere Baustelle ist die Straffung der Tarifsysteme. Wittke berichtet, im Ruhrgebiet habe es bis vor Kurzem 650 verschiedene Tarifoptionen gegeben. Diese seien nun auf 150 reduziert worden.
Eine ganze Reihe spezialisierter Zeitfahrkarten wurde eingestellt, manche lagen im Preis deutlich über dem Deutschlandticket, das im laufenden Jahr 58 Euro im Monat kostet. Das neue Tarifsystem sei um das Deutschlandticket als der einfachsten und umfassendsten Zeitfahrkarte organisiert. Im Rhein-Main-Verkehrsverbund würde er gern ebenso verfahren, sagt Ringat. Aber er sei sich mit seinem Aufsichtsrat einig, dass wegen der unsicheren Finanzierung des Deutschlandtickets dieser Schritt zu riskant wäre. Wie wichtig attraktive Tarife für den Nahverkehr sind, zeigt wiederum das Deutschlandticket. Nach Daten des VDV nutzen bei acht Prozent der Fahrten die Kunden wegen des neuen Tickets den ÖPNV statt des Autos. Wird es dauerhaft gesichert, könnte diese Zahl noch steigen, hoffen die ÖPNV-Vertreter. Wachstumspotential sehen sie insbesondere bei den Jobtickets.