Ein Bundeskanzler kann sich nicht wie Viktor Orbán benehmen

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In der Tat sind autoritäre Regime auf dem Vormarsch. In Russland herrschen Nationalisten rücksichtslos. In den USA hat sich mit den Wahlen eine autoritäre Gesinnung breitgemacht. Es gibt einen globalen Shift zu vermeintlich „starken Führern“ und eine Verächtlichmachung von liberaler Demokratie. So lese ich unsere Zeit. Also: gegenhalten. Die Antwort auf Donald Trump kann jetzt nur ein starkes Europa sein – unsere Antwort auf „America First“ lautet „Europe United“.

Aber in Wahrheit gibt es doch in Europa auseinanderlaufende Tendenzen. Eine wachsende Zahl von Regierungen, von Italien über Ungarn bis zu den Niederlanden, sympathisiert mittlerweile mit Trumps Gedankenwelt. Wie soll das also gehen: ein starkes Europa?

Ich würde da differenzieren. Auch die Italiener wissen: Wenn sich Europa spalten lässt, gerade im Blick auf Russland, dann hat es verloren. Natürlich ist die Arbeit für ein geschlossenes Europa anstrengend. Aber diese Mühe müssen wir auf uns nehmen. Ein deutscher Bundeskanzler muss in Europa Brücken bauen, Mehrheiten erarbeiten – ich bin dazu bereit. Angesichts der massiven geopolitischen Verschiebungen muss Europa sich endlich Ziele setzen, mit denen es weltpolitikfähig wird. Wir brauchen zum Beispiel einen gemeinsamen Fonds für Verteidigungs­beschaffung. Wir müssen uns gemeinsam der neuen Sicherheitslage stellen.

Also mehr Schulden aufnehmen für die Sicherheit?

Zentral ist: Was ist nötig, um Sicherheit, Frieden, Freiheit in Europa, in Deutschland zu schützen? Das steht ja über allem. Die Bedrohungslage ist real, wir sehen jetzt schon eine hybride Kriegsführung. Wir müssen unsere Armeen in einen verteidigungsfähigen Zustand versetzen, damit wir sie niemals einsetzen müssen. Deutschland und Europa müssen sich besser rundum schützen – von Verteidigung über Cybersicherheit bis Zivilschutz. Deshalb kommen wir nicht umhin, auch Kredite für die Sicherheit aufzunehmen. Das gebietet das Volumen der Anstrengungen, die jetzt notwendig sind. Da drücken sich allerdings alle herum, vor allem Friedrich Merz. Es ist ja vielsagend, wenn Merz sagt: drei bis 3,5 Prozent für die Verteidigung sind eigentlich richtig, aber das können wir nicht bezahlen, und deswegen versuchen wir erst mal zwei Prozent hinzubekommen. Im Grunde sagt er: Da ist ein Problem, und dafür, dass ich es nicht löse, möchte ich gern gewählt werden.

Sie plädieren mit Blick auf Trumps Amerika für „Gegenhalten“. Können wir uns Fundamentalopposition gegenüber einem Land leisten, von dessen Sicherheitsgarantie wir abhängiger sind als je zuvor?

Von Fundamentalopposition ist überhaupt nicht die Rede. Europa und Amerika müssen Wege finden zusammenzubleiben. Beide Seiten profitieren, wenn wir zusammenstehen, wirtschaftlich wie sicherheitspolitisch. Zölle, die vom US-Präsidenten angedroht wurden, machen Produkte teurer, die Inflation steigt. Das ist schlecht für beide Volkswirtschaften, und das muss man den Amerikanern auch immer wieder bewusst machen.

Amerikaner lassen sich aber ungern etwas erklären, schon gar nicht von schwächelnden Deutschen.

Wir haben das nötige Selbstbewusstsein. Wir sind in Europa vorbereitet auf ein Quid pro quo. Amerika pokert da hoch. Donald Trump ist auch deshalb Präsident geworden, weil die Inflation hoch war. Wenn er sich mit all seinen Handelspartnern anlegt, kann das auch schiefgehen. Noch mal: Wir werden uns nicht aus Opportunismus kleinmachen, sondern unsere Interessen selbstbewusst vertreten.

Wirklich selbstbewusst wirken Europa und Deutschland gerade nicht.

Als Handelsnation ist Deutschland besonders verwundbar. Andererseits müssen auch die Amerikaner ihre Güter verkaufen. Auch große Techkonzerne sind darauf angewiesen, dass der europäische Markt offenbleibt. Nur mit Ölförderung werden sie ihre Wirtschaft nicht am Leben halten können. Trotzdem muss man festhalten: Die großen Innovationen kommen schon seit einiger Zeit aus Amerika oder aus China, nicht aus Europa. Das darf so nicht weitergehen. Die Bummeligkeit und die Hybris der von der Uni­on geführten Regierungen, dass man sich auf dem Status quo ausruht und schon deshalb für uns alles gut gehen wird, schaden uns. Wir können uns eine Rückkehr zum Groko-Modus nicht mehr leisten.

SonntagsfrageWie stehen die Umfragen vor der Bundestagswahl?

In Europa wächst der Zweifel am nu­klearen Schutz durch Amerika. Müssen wir uns unabhängiger machen? Es gibt seit Jahren das Angebot der Atommacht Frankreich, über gemeinsame Abschreckung zu sprechen.

Ich bin da skeptisch. Wir dürfen nicht die NATO von innen heraus aushöhlen. Das aber würde passieren, wenn man jetzt bilateral mit den Franzosen einen Extraweg ginge. Deswegen setze ich da auf den atomaren Schutzschirm der NATO.

Blicken wir auf Ihre Bilanz. Sie sind seit drei Jahren Wirtschaftsminister, und heute ist Deutschland das Schlusslicht der OECD. Warum sollten die Deutschen Ihnen das Land jetzt wieder anvertrauen?

Wir haben die wahrscheinlich schlimmste Wirtschaftskrise abgewehrt, die das Land hätte treffen können. 2022 hieß es, die deutsche Wirtschaft würde um 2,5 bis sechs Prozent abschmieren, wenn Putin das Gas abstellt. Das hat diese Regierung, ganz besonders das Team in meinem Wirtschaftsministerium, ver­hindert. Ich habe von Beginn meiner Amtszeit an eine strategische Neuaufstellung eingeleitet, eine Vorsorgepolitik. Nur deshalb konnten wir eine Gasmangellage verhindern. Und ich sage es noch mal sehr deutlich, weil es gern falsch erzählt wird: Putin hat das Gas abgestellt, nicht Deutschland. Ich habe – anders als Friedrich Merz – dem Impuls widerstanden, ein Gasembargo gegen Russland zu verhängen. Hätte ich auf Herrn Merz gehört, wäre es zu einer Katastrophe gekommen. Wohnungen wären womöglich kalt geblieben, Unternehmen hätten aufgehört zu produzieren. Aber die strukturellen Probleme unserer Wirtschaft, die über Jahre gewachsen sind, sind enorm. Schon seit 2018 haben wir faktisch kein Wachstum mehr. Und es wäre richtig gewesen, gleich nach Kriegsbeginn ein wirklich großes Konjunkturpaket auf­zu­legen. Wir müssen jetzt mit voller Kraft investieren, Investitionen anreizen, Innovationen im großen Stil pushen. Ich werbe um das Mandat, die Medizin nicht nur in halben Dosen verabreichen zu können, sondern ganz.

Aber die Realität ist eine andere. Viele Unternehmen gehen ins Ausland. Sie klagen über zu hohe Steuern und Arbeitskosten, zu viel Bürokratie und vor allem zu hohe Energiekosten. Hat Ihre Energiewende dem Standort vielleicht eher geschadet?

Nein, die Energiewende nützt ihm. Es gibt keinen Bereich in der Bundesregierung, in dem Verfahren so stark beschleunigt wurden und Bürokratie so effizient abgebaut wurde wie bei den Stromnetzen und den Erneuerbaren. Das Tempo hat sich massiv erhöht, auch beim Netzausbau. Zu den Preisen: Die Preiskrise kam durch Putins Angriff auf unsere Energieversorgung. Gas war unfassbar teuer, und das wirkt nach. Es sind die fossilen Energien, die die hohen Preise setzen. Die Erneuerbaren dage­gen bringen die Preise runter – für viele Betriebe sind sie wieder auf Vorkrisenniveau. Wir als Regierung bringen also die Preise runter, und der Lastesel dafür sind die erneuerbaren Energien. Reicht das? Noch nicht. Denn im internationalen Wettbewerb sind die Preise noch immer zu hoch. Deshalb habe ich für einen Industriestrompreis gekämpft, war damit aber etwas allein in der Regierung. Deshalb kämpfe ich jetzt darum, dass der Staat die Netzentgelte übernimmt und die Stromsteuer faktisch abgeschafft wird.

„Es gibt einen globalen Shift zu vermeintlich „starken Führern“ : Robert Habeck
„Es gibt einen globalen Shift zu vermeintlich „starken Führern“ : Robert HabeckAndreas Pein

Nach der Tat von Aschaffenburg fordert Friedrich Merz einen sofortigen Einreisestopp für Asylbewerber. Würden Sie da mitziehen?

Ein kleiner Junge mit marokkanischen Wurzeln ist tot. Ein Vater, der den Jungen schützen wollte, ist tot. Ein kleines syrisches Mädchen ist schwer verletzt. Ein älterer Deutscher, der helfen wollte, ist schwer verletzt. Das ist die Tat eines brutalen Gewalttäters gegen Menschen, die hier in Deutschland zu Hause waren und sind. Sie ist nicht zu rechtfertigen. Ich bin für konkrete Vorschläge, die die Sicherheit des Landes erhöhen, offen, aber wir müssen uns an unsere Verfassung und an das Europarecht halten und dürfen Europa nicht spalten. So sehr ich selbst diesen Zorn verspüre. Deutschland kann sich nicht wie Ungarn benehmen, und ein Bundeskanzler nicht wie Viktor Orbán. Man sollte mit kühlem Kopf agieren. Und wir dürfen nicht glauben, dass es das eine Allheilmittel gibt. Wer das verspricht, macht den Leuten etwas vor.

Das heißt, es gibt für die Grünen keine Lehren zu ziehen?

Eine selbstkritische Aufarbeitung bei den Behörden im Bund – im Innenministerium und im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – und in Bayern ist dringend notwendig. Der Mann aus Afghanistan war ausreisepflichtig und hätte gar nicht mehr in Deutschland sein dürfen. Warum haben die Verfahren beim BAMF zu lange gedauert, sodass er nicht mehr nach Bulgarien überstellt wurde, obwohl er dort zuerst eingereist war? Es war bekannt, dass der Mann psychische Probleme hatte und bereits gewalttätig geworden war. Wieso wurde seine Gefährlichkeit von den bayerischen Sicherheitsbehörden nicht richtig eingeschätzt? Es ist ja mit Solingen, Magdeburg, Mannheim nicht der erste Fall. Es muss schonungslos geklärt werden, wo die Fehler lagen und welche Konsequenzen zu ziehen sind. Die Menschen, die hier leben, ob mit oder ohne Migrationshintergrund, brauchen Schutz vor solchen Gewalttätern. Recht muss durchgesetzt werden – in Deutschland, aber auch gegenüber unseren eu­ro­päischen Partnern.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.


Mit Merz und seiner Idee einer Zurückweisung an den Grenzen können Sie nichts anfangen?

Wir müssen umfassender an die Sachen rangehen: Alle Asylverfahren beschleunigen, keine Dublin-Entscheidung darf länger als einen Monat dauern. Wir müssen dafür sorgen, dass unsere europäischen Partner die Menschen zurücknehmen, für deren Asylverfahren sie zuständig sind. Hier muss geltendes eu­ropäisches Recht flächendeckend durchgesetzt werden. Ich würde Migrationsabkommen zur Chefsache machen, damit wir Menschen ohne Aufenthaltsrecht zügig in ihre Herkunftsstaaten zurückführen können. Behörden müssen intensiver kooperieren, sie müssen Da­ten zu Personen austauschen, von denen Gefahren ausgehen. Wir müssen die Sicherheitsbehörden stärken, damit Gefährder lückenlos überwacht und die ausländischen Gefährder abgeschoben werden. Nur wenn wir Recht durchsetzen, können wir die schützen, die wirklich unseren Schutz brauchen.

Das wird Merz nicht reichen für eine Koalition. Aber in der Ukrainepolitik könnten Sie schon jetzt zusammenarbeiten. Eine rechnerische Mehrheit im Bundestag will die Freigabe von drei Milliarden Euro Militärhilfe. Warum stimmen Sie nicht mit Liberalen und Union und geben der Ukraine, was sie dringend braucht?

Noch sind wir mit der SPD in einer Regierung, und eine Regierung stimmt nicht gegeneinander ab. Wenn wir das täten, hätte Deutschland seine nächste Regierungskrise. Wir müssen uns also innerhalb der Regierung einigen. Der Finanzminister muss eine solche überplanmäßige Ausgabe freigeben. Das will der Kanzler nicht, obwohl sein Vertei­digungsminister dafür ist. Der Weg ist daher, den Bundeskanzler zu überzeugen.

Habeck zu Trumps Amerika: „Wir sind in Europa vorbereitet auf ein Quid pro quo.“
Habeck zu Trumps Amerika: „Wir sind in Europa vorbereitet auf ein Quid pro quo.“Andreas Pein

Der Kanzler behauptet nun, wer sage, dass so etwas auch ohne Lockerung der Schuldenbremse gehe, be­lüge das Volk. Das betrifft Außen­ministerin Annalena Baerbock und Verteidigungsminister Boris Pistorius. Starker Tobak, oder?

Zu starker Tobak, wenn ich das sagen darf. Die SPD hat ja erst vor Kurzem den Abbau der kalten Progression und die Erhöhung des Kindergeldes für 2025 beschlossen, sie hat sich – wie ich auch – für die Senkung der Netzent­gelte aus­gesprochen. Das alles kostet auch Geld. Nur für die Ukraine agiert sie anders. Da wird mit zweierlei Maß gemessen.

Führt Scholz die Leute mit seinem Lügenvorwurf selbst in die Irre?

Ich stimme dem Bundeskanzler in einem Punkt zu: Wir müssen perspektivisch die Schuldenregel verändern.

Sie weichen aus, vom Konkreten ins Allgemeine.

Und im Konkreten gibt es eben gerade keine Mehrheiten für das, was der Kanzler fordert. Niemand wird vor der Bundestagswahl die Schuldenbremse reformieren. Leider. Deswegen sollte man jetzt pragmatisch handeln und der Ukraine die nötigen drei Milliarden geben. Sie braucht beispielsweise Luftverteidigung, damit Menschenleben vor den russischen Angriffen geschützt werden können.

Die Grünen haben im Augenblick eine Affäre um gefälschte Anschuldigungen gegenden Abgeordneten Gelbhaar wegen angeblicher sexueller Übergriffe am Hals. Kritiker sagen: Hier zeigen sich die Folgen einer woken Kultur, die auf jede Beschuldigung aufspringt und den Grundsatz „im Zweifel für den Angeklagten“ missachtet.

Erst einmal sind die Falschbehauptungen, die da mit krimineller Energie in die Welt gesetzt wurden, ein Skandal, der hart geahndet werden muss. Dass das Verfahren unserer Partei zum Umgang mit solchen Situationen eine Anfälligkeit für solchen Missbrauch hatte, ist ausgesprochen worden. Deshalb wird es neu aufgesetzt.

Wäre es nicht an der Zeit, sich bei Gelbhaar zu entschuldigen? Gerade in einer Partei, die für sich beansprucht, eine andere, bessere poli­tische Kultur zu verkörpern?

Ich glaube nicht, dass Grüne bessere Menschen sind, und ich sage auch nicht, dass die Partei auf einer höheren mora­lischen Warte agiert. Richtig ist aber, dass wir versuchen, Selbstbestimmungsformen und Schutzräume vor Übergriffen zu achten. Und das ist mit krimineller Energie ausgenutzt worden.