Wie Gequassel auf X und Facebook zu Macht wird

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Als sie 18 Jahre alt wurde, nahm Twitter seine Arbeit auf. Es wurde zum Instrument der Politik ihrer ersten Partei, der Piraten, deren Geschäftsführerin sie zeitweise war. Der erste Tweet, Jack Dorseys „just setting up my twttr“, ist so etwas wie Neil Armstrongs „One small step for man“ des Internetzeitalters. Und der Vergleich ist schon deshalb nicht weit hergeholt, weil der heutige Eigentümer Elon Musk in sich die Leidenschaft für Digitales und den Orbit vereint – und die Plattform als Mittel nutzt, seine Ziele mit politischem Druck zu erreichen. Und das wiederum ist die Ursache dafür, dass Weisband 18 Jahre später die Flucht aus dem sozialen Medium angetreten hat. Nach Anfeindungen und Bedrohungen, die ihresgleichen suchen.

Illustration Thomas Fuchs

„Es ist die Geschichte meines Lebens“, sagt Marina Weisband. Und damit meint sie, wie ein Ort des herrschaftsfreien Diskurses eine hohe politische Relevanz bekam, eine Kultur prägte und dann zum Machtinstrument des reichsten Mannes der Welt wurde. „Es war eine Offenbarung. Ich habe es geliebt“, sagt sie. Ein Piratenpartei-Medium sei Twitter gewesen, basisdemokratisch, schnell, frech. Wurde sie zu Fernsehtalkshows eingeladen, fragte sie den digitalen Schwarm ihrer Follower, was gute Argumente zu Themen seien, in denen sie sich nicht auskannte. Eine Viertelmillion Follower lasen bald, was Afelia, wie ihr Twitterhandle lautete, von sich gab.

Die eigene Sprache der Digital Natives

Es war die erste Generation der Digital Natives, die aus dem Internet lernten und Risiken dieser Welt debattierten, lange bevor sie zum Gegenstand etablierter Parteien wurden. „Leute bereicherten mich und stützten mich. Piraten begriffen Demokratie als Netzwerk. Der Komplexität der Probleme liegt ihre Lösung zugrunde. Das finde ich heute in keiner Partei mehr“, sagt sie. Nach ihrem Ausstieg bei den Piraten 2015 trat sie drei Jahre später bei den Grünen ein. Weitere sechs Jahre später war für sie Schluss bei X, wie Musk die Plattform nach seiner Übernahme umbenannt hat. „Der Trennungsschmerz hat einen Riss in meinem Leben gemacht“, sagt Weisband.

Diese Geschichte spielt im Internet. Twitter oder heute X, auch Mark Zuckerbergs Plattformen Facebook und Threads sind virtuelle Räume ohne äußeres Umfeld. Was zählt, ist der Inhalt, der etwa auf X in den früher 140, heute 280 Zeichen eines Postings oder früher Tweets verbreitet wird. Die Interaktion, die für jeden sichtbar war, bis Musk die Funktion einschränkte, Reaktionen nachzuvollziehen. Auch Zuckerberg steht durch seine kurz vor Amtsbeginn des neuen US-Präsidenten Donald Trump bekannt gewordene Entscheidung, auf Faktenchecks zu verzichten, im Scheinwerferlicht.

Im Präsidentschaftswahlkampf bildeten Musk und Trump, deren Persönlichkeitsstrukturen viele Wegbegleiter als narzisstisch beschreiben, ein Duo aus zwei libertär eingestellten Unternehmern, denen Allmachtsansprüche nachgesagt werden. Frühzeitig haben sie erkannt, wie sich über soziale Medien Stimmungen prägen lassen. Für Trump waren Bullshit-Äußerungen teilweise ohne Bezug zur Wirklichkeit auf sozialen Medien schon ein Erfolgsfaktor seiner ersten Präsidentschaft von 2017 an. Musk hat sich zum Verstärker libertärer bis rechtsextremer Accounts gemacht und so dazu beigetragen, die Stimmung in den USA zugunsten Trumps zu beeinflussen. Soziale Medien sind zu einem realen Machtfaktor geworden. Deshalb erzählen wir hier die Geschichte dreier Twitter-Nerds, um eine Idee zu bekommen, wohin wir uns mit den Netzwerken bewegen könnten.

Spaltung wird in diesem Raum sichtbarer

Marina Weisband, heute 37 Jahre alt, glaubt nicht, dass Diskurse heute gespaltener sind als früher. Nur würden abweichende Positionen schneller sichtbar. Früher habe ein Comedian Witze über Behinderte machen können, ohne dass widersprochen wurde. Heute müsse er am kommenden Tag einen Post auf einer Plattform befürchten, der viral gehe. Gleichzeitig habe es nie zuvor eine Zeit gegeben, in der eine jugendliche Punkerin einem Boomer Geschlechtsidentitäten erklärt habe. Twitter sei für sie Arbeitswerkzeug gewesen, um Gedanken und Positionen festzuklopfen.

Doch seit einigen Monaten ist sie weg, weil die Plattform für sie nicht mehr ist, was sie früher war. Weil Musk sie zu einem Tummelort der Intoleranten gemacht habe. Weisband beobachtet das jetzt außerhalb ihres einstigen Lieblingsmediums und hat eine Heimat auf der von Twitter-Mitgründer Dorsey und der Softwareentwicklerin Jay Graber lancierten Plattform Bluesky gefunden und dort inzwischen auch schon wieder fast 60.000 Follower. „Liebe ist ein Verb“, postete sie in der Nacht auf Donnerstag. 31 Antworten, 35 Reposts, 446 Likes.

Im Frühjahr 2022 beschäftigte Multimilliardär Musk, der einzige Mensch auf der Welt, der gleich eine Handvoll Unternehmen mit einem Wert von mehr als einer Milliarde Dollar aufgebaut hat, die Weltöffentlichkeit über Wochen, als er dazu ansetzte, Twitter zu kaufen. Den Kapitalmärkten erschien sein Vorgehen erratisch. Er bezahlte schließlich einen als zu hoch eingeschätzten Preis von 44 Milliarden Dollar, entließ die Hälfte der Mitarbeiter und schaffte bestimmte technische Features ab.

Musk wird zum Amplifier extremer Meinungen

Wenn man indes seine wachsende Deutungsmacht zugrunde legt, scheint die Akquisition lukrativ gewesen zu sein. Er trug zu Trumps Wahlsieg bei, machte Mini-Accounts aus dem rechtsextremen Milieu stark und verschaffte ihnen durch seine Reichweite von zuletzt 213 Millionen Followern Gehör. Medienwissenschaftler haben ihn „Amplifier“, Verstärker radikaler Positionen, genannt.

Posts der rechtsextremen deutschen Aktivistin Naomi Seibt hat er mehrfach geteilt und kommentiert. Sie gilt als die Person, die ihn für die deutsche AfD einnahm. Zwischen Weihnachten und Silvester löste Musk eine Mediendebatte aus, als er in einem Post schrieb, nur die AfD könne Deutschland „retten“, und in einem Meinungsbeitrag in der „Welt am Sonntag“ diese Auffassung begründete. Viele sehen spätestens mit dem Amtsantritt seines Verbündeten Trump in dieser Woche den Moment gekommen, um X zu verlassen. X-odus ist zum Schlagwort geworden, seit Institutionen wie die Bundeswehr, das Bundesverteidigungsministerium und Sportvereine die Plattform hinter sich gelassen haben.

Die ehemalige Grünen-Chefin Ricarda Lang, mit fast 180.000 Followern ein Star auf X und Weisbands Parteifreundin, hält dagegen: „Ich verstehe jeden, der keinen Bock mehr auf X hat und sich das, was hier abgeht, privat nicht mehr geben will. Aber ich halte es für einen Fehler, dass sich immer mehr Institutionen und Politiker hier abmelden. Nichts wird besser, wenn wir uns in unsere Bubble zurückziehen“, schrieb sie.

Katharina Nocun erklärt die Fake News von Verschwörungstheoretikern

Eine ganz andere Auffassung vertritt Katharina Nocun. Wenn man wissen will, wie soziale Netzwerke funktionieren, ist die 38 Jahre alte Autorin, Politikwissenschaftlerin und frühere Netzaktivistin eine kenntnisreiche Gesprächspartnerin. Ihre Bücher „True Facts“ und „Fake Facts“ mit der Sozialforscherin Pia Lamberty zählen zur Standardlektüre über Verschwörungstheorien. Seit 2011 ist sie auf Twitter aktiv. In Spitzenzeiten hatte sie 90.000 Follower. Heute sind es 8000 weniger. X ist ihre Welt – auch hier muss man sagen: gewesen.

Katharina Nocun hat schon als Kind programmiert.
Katharina Nocun hat schon als Kind programmiert.dpa

„Twitter hat für mich lange Jahre einen positiven Impact gehabt“, sagt sie. In Polen geboren, kam sie mit drei nach Deutschland, sie hat schon als Kind Websites programmiert. Nach Marina Weisband war auch sie kurze Zeit Geschäftsführerin der Piratenpartei, dann trennten sich ihre Wege. Sie hat Demos und Kampagnen initiiert, unter anderem für die Bürgerbewegung Campact und den Verbraucherzentrale Bundesverband. „Asyl für Snowden“ ging auf sie zurück, wofür der weltberühmte Whistleblower ihr persönlich dankte.

Warum Twitter? Der Kurznachrichtendienst machte ihre Arbeit einfacher: „Früher war Mobilisieren für Demos ja ein unglaublich mühsames Unterfangen.“ Mit sozialen Netzwerken habe sich die Rechnung verändert. Auch rasch Debatten anzustoßen und Informationen zu sammeln war einfach. „Früher habe ich mich bei Twitter eingeloggt und war nach kurzer Zeit im Bilde über die wichtigsten Entwicklungen zum politischen Nischenthema, das mich gerade interessierte.“

Wunderpillen-Werbung statt engagierte Debatten

Und heute? „Wird mir dort Werbung für dubiose Wunderpillen gegen Corona präsentiert.“ Vor allem sei die von Algorithmen produzierte Timeline durchsetzt mit offen rechtsextremen Accounts, die sie niemals freiwillig abonnieren würde. „Eine unglaublich traurige Entwicklung.“ Sie datiert deren Beginn auf Musks Übernahme vor zweieinhalb Jahren. Vergangene Woche verklagte die US-amerikanische Börsenaufsicht den reichsten Mann der Welt wegen des Kaufs – er habe nicht rechtzeitig öffentlich gemacht, dass seine Beteiligung die Marke von fünf Prozent überschritt; damit habe er mehr Aktien günstiger kaufen können.

Dieser Aspekt ist für Musk-Kritiker wie Nocun zwar interessant, aber eigentlich hält sie solche Prüfungen für verspätet – und die Politik hätte nach ihrer Ansicht schärfer regulieren müssen. Schließlich sei klar, dass sich in Märkten mit starken Netzwerkeffekten marktbeherrschende Strukturen und Monopole einfach herausbilden könnten.

Musk nutzte X dazu, am 9. Januar ein etwa siebzigminütiges Gespräch mit der deutschen AfD-Vorsitzenden Alice Weidel zu führen. Darin gab er ihr Gelegenheit, ausführlich eine Abstiegserzählung Deutschlands unter Bundeskanzlerin Angela Merkel und der „Traffic-Light-Coalition“, die ihre Partei verbreitet, vor einer internationalen Zuhörerschaft auszuformulieren. Sie lobten sich gegenseitig für ihre Haltung zur Kernenergie und ihre Sympathie für Donald Trump. In dem Gespräch gab Weidel auch den viel beachteten Satz über Adolf Hitler zum Besten: „He was a communist.“ Wie gefährlich eine Partnerschaft mit Musk für Gleichgesinnte ist, hatte sich kurz zuvor gezeigt, als der Plattformbesitzer dem britischen Rechtspopulisten Nigel Farage seine Gunst entzog. Daumen hoch, Daumen runter – binnen Sekunden.

Desinformation besorgt das Management der Welt

Das Meinungsklima hat sich geändert. Als das World Economic Forum, eine bei Verschwörungstheoretikern im Internet verhasste Institution, in der vergangenen Woche seinen Global Risks Report 2025 veröffentlichte, waren Miss- und Desinformation hinter bewaffneten Konflikten, extremen Wetterereignissen und der Konfrontation wirtschaftlicher Blöcke die am vierthäufigsten genannte Gefahr. Unter den ernsthaften Risiken der kommenden zwei Jahre erreichten sie sogar den Spitzenplatz. Und das in einer Struktur aus privaten und öffentlich-rechtlichen Medien, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg in demokratischen Staaten als robust erwiesen hat.

Jan Schnellenbach ist erst zu Twitter gekommen, als Marina Weisband und ihre linksliberal, progressiv und grün argumentierenden Follower schon ein enges Netzwerk geknüpft hatten und Katharina Nocun ihre wichtigsten Aktionen angeleiert hatte. Das Twitter-Fieber hat ihn verhältnismäßig spät erfasst, dafür aber mit Wucht. Er habe sich eigentlich nie „in politische Debatten stürzen“ wollen, ein Kollege habe ihn regelrecht überreden müssen, ein Konto auf Twitter zu eröffnen, erinnert er sich. 2017 war das.

Mehr als 58.000 Posts zeugen seither davon, dass schon länger keine Überzeugungsarbeit mehr notwendig ist. In seinem Hauptberuf ist Schnellenbach Professor für Volkswirtschaftslehre an der Technischen Universität Cottbus-Senftenberg, nebenher bespielt er die Plattform X für seine gut 30.000 Follower – mit konservativen, wirtschaftsliberalen Positionen. Das Verhalten des libertären argentinischen Präsidenten Javier Milei? Nennt Schnellenbach „vorbildlich“. Den Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck? „Unfähig zur Präzision, auf dünnem Eis in Fachdebatten.“

Jan Schnellenbach sieht X als Ort des Experimentierens

Damit eckt er an. Schnellenbach stört das nicht – im Gegenteil. Er erreicht damit viele Follower, die lange über einen linken Mainstream auf der Plattform geklagt haben und die ihn allmählich schwinden sehen. Zwar berge die Unmittelbarkeit der Kommunikation über soziale Medien das Risiko, nicht immer vollkommen durchdachte Positionen öffentlich zu machen. „Aber ich sehe X als Forum, auf dem man auch mal mit Positionen experimentieren kann“, sagt er – und aus dem Feedback lernen.

Jan Schnellenbach bleibt der Plattform X treu.
Jan Schnellenbach bleibt der Plattform X treu.privat

Anders als in klassischen Medien agieren Nutzer auf Plattformen wie X gleichermaßen als Sender und Empfänger. „Ich kann an den Gegenargumenten auch meine eigene Position schärfen und Lücken in meiner Argumentation erkennen.“ Dazu bietet er mit seiner Vorliebe für Independent- und Punk-Kultur und seinem Running Gag, die elegische Rockband Pink Floyd als Musik zum Einschlafen zu beschimpfen, auch Anknüpfungspunkte für User, die seinen liberalen politischen Inhalten nicht immer zustimmen. Soziale Medien sind auch Orte bewusst inszenierter Dialektik.

Schnellenbachs Beispiel jedenfalls zeigt, dass die Wahrnehmung, X sei nicht mehr als kommunikatives Experimentierfeld zu nutzen, höchst subjektiv ist. Marina Weisband bot mit ihrer hohen Followerzahl und ihrem engagierten Eintreten für ihr Herkunftsland Ukraine auf Twitter viel Angriffsfläche. Dass einem irgendwann mehr, häufig von Russland gesteuerte, Trolle und Extreme aller Farbanstriche folgen, trägt nicht dazu bei, produktiv zu streiten. Für kleinere Accounts ist es aber weiterhin möglich, Musk und seinen Botschaften auszuweichen und mit ausgewählten Usern einen respektvollen Dialog zu pflegen.

Festgefahrene Debatten verhindern einen echten Austausch

Und mit seinem mittelgroßen Account sieht Jan Schnellenbach auch noch genug Potential, eigene Argumentationslücken durch den Austausch zu schließen. Seine beinahe Habermas’sche Auslegung des Diskurses ist schon allgemein, deutlicher aber auf sozialen Medien umstritten. Lassen sich Menschen im Netz wirklich durch das bessere Argument umstimmen? Zumindest er selbst berücksichtige immer wieder Argumente von Andersdenkenden, sagt er. Ob das umgekehrt auch geschehe? Skepsis. „Sehr viele Leute auf X sind schon sehr festgefahren. Die sind vor allem da, um zu senden.“ Aber es gebe „schon auch Leute“, die an ernsthaften Diskussionen interessiert seien, gerade unter Ökonomen.

Twitter war – in Deutschland allemal – nie ein Massenmedium, sondern ein Ort der Fachdebatten. Eine Plattform, die ihren Einfluss weniger über die Mobilisierung der Massen und mehr über die Agendasetzung für Entscheidungsträger aus Politik, Wirtschaft und Medien generierte. Und die einen Hort für Szenen und Strömungen aller Couleur bot: von Animefans über Juristen bis zu sicherheitspolitischen Fachkreisen. Viele davon seien heute verschwunden, sagen Kritiker der neuen Ägide unter Elon Musk.

Schnellenbach findet nicht, dass sich unter dem neuen Eigentümer bis auf den Namen der Plattform allzu viel verändert habe. Natürlich gebe es mal pöbelnde Kommentare. Aber einen Sittenverfall sieht er nicht. „Ich halte das für eine gewisse Hysterie. Die Leute erzählen sich so lange gegenseitig, wie schlimm alles sei, bis sie es wirklich glauben.“

Studie aus den Niederlanden zeigt, von woher Fake News kommen

Doch die Wissenschaft sieht sich einer Diskursverschiebung auf der Spur. Fake News verortet sie weit rechts außen. Wenn Missinformation einer politischen Gruppe zugeordnet werden soll, ist ein Wissenschaftler-Duo aus den Niederlanden sicher, dass von Rechtspopulisten die größte Wucht ausgehe. Petter Törnberg und Juliana Chueri, Assistenzprofessoren der Linguistik und der Politikwissenschaft an der Universität Amsterdam, veröffentlichten Mitte des Monats eine Studie, in der sie 32 Millionen Tweets von Parlamentariern aus sechs Ländern der vergangenen sechs Jahre auswerteten.

So etwas lässt sich kaum ohne Meinungsbias machen. Faktenchecks, die die eigene Haltung ausklammern, gibt es nicht. Ihrer Untersuchung nach weist radikaler Rechtspopulismus die stärkste Neigung auf, Falschinformationen zu verbreiten. Extreme Parteien auf der Linken folgten auf dem zweiten Rang. Um Missinformation zu identifizieren, nutzten sie Fake-News-Listen von Wikipedia und der US-Internetseite Media Bias/Fact Check. Um diese Angaben zu überprüfen, werteten sie eine Stichprobe der zitierten Zeitungsartikel auf ihren Informationsgehalt aus. Wasser auf die Mühlen der Kritiker eines unterstellten und zum Teil auch offenen Netzwerks rechtsextremer Kräfte im Internet. Die Gegenseite unterstellt Voreingenommenheit.

Eigentlich ist Katharina Nocun für das Thema eine Expertin. In ihrer Masterarbeit beschäftigte sie sich ausführlich mit dem Aspekt „Markteintrittsoptionen für dezentralisierte soziale Netzwerke”. Durchgespielt hat sie Varianten eines Wachstums alternativer nichtkommerzieller Netzwerke wie Mastodon. Heute sagt sie in einer Mischung aus Ironie und Realismus: „Die Variante ‚Milliardär kauft Twitter auf und verändert das Klima derart, dass Menschen von alleine flüchten‘ ist mir damals wahrlich nicht in den Sinn gekommen.“

Eine Dystopie-Serie mit diesem Inhalt wäre unrealistisch gewesen

Denn die Kritikerin weiß auch: Musk ist gekommen, um zu bleiben. Und natürlich „flüchten“ nicht alle. Doch für viele sei X „kein sicherer Raum mehr für bestimmte Gruppen“, wie sie an vielen Beispielen illustrieren kann. Musk selbst lobt seine Plattform zwar als globalen Hort der Meinungsfreiheit. Nocun aber glaubt: Das ist vorbei. Kürzlich schrieb sie auf Bluesky: „Musk, Trump, Milei … hätte irgendwer die politische Großwetterlage von heute vor 15 Jahren als Dystopie-Serie gepitcht, nicht mal Netflix hätte angebissen – alles zu weit hergeholt & viel zu abgedreht …“ Gequälter Emoji. Ein gut untersuchtes wissenschaftliches Phänomen sei das Silencing, also die Tatsache, dass sich manche Nutzer aus Diskursen zurückziehen, nichts mehr posten oder sich abmelden.

Warum? Nocun nennt eine Analogie aus der realen Welt. „Man kann das gut vergleichen mit dieser Situation: Wenn man als Studi um drei Uhr nachts auf einer Party ist und bis dahin war es großartig, es wurden viele tolle Gespräche geführt und man hat Leute kennengelernt mit ähnlichen Interessen. Dann taucht plötzlich eine Riesengruppe auf mit extrem unangenehmen Typen, die anfangen, Leute anzupöbeln. Eigentlich gibt es eine Hausordnung, aber statt rausgeschmissen zu werden, kommt der Besitzer und drückt einigen von denen noch das Mikro in die Hand. Das wäre dann der Moment auf der Party, dass man sagt: Höchste Zeit, die Freundin einzusammeln und nach Hause zu gehen.” Das passiere momentan auf X.

Nocun berichtet von einem User, der vorschlug, sie im KZ umzubringen. Andere posten Bilder von Waffen oder drohen eine Vergewaltigung an. Manchmal habe die Polizei ermittelt, erläutert die so Angegriffene. Aber die Kapazität für Gegenwehr sei begrenzt: „Möchte ich den Rest des Tages damit verbringen, das zu dokumentieren und zur Anzeige zu bringen? Oder will ich weiter meine Arbeit machen?“ Heute sieht sie den demokratischen Grundsatz „Ein Mensch, eine Stimme“ aufgeweicht. Musk habe sich eine Überholspur gekauft, ein Megafon, um andere zu übertönen. „Dieses Investment hat ihm erlaubt, den Diskurs nicht nur in den USA, sondern in vielen Ländern dieser Welt nachhaltig in seinem Sinne zu beeinflussen.“ Und das sei aus demokratietheoretischer Sicht besorgniserregend. Die Hoffnung, dass es sich unter diesen Bedingungen verbessere, „das ist halt schlichtweg Tagträumerei“. Seit September nutzt sie ihren X-Account nur noch sporadisch.

Merkels Satz über das Internet als Neuland

Jan Schnellenbach ist weiterhin dort. Er sei sich im Klaren, dass soziale Medien auch Probleme verursachten, sagt der 51 Jahre alte Ökonom. Wenn Querdenker während der Corona-Pandemie empfohlen hätten, Bleiche zu trinken, sei das „gefährlicher Quatsch“ gewesen. Er nennt das „Nebeneffekte der Demokratisierung des Diskurses“. Die ermögliche es, schneller und unkomplizierter herrschende Meinungen zu hinterfragen – eine Rolle, in der er auch sich selbst sieht. „Aber wir sind noch nicht in einem neuen Gleichgewicht“, sagt er. „Wir lernen noch, mit diesen neuen Mitteln und Plattformen umzugehen.“ Merkels Satz vom Neuland Internet klingt an. Medienkompetenz entstehe nicht über Nacht. Eine Diagnose, die er mit vielen Musk-Kritikern teilen dürfte. Aber er hält wenig von „paternalistischen Lösch- und Kontrollmechanismen“ – und vertraut darauf, dass „die Gesellschaft lernt, mit dem Unsinn besser umzugehen“.

Internetpioniere haben die Entwicklung in der Plattformökonomie früh vorausgeahnt. Die anfängliche Aufteilung von Diskursmacht sei mit einer Monopolisierung der Netzwerke einhergegangen, sagt Marina Weisband. Produktionsmittel, mit denen sich Deutungshoheit erlangen ließ, waren zwar in viel mehr Händen als zuvor, aber der Diskursort gehörte jemandem, der die Regeln vorgab. Plattformen mussten anfangs attraktiv sein und Debatten anzetteln. Sie wurden so verführerisch gestaltet, dass sich möglichst viele User daran banden. Der kanadisch-britische Schriftsteller Cory Doctorow habe diesen Zyklus der Plattformökonomie am präzisesten beschrieben. Seien viele User auf der Plattform, müsse damit Geld verdient werden, weshalb die Werbung zunahm.

Marina Weisband sprach im Januar 2021 über den Holocaust im Deutschen Bundestag.
Marina Weisband sprach im Januar 2021 über den Holocaust im Deutschen Bundestag.Jens Gyarmaty

Das habe die Sichtbarkeit der Botschaften von Freunden verschlechtert, weshalb es Anreize brauchte, sie zu binden: über Streit. „Radikale Dinge werden wichtiger, so wird es attraktiver für Werbetreibende“, sagt Weisband. Im nächsten Schritt taugten die Plattformen als politisches Mittel für Eigentümer. Dass drei große Figuren der Plattformökonomie – Elon Musk, Mark Zuckerberg und Jeff Bezos – auf die eine oder andere Weise publizistische Ambitionen haben, passt ins Bild. Auch ihr Ansatz, Frieden mit der neuen autoritären Macht zu schließen, ähnelt sich: Musk förderte Trump, Bezos weigerte sich, einen fertigen Wahlaufruf für Kamala Harris in seiner „Washington Post“ abzudrucken. Zuckerberg zog sich zurück von dem, was Trump nicht gefällt: Faktenchecks.

Marina Weisband sieht sich die Geschichte wiederholen

„Wir haben immer erlebt, dass neue Techniken anfangs von Ruchlosen genutzt wurden“, sagt Marina Weisband: die Druckerpresse von Reaktionären, das Radio und das Fernsehen von Nationalsozialisten. „Musk wurde Oligarch. Es entsteht Unordnung. Man sieht jetzt alle Plattformen den Kotau vor den radikalen Kräften der Welt machen.“ Schon bald könnte sich Musk auch noch – unterstützt von der befreundeten künftigen Regierung – den US-amerikanischen Teil des chinesischen Videodienstes Tiktok einverleiben. Geht von (sozialen) Medien noch eine Kontrolle aus, oder werden sie Teil des politischen Systems?

Nicht nur bei den Unternehmenslenkern, die vom World Economic Forum befragt wurden, ist das Thema Meinungsmacht zur Hauptsorge geworden. Für den scheidenden US-amerikanischen Präsidenten Joe Biden war der Einsatz für Technologien, die allen Menschen dienen sollten, ein wesentliches Anliegen in den vier Jahren seiner Präsidentschaft. Innovation könne Leben verändern, sagte er am vergangenen Donnerstag in seiner Abschiedsansprache. Es bestünden aber erhebliche Gefahren durch die Konzentration technologischer Macht bei wenigen Vermögenden. Biden nahm Rückbezug auf die Abschiedsrede des republikanischen Präsidenten Dwight Eisenhower aus dem Jahr 1961, als dieser die Gefahren des „militärisch-industriellen Komplexes“ beschrieb.

„Sechs Jahrzehnte später sorge ich mich genauso um den potentiellen Aufstieg eines tech-industriellen Komplexes“, sagte nun Biden. „Dieser kann reale Gefahren für ein Land bedeuten.“ Desinformation werde zu einem Problem, die freie Presse gerate ins Wanken, soziale Medien gäben das Faktenchecken auf, Lügen verbreiteten sich. „Soziale Plattformen müssen haftbar bleiben, damit unsere Kinder vor Machtmissbrauch geschützt werden, unsere Familien und insbesondere unsere Demokratie.“

Drei unterschiedliche Antworten auf den X-odus

Auf X will Jan Schnellenbach erst mal bleiben. Er könne den politischen Akteur Musk noch vom Inhaber der Plattform X trennen. Eine rote Linie sehe er, wenn diesem eine Manipulation der Algorithmen zugunsten bestimmter Meinungen nachgewiesen werden könnte. Solange das nicht der Fall ist, dürften zu seinen 58.000 Posts noch einige hinzukommen. Katharina Nocun hat ihre Follower vor gut einem Jahr wissen lassen: „Falls ihr hier nur noch weg wollt – würd’ mich freuen, wenn wir uns an schöneren Orten reconnecten!“

Marina Weisband hat die Plattform frühzeitig bewusst verlassen. Sie sei zur Plattform von „Faschos“ verkommen, man mache sich aktiv schuldig, wenn man weiter dort Inhalte verbreite. Doch das Problem gehe weiter. Auch auf anderen Plattformen wie Google, Facebook oder Amazon müsse man präsent sein, um wirtschaftlich bestehen zu können. „Man braucht eine Präsenz an dem Ort, an dem nach Produkten gesucht wird, und begibt sich dafür dorthin“, sagt sie. „Aber dort werden auch die Regeln gemacht.“

Vor zehn Jahren hätten sie und die Social-Media-Pioniere schon über Szenarien diskutiert. Worüber sprechen sie jetzt? Was wird in zehn Jahren beherrschendes Thema aus der digitalen Welt sein? „Hardware wird das Sorgenthema sein“, sagt sie. „Wem gehören Grafikkarten, wem unser Toaster? Der Drucker wird nicht mehr funktionieren, wenn die Nutzungslizenz abgelaufen ist.“ Auch die öffentliche Daseinsvorsorge, Schienen, Energienetze, Wasserinfrastruktur, würden zunehmend aus den Händen der Nutzer, der Bürger, genommen. „So entgleitet uns Herrschaft.“ Im digitalen Raum, einst kreativ und herrschaftsfrei, sei das schon passiert. „Es geht um Macht und Herrschaft, nicht um Meinungsfreiheit.“ Wer weiß, gesund und heterosexuell sei, habe in dieser Welt nichts zu befürchten. „Aber wenn die Mehrheit über Transsexuelle redet, als wären sie Freaks, müsste es bei uns eigentlich längst klingeln.“