Jetzt erlebt der Westen sein Gegen-68

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Noch ist die Wucht des Wandels, die von Donald Trumps Inaugu­ration ausgeht, nicht überall angekommen. Sie wird abgeschwächt von der irrigen Annahme, dass „Populisten“ mehr reden als tun, und auch von der Erfahrung, dass der Mann ja schon einmal vier Jahre regierte, ohne dass sich die Welt fundamental verändert hätte. Trump 2.0. wird tiefere Spuren hinterlassen, auch hierzulande.

Anders als der erste Amtsantritt fällt der zweite in eine Zeit, in der die nationalkonservative Agenda des amerikanischen Präsidenten international salonfähig geworden ist. Selbst die kritischen Kommentare unterscheiden sich von damals. Sie erschöpfen sich nicht mehr in Abscheu, sondern versuchen nun, das Phänomen zu verstehen und einzuordnen. Was Trump ankündigt, ist radikal, sogar radikaler als früher, aber es verstört nicht mehr in gleichem Maße. Man hat sich ein bisschen daran gewöhnt.

Der Historiker Niall Ferguson sprach unlängst von einem „vibe shift“, einem grundlegenden Stimmungswandel, der weite Teile der Welt erfasst habe. Gemeint ist die Rückkehr zu Sichtweisen, die im vergangenen halben Jahrhundert zu­mindest im Westen keine Konjunktur hatten: zuerst an die eigene Nation zu denken, mit Pathos zu heroischen Leistungen anzuspornen, Missstände unverblümt anzusprechen und kompromisslos zu beseitigen. Selbst Friedrich Merz, beileibe kein Trump, fordert jetzt ein Einreiseverbot für Asylbewerber und sagt: Make Europe great again.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.


Das Universalmoralische und aufgeklärt Technokratische, das den politischen Kosmos des Westens prägte, hat an Attraktivität verloren. Der „Davos Man“, der in wohlgesetzten Worten für Globalisierung, Inklusivität und Nachhaltigkeit plädierte, gilt heute vielen als nackter Kaiser. Gefragt ist jetzt sein Antipode: der unbeirrbare Strongman, manchmal auch der Freak, der mit roher Sprache und Kettensäge un­term Arm Gegenwahrheiten ausspricht und Shit-Stürme aushält, bis sie abebben. Davos im Januar 2025 – das war die Ankunft der ehema­ligen Außenseiter im Zentrum der Aufmerksamkeit: Trump, der per Video die „Revolution des gesunden Menschenverstandes“ ausrief, und der argentinische Präsident Javier Milei, der das „Zerbröseln des woken Westens“ verkündete.

Einwanderung, Klimaschutz, Multilateralismus – alles steht in Frage

An die Macht befördert hat den neuen Leader-Typus die Angst vor wirtschaftlichem Abstieg und kul­tureller Überforderung durch Massenmigration, zwei Phänomene, die den traditionellen „Eliten“ angelastet werden. In ihrer Rebellion lehnen die Kritiker des liberalen Systems nicht mehr nur dessen Auswüchse ab. Sie stellen fast alles infrage, was mal als zivilisatorischer Fortschritt galt: Einwanderung, Verrechtlichung, Gleichstellung, Klimaschutz, Multilateralismus.

Trump mit seiner Frau Melania, seine Sohn Barron und Vizepräsident J. D. Vance im Washingtoner Kapitol
Trump mit seiner Frau Melania, seine Sohn Barron und Vizepräsident J. D. Vance im Washingtoner KapitolAP

Wie ein gottgesandter Rächer setzte Trump in seiner Antrittsrede das Volk über seine Exekutivverordnungen in Kenntnis. Was die Anti-Trump-Welt als stillos und in Teilen beängstigend empfand, begeisterte anderswo. Was sei zu kritisieren an einem Politiker, der zur Sache komme und minutiös umsetze, was er versprochen habe, fragten Trump-Anhänger in aller Welt. In atem­beraubendem Tempo schwingt das Pendel zurück, das lange auf der linken Seite fixiert war.

Das Recht des Stärkeren kehrt zurück

Wer von robuster Führung träumte oder von mehr Stolz auf die Nation, wer vor kulturellen Unvereinbarkeiten warnte oder vor dem Verlust althergebrachter Werte, galt als gefährlich gestrig. Plötzlich ist es andersherum, und Diskutanten müssen sich rechtfertigen, wenn sie Migrationsprobleme schönreden, aufs Gendern bestehen oder extreme Klimaschutzmaßnahmen fordern. Noch ist das nur eine Tendenz, aber der Wind aus Amerika wird sie verstärken.

Gesellschaftspolitisch erlebt der Westen nicht weniger als ein Ge­gen-68, auch wenn das linke Erbe in Kulturbetrieben, Universitäten und vielen Redaktionsstuben noch eine Weile nachhallen dürfte. Mit Verzögerung wird der rechte Marsch durch die Institutionen auch dort ankommen. Das Berliner „Lichtermeer gegen den Rechtsruck“ verströmt schon heute die Aura der Defensive.

Riskant wird die weltanschauliche Rolle rückwärts, wo sie die inter­nationale Ordnung erfasst. Dass sich Trump dem Neoimperialismus Russ­lands und Chinas entgegenstemmt, indem er seinerseits nationale Territorialansprüche anmeldet, leitet eine neue Epoche ein. Die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg, in denen die sogenannte regelbasierte Ordnung zumindest im Westen als Orientierung diente, haben Europäern und Amerikanern Frieden und Prosperität geschenkt. Die Phase war, wie sich jetzt zeigt, die Ausnahme von der historischen Normalität – und doch hätte man sich eine Verlängerung gewünscht.

Nun stehen die Zeichen wieder auf Mächteringen und Kräftemessen. Das Recht des Stärkeren kehrt zurück, und damit die Kriegsgefahr. Deutschland und das westliche Eu­ro­pa sind auf diese neue Zeit denkbar schlecht vorbereitet.