Ist die von Scholz versprochene Division kampfbereit?

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Falls jemand die Absicht haben sollte, Deutschland oder die NATO anzugreifen – Jörg See und seine Division wären wohl bereit, jeden Zentimeter des Bündnisgebiets zu verteidigen. Generalmajor See kommandiert den derzeit stärksten Kampfverband der Bundeswehr: die 10. Panzerdivision.

Zum Verband mit Sitz in Veitshöchheim bei Würzburg gehören vier Brigaden plus Divisionstruppen, alles in allem etwa 23.000 Soldaten. In Organigrammen füllen diese Männer und Frauen viele Kästchen, ebenso wie ihre Panzer-, Artillerie- und Pionierbataillone.

Wie viel Kampfkraft dahintersteckt, das ist allerdings eine offene Frage. Sicher ist: Überfiele Russland das Baltikum, stießen Moskaus Truppen sehr rasch auf die 10. Panzerdivision. Bei einem Gespräch in Berlin sagt der Generalmajor: „Die Rahmenbedingungen für einen Konfliktfall sind für die Division von der NATO vorgeben, wir haben unseren Auftrag und kennen unseren Einsatzraum.“

See, 57 Jahre alt, sportlich mit scharfen Gesichtszügen, ist ein erfahrener Offizier. Seit 1986 dient er in den Streitkräften, als Kompaniechef, Brigadekommandeur, im Ministerium, in der NATO. Seine Division sollte zum 1. Januar 2025 voll einsatzbereit sein. So hatte es Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) der NATO vor zwei Jahren versprochen. Aber was ist daraus geworden? Ist es tatsächlich gelungen, aus zumindest einem Großverband im mehr oder weniger „blank“ dastehenden Heer, eine Streitmacht zu machen, die „kriegstauglich“ ist, wie es Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) formuliert?

Es fehlt an digitaler Ausstattung

Fragen dazu werden ausweichend beantwortet, vieles ist bei der Bundeswehr neuerdings geheim, vor allem wenn es um Zahlen geht. Ganz eingelöst ist das Kanzlerversprechen wohl nicht. Es fällt auf, dass auch der ansonsten öffentlichkeitsfreudige Verteidigungsminister so gar nichts zum Stichtag verlauten ließ, keinen Termin, keine offizielle Stellungnahme.

Wie also steht es um das Versprechen und damit die Einsatzbereitschaft? Fragt man Generalmajor See, erwidert der: „Die Division ist gut ausgestattet und ausgebildet, und wenn es erforderlich ist, werden wir mit dem, was wir haben, unseren Auftrag erfüllen. Das steht außer Frage.“

Mit dem, was sie haben – da stellt sich die Frage nach dem, was die Division sicher nicht hat: eine digitale Ausstattung, also Funk- und Führungsmittel auf der Höhe der Zeit. Da gab es zuletzt Rückschläge, die neuen Geräte passten nicht in die Fahrzeuge oder funktionierten nicht. Andere NATO-Staaten sind da weit besser ausgerüstet, schon längst.

See sagt dazu: „Die Einführung der Digitalisierung in die Truppe ist ein Prozess, der jetzt zügig vorangebracht wird. Eine komplexe Aufgabe, wenn man bedenkt, dass eine Division mehrere Tausend Fahrzeuge umrüsten, Soldatinnen und Soldaten ausbilden und beüben muss.“ Nur ein Problem von vielen, die man beim näheren Hinsehen erkennt.

Darüber waren sich alle nach Beginn des russischen Großangriffs auf die Ukra­ine einig: Die Bundeswehr muss das Land verteidigen können. „Das Ziel ist eine leistungsfähige, hochmoderne, fortschrittliche Bundeswehr, die uns zuverlässig schützt“, sagte Kanzler Scholz in seiner Rede zur „Zeitenwende“ am 27. Februar 2022. Im Kern gehe es darum, „ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen. Das setzt eigene Stärke voraus.“

Diese Stärke fehlte der NATO, aber auch der Bundeswehr. Deshalb kündigte Scholz zweierlei an, erstens 100 Milliarden Euro für die Wiederertüchtigung der Streitkräfte. Zweitens, dass Deutschland „von nun an Jahr für Jahr mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren“ werde. Das entspricht einem Verteidigungsetat von 80 Milliarden Euro.

Erwacht der schlafende Riese?

Ein klares Signal zur neuen Lage sollte nach Scholz’ Willen eine voll einsatzbereite Panzerdivision des Deutschen Heeres werden. Vier Monate nach Kriegsbeginn kündigte der Kanzler beim NATO-Gipfel in Madrid an: „Die Bundeswehr wird zusätzlich und in hoher Einsatzbereitschaft im Kern eine gepanzerte Division zur Verteidigung Nordosteuropas dauerhaft vorhalten.“ Mit dieser „Kanzler-Division“ machte Scholz damals Eindruck bei den Verbündeten. Deutschland, das sich so oft weggeduckt hatte, wenn es um die Verteidigung ging, vollzog einen Kurswechsel.

Der Kanzler, der es eben noch bei ein paar Helmen für die Ukraine belassen wollte, stellte den besorgten Nachbarn plötzlich eine durchsetzungsfähige Panzerdivision in Aussicht. Beeindruckend! Der schlafende Riese erwache, titelten ausländische Blätter. Außerdem, so Scholz, werde Deutschland eine Kampfbrigade für Litauen „bereithalten“. Später wurde daraus sogar eine neue Brigade, die dauerhaft im Baltikum stationiert werden solle.

Starke Worte, doch was ist daraus geworden? Weniger als achtzehn Monate sollte es dauern, bis die „Kanzler-Division“ aus den Ruinen der deutschen Streitkräfte entstehen müsste. An der Spitze des Heeres sorgte der Kanzlerauftrag für Schweißausbrüche. Inspekteur Alfons Mais, ein meist gut gelaunter Skeptiker, trug Bedenken vor. Der Generalleutnant sagte seiner Ministerin, damals Christine Lambrecht (SPD), das Heer müsse die Ressourcen für diese Großaufgabe aus den eigenen Beständen „ausschwitzen“. Denn neues Material sei noch lange nicht in Sicht, jedenfalls nicht bis zum 1. Januar 2025.

Die Planer im Ministerium hatten bis dahin vorgesehen, erst bis 2027 eine erste Division allmählich wieder hochzufahren. Eine zweite dann bis 2029. So hatten sie es sogar auf Werbebierdeckel des Heeres gedruckt. Das Ziel war es, zwei schwer gepanzerte Großverbände zu stellen, dazu eine leicht bewaffnete „Division Schnelle Kräfte“, die Fallschirmjäger, Gebirgsjäger und das Kommando Spezialkräfte bündelt.

Selbst das wäre nur ein Schatten der zwölf Divisionen, über welche die Bundeswehr bis 1990 verfügte. Doch das Heer nahm den neuen Auftrag an. Zunächst wurden die Etiketten in den Organigrammen ausgetauscht, die Bierdeckel verschwanden. Aus der „Division 2027“ wurde die „Division 2025“, die Ausstattung der 2029er-Division soll ebenfalls zwei Jahre früher fertig werden. Zum 1. Januar 2025 sollte gelten: Die NATO kann sich darauf verlassen.

Was das bedeutet, konnte der frühere Divisionskommandeur Ruprecht Horst von Butler lebhaft schildern. Von Butler, Soldat aus traditionsreichem Offiziershaushalt, hat die 10. Panzerdivision bis zum September 2024 geführt. Ein burschikoser, furchtloser Truppenführer, der Missstände nicht verbarg. Etwa als vor Weihnachten 2022 praktisch alle Puma-Schützenpanzer eines Bataillons bei einer Übung ausfielen und die stählernen Sensibelchen in die Werkstatt mussten.

Von Butler schieb einen Brandbrief, die damalige Verteidigungsministerin Lambrecht tobte. Die Schützenpanzer sollten eigentlich zur NATO-Speerspitze nach Litauen verlegt werden, statt ihrer schickte Lambrecht dann wieder 40 Jahre alte Marder-Panzer.

Inzwischen gelten die Pumas als relativ stabil. Ob sie sich im Kampfeinsatz bewähren würden, weiß niemand. Es gibt auch keine Informationen darüber, wie sich die Kiew gelieferten Leopard-Kampfpanzer auf dem Schlachtfeld gegen Russland schlagen. Die Pannen-Schützenpanzer gehörten zum Panzergrenadierbataillon 112 aus Regen. Das Bataillon wiederum ist einer der drei Kampfverbände der Panzerbrigade 12 „Oberpfalz“, neben den Panzerbataillonen 104 aus Pfreimd und 363 aus Hardheim im Odenwald.

Eigentlich gehört zur Brigade ein weiteres Panzergrenadierbataillon, das 122er aus Oberviechtach mit etwa 600 Soldaten. Doch dieses soll demnächst der versprochenen „Litauen-Brigade“ zugeordnet werden, die es abgesehen von einem Aufbaustab von etwa 100 Frauen und Männern in einem Bürogebäude in Vilnius noch gar nicht gibt.

„Die Divisionstruppen sind wieder voll aufgestellt“

Die „Oberpfalz“-Brigade hat auf dem Weg zur „Division 2025“ weitere Veränderungen hinnehmen müssen. So verlor sie ein Panzerpionierbataillon an die sogenannten Divisionstruppen. Diese entstehen im Organigramm neu und sollen Divisionskommandeur See und seinem Stab eigene Kräfte verschaffen, die direkt ihrem Kommando unterstehen. Dieses Konstrukt entspricht dem früheren Divisionsaufbau: Aufklärungstruppen, Pioniere, Versorgungstruppen oder Artillerie sollten zur Schwerpunktbildung – etwa in der Defensive, aber auch bei Angriffen – den Brigaden zugeführt werden können.

In Zeiten der Auslandseinsätze wurden die Divisionsführungen zur Bürocentern und Fachaufsichtsstellen für die jeweiligen Missionen der Brigaden und ihrer Verbände herabgestuft – etwa auf dem Balkan, in Afghanistan oder Mali. Erst mit der neuen Struktur kann die 10. Panzerdivision wieder zu einem geschlossenen Kampfverband werden.

Zum bisher Erreichten sagt Generalmajor See: „Organisatorisch ist die 10. Panzerdivision so umstrukturiert, um den Auftrag Division 2025 zu erfüllen. Wir haben alle Unterstellungswechsel und Neuaufstellungen auf Brigade- und Bataillonsebene vollzogen, die Divisionstruppen sind wieder voll aufgestellt.“

Werden die Brigaden geschwächt?

Aus Sicht der Brigaden führen die Verschiebungen im Organigramm auch zu Schwächungen. So legte die 12. Brigade „Oberpfalz“ im Dezember in einer Fachpublikation dar, dass sie sowohl Fähigkeiten zur Minenräumung einbüßt wie auch ihre Möglichkeiten, Gewässer zu queren, weil die Brückenlegesysteme vom Typ Leguan künftig zu den Divisionstruppen gehören. Wenn der aktuelle Kommandeur, Brigadegeneral Axel Hardt, sie braucht, muss er künftig die Division fragen. Verstärkt wird der Kampfwert der Panzerbataillone durch die Haubitzen des Artilleriebataillons 131.

Artillerie hat derzeit Konjunktur im Heer, besonders mit Blick auf die Ukra­ine, die gar nicht genug Geschütze und Munition bekommen kann. Deutsche Bataillone mussten einiges abgeben. Die Bundeswehr verfügte vor Kriegsbeginn über etwa 108 Panzerhaubitzen. Nach aktuellen Angaben sind von diesen und aus Industriebständen bislang 25 Exemplare an die Verteidiger der Ukraine geschickt worden. Weitere werden als Ersatzteillager ausgeschlachtet. Dazu ging ein erheblicher Teil der geringen Munitionsbestände nach Kiew.

Es gehört zu den Versäumnissen der Ampelkoalition, Munition zunächst gar nicht und Ersatz für die Geschütze erst spät auf den Weg gebracht zu haben. So wird es bis mindestens 2026 dauern, ehe die ohnehin kargen Bestände aufgefüllt sind. Bei der 37. Panzergrenadierbrigade „Freistaat Sachsen“ wurde die Artillerie 2005 gänzlich abgeschafft. Das Gefecht der verbundenen Waffen, Kernkompetenz des Deutschen Heeres, war damals nicht mehr gefragt.

Erst seit Juli vorigen Jahres ist ein Artillerieverband neu aufgestellt, eine neue Truppe, die nun erste Erfahrungen bei Übungsschießen macht. Ob und wie viele Panzerhaubitzen dieses Bataillon 375 derzeit zur Verfügung hat, diese Frage wird nicht beantwortet. Mindestens 18 sollten es schon sein – aber woher kommen sie?

Die Union spricht von einer „sicherheitspolitischen Bilanzfälschung“

Ähnlich verhält es sich mit Tausenden von anderen Ausrüstungsbestandteilen, die eine einsatzbereite Division baucht. Alles, was im eigenen Bestand fehlt, wird deswegen von der anderen deutschen Division, der 1. Panzerdivision in Oldenburg, geholt. Henning Otte, Fachmann für das Heer der Union im Bundestag, spricht daher von einer „sicherheitspolitischen Bilanzfälschung“. Otte sagt der F.A.Z.: „Die Aufstellung der Division 2025 erfordert höchste Anstrengung. Und das leistet das Heer. Sie gelingt aber nur unter materieller Ausdünnung der 1. Panzerdivision und der Gebirgsjägerbrigade.“

Wenn also materiell der Anfangszustand beider Divisionen bei 60 Prozent des erforderlichen Materials lag und die „Kanzler-Division“ nun bei 80 Prozent liege, wie Otte sagt, bedeutet es, dass die Oldenburger 1. Division auf weniger als die Hälfte des geforderten Materialstands heruntergefahren wurde. In weniger als 24 Monaten jedoch soll diese Rumpftruppe ebenfalls voll einsatzbereit sein. So wurde es jedenfalls der NATO zugesagt. Eine Idee von Inspekteur Mais war es, schweres Gerät loszueisen, indem man neue „Mittlere Kräfte“ schafft, die an Stelle der bewährten Kettenfahrzeuge Radpanzer bekommen sollen. Darunter die moderne Radhaubitze RCH 155. Verteidigungsminister Pistorius übergab das erste Exemplar Mitte Januar allerdings an die Ukraine. Die Brigade „Mittlere Kräfte“ muss warten.

Das gilt auch für weitere Ausrüstung der 10. Panzerdivision, die bislang beispielsweise ohne effiziente Drohnenbewaffnung und Flugabwehr auskommen muss. Außerdem fehlten Munition und Ersatzteile, sagt Otte, stellvertretender Vorsitzender des Verteidigungsausschusses im Bundestag. Auch Divisionskommandeur See räumt ein, dass der Division Material fehle. Er sagt: Jetzt werde es „darauf ankommen, die Vollausstattung der Division zu erreichen. Das wird noch Zeit in Anspruch nehmen; je schneller desto besser.“ Inspekteur Mais rechnet mit mindestens zwei Jahren. Und bis dahin? Mais will derzeit dazu öffentlich nichts sagen. Aber der Chef des Heeres hat sich dazu schon klar ausgedrückt. Alles, was man jetzt nicht beschaffe, „bezahlen wir im Ernstfall mit schwarzen Säcken“, sagte er Ende 2023. Mais meinte damit Leichensäcke.

„Combat Ready“, voll kampftauglich war die 10. Panzerdivision zum 1. Januar also nicht. Das Ministerium spricht auf Anfrage, fast kleinlaut, von „hoher Verfügbarkeit“. Alles andere sei geheim. Es seien „umfangreiche Planungen und Anpassungsmaßnahmen eingeleitet und werden weiter mit Nachdruck angegangen, um personell als auch materiell uneingeschränkt einsatzbereit zu sein“. Man könnte sagen: Nebelkerzen fehlen im Depot des Ministeriums jedenfalls nicht.

Nachholbedarf gibt es auch in den Stäben der Division. Einen Krieg in großer Dimension zu führen ist etwas anderes, als eine Brigade auf dem Übungsplatz zu begleiten. So müssen also auch erfahrene Kommandeure wie See Altbekanntes erst wieder lernen. Im Frühjahr nimmt der Divisionsstab der 10. daher erstmals an der großen amerikanischen Übungsserie „Warfighter“ teil. Dazu werden auf dem Übungsplatz Stäbe und Truppenführer unter Federführung eines US-Korps trainieren. Man darf damit rechnen, dass die Verbündeten sehr genau hinsehen werden, wie es um die 10. Panzerdivision steht.