Noch ist es nicht fünf vor zwölf. Aber immerhin eine Minute vor elf. Die Debatte über das Zustrombegrenzungsgesetz sollte schon seit einer knappen halben Stunde laufen, aber der vorherige Tagesordnungspunkt, bei dem die Fraktionen in aller Ruhe verhandelt und abgestimmt haben, hat sich verzögert. Um 10.59 Uhr meldet sich Thorsten Frei zu Wort, der Geschäftsführer der Unionsfraktion im Bundestag. Er bittet um Aufschiebung der Debatte. Seine Fraktion wolle zu einer Sondersitzung zusammenkommen.
Die jüngste Zusammenkunft der Abgeordneten von CDU und CSU liegt da gerade ein paar Stunden zurück. Um acht Uhr früh hatten sie sich in ihrem Fraktionssaal im Reichstag versammelt. Merz, wird aus Teilnehmerkreisen berichtet, sagte, er habe am Donnerstag mit SPD und Grünen über das Zustrombegrenzungsgesetz gesprochen. Die Atmosphäre der Gespräche sei sehr vernünftig gewesen.
Aber mit Blick auf die Kritik an seinem Kurs in der Migrationspolitik stimmt Merz die fast 200 Abgeordneten am frühen Morgen auf harte Diskussionen ein: „Wir müssen diesen Sturm jetzt aushalten. Das haben wir schon öfters erlebt.“ Die Bürger würden sich auch genau anschauen, wie widerstandsfähig die Union sei. Es werde voraussichtlich nach der Wahl auch harte Auseinandersetzungen geben, wenn es einen Politikwechsel und Reformen gebe.
Ein Kommen und Gehen in Merz’ Büro
Frei hatte schon frühzeitig vorhergesagt, etwa zehn Unionsabgeordnete würden am Freitag nicht dem Merz-Kurs zustimmen. Eine Abgeordnete berichtet von großer Unruhe in der Partei als Reaktion auf die Zustimmung der AfD zu einem migrationspolitischen Antrag am Mittwoch. Es gebe viele Austritte.
Nun also die nächste Sitzung der Unionsfraktion. Doch auch die wird schnell unterbrochen. Merz hat im Nordflügel des Reichstags auf der Fraktionsebene ein Büro. Dort kommt er mit den Vorsitzenden der SPD-Fraktion, Rolf Mützenich, und der Grünen-Fraktion, Britta Haßelmann und Katharina Dröge, zusammen. Vor allem aber wird mit der FDP gesprochen. Parteichef Christian Lindner und der Fraktionschef Christian Dürr bemühen sich, noch eine Einigung über das Zustrombegrenzungsgesetz herbeizuführen. Immer wieder gehen Gesprächspartner ins Büro von Merz, andere verlassen es. Eine Abgeordnete bahnt sich einen Weg durch die große Traube von Journalisten, die den Weg zur Toilette im Nordflügel blockiert.
Dann ist es wirklich fünf vor zwölf. Um 11.55 Uhr verlässt Dürr das Büro von Merz und bleibt vor den Mikrofonen stehen. Er beschreibt den Stand der Gespräche. Die Botschaft: Er wolle weiter mit SPD und Grünen über das Zustrombegrenzungsgesetz verhandeln. Für den Moment sieht es so aus, als könnte es noch zu einer inhaltlichen Einigung kommen. Ein Unionsabgeordneter sagt, von den drei Punkten des Gesetzes müsse Merz wenigstens einen retten, um auf eine Abstimmung am Freitag verzichten zu können.
Was Union und FDP nicht so richtig verstehen wollen: Warum sperrt sich die SPD eigentlich so gegen das Zustrombegrenzungsgesetz? Immerhin haben doch die Ministerpräsidenten, auch die der SPD, kürzlich in einem Beschluss geäußert, dass es diese Maßnahmen brauche.
„Wir müssen heute entscheiden“
Das Gesetz des Anstoßes besteht aus drei Kernpunkten. Erstens soll das Ziel einer Begrenzung der Zuwanderung nach Deutschland für das Aufenthaltsrecht wieder zur Maßgabe werden. Dieser Passus war erst 2023 von der damaligen Ampelkoalition geändert worden – in „Steuerung“ statt Begrenzung. Zweitens soll der Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte bis auf Weiteres beendet werden. Drittens soll die Bundespolizei mehr Befugnisse bekommen. Bundespolizisten könnten mit dem Gesetz Haft und Gewahrsam beantragen, um Abschiebungen zu erleichtern.
Nun kann es SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich herzlich egal sein, wer unter ihm SPD-Ministerpräsident ist. Zumindest hieß es aus seinem Umfeld am Freitag während des Gesprächsmarathons: Man sei jederzeit gesprächsbereit – „über vernünftige Dinge“, die alle schon im Ausschuss lägen. Gemeint waren damit etwa die GEAS-Gesetze und das Sicherheitspaket. Die SPD werde aber nicht über das Unionsgesetz reden im Sinne von „Merz Ja oder Nein“.
Inzwischen ist Merz wieder im Fraktionssaal und berichtet von den Gesprächen. Um 12.20 Uhr dringen erste Informationen nach draußen. Merz habe den Abgeordneten mitgeteilt, die Unterredungen mit SPD, Grünen und FDP hätten in vernünftiger Atmosphäre stattgefunden. Dennoch sei klar, dass es in dieser Legislaturperiode keinerlei Gespräche mit SPD oder Grünen geben werde.
Am Ende der Sitzung der Unionsfraktion wird mitgeteilt, die FDP verzichte darauf, das Gesetz in den Ausschuss zurückzuüberweisen. „Wir müssen heute entscheiden“, wird Merz zitiert. Ein Unionsabgeordneter stellt es kurz darauf so dar, dass die SPD entschlossen sei, das Thema im Wahlkampf zu nutzen. Merz sei verärgert. Ein anderer CDU-Mann erzählt, man sei aufgefordert worden, alle Abendtermine in den Wahlkreisen abzusagen.
Dann strömen die Abgeordneten zurück von der Fraktionsebene ganz oben im Reichstagsgebäude ins unten liegende Plenum. Der Saal füllt sich. Anfangs ist auch Merz dabei und plaudert mit seinen Leuten. Dann ist er weg, die Vorsitzenden der Fraktionen von SPD, Grünen und FDP sind auch nicht mehr zu sehen. Man redet offenbar doch noch einmal miteinander. Der ursprünglich geplante Beginn der Sitzung ist inzwischen seit drei Stunden vorbei.
Um 14 Uhr tritt FDP-Fraktionschef Dürr vor die Mikrofone. Die FDP habe alles versucht, um einen Kompromiss herbeizuführen. Sie habe sogar eine Paketlösung angeboten: Die FDP würde den Gesetzentwurf von SPD und Grünen zur Umsetzung der GEAS-Reform mittragen – wenn die wiederum dem Zustrombegrenzungsgesetz der Union zustimmten. Dies hätten Rote und Grüne abgelehnt. „Ich muss offen gestehen, dass ich das nicht für möglich gehalten hätte“, sagt Dürr sichtlich genervt. Die früheren Koalitionspartner müssten sich nun fragen, ob sie nicht den Nährboden für rechts außen böten. Dann geht auch er zurück ins Plenum.
„Der Sündenfall wird Sie immer begleiten“
Die Sitzung geht nach dreieinhalbstündiger Unterbrechung endlich weiter. In der Sache gibt es keinen neuen Stand. Die Union will über ihren Gesetzesentwurf abstimmen lassen, die FDP macht mit. Überhaupt steht man dicht beieinander. Immer wieder applaudieren am Freitag Christdemokraten, wenn FPD-Abgeordnete sprechen, und umgekehrt. Ein Hauch von Schwarz-Gelb weht durchs Plenum. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Mützenich, der auch in solchen Situationen von tadelloser Höflichkeit ist, wirft dem „Kollegen Merz“ vor, er habe die Situation, in der man sich jetzt befinde, „leichtfertig herbeigeführt“.
Mützenich sagt, seine Fraktion sei gesprächsbereit, das müsse aber auf Augenhöhe geschehen, nicht nach dem Motto „Friss und stirb!“. Er ruft dem vielleicht zehn Meter vor ihm sitzenden Kanzlerkandidaten der Union zu: „Ich kann nur sagen, Herr Kollege Merz: Kehren Sie um!“ Er fordert eine Entschuldigung von Merz. Und dann: „Meine Damen und Herren, es ist nicht zu spät. Der Sündenfall wird Sie immer begleiten. Aber das Tor zur Hölle können wir noch schließen.“
Dann tritt Merz selbst ans Rednerpult des Bundestags. In der CDU herrscht seit Tagen Unruhe wegen der Ungewissheit, wie die Reaktionen auf seinen Vorstoß sein werden. Auch außerhalb des politischen Berlins und der Landeshauptstädte gibt es deutliche Kritik am Unionskanzlerkandidaten. Am Donnerstagabend hatten Tausende Menschen bundesweit gegen den Weg von CDU und CSU in der Migrationspolitik protestiert.
Nach Angaben der Polizei versammelten sich vor der CDU-Bundesgeschäftsstelle in Berlin-Tiergarten mindestens 6000 Menschen, um gegen die migrationspolitischen Pläne der Union zu demonstrieren. Die Veranstalter sprachen von 13.000 Teilnehmern. Eine der Rednerinnen war Fridays-for-Future-Aktivistin Luisa Neubauer.
Für Aufmerksamkeit sorgte auch der Austritt des Publizisten und Moderators Michel Friedman aus der CDU. Der frühere Vorsitzende des Zentralrats der Juden begründete seinen Schritt im Hessischen Rundfunk: „Zum ersten Mal hat eine demokratische Partei, in dem Fall meine ehemalige Partei CDU, es möglich gemacht, dass die AfD eine Mehrheit im Parlament mit dieser demokratischen Partei durchgeführt hat. Und dieser Tabubruch ist unentschuldbar.“
Merz weist auch auf die Versäumnisse der Union in der Migrationspolitik hin
Also Auftritt Merz. Bevor er den Sozialdemokraten angeht, bekräftigt er, was er seit Monaten immer wieder sagt: „Von meiner Partei aus reicht niemand der AfD die Hand.“ Dafür bekommt er großen Beifall aus den eigenen Reihen. Die AfD wolle die CDU vernichten, sagt Merz, und es glaube doch wohl niemand, dass die CDU einer solchen Partei die Hand reiche. Dann wendet er sich an Mützenich. Dieser habe in der Debatte über die Migrationspolitik nicht mit einem einzigen Wort über die Opfer der jüngsten Anschläge in Magdeburg und Aschaffenburg gesprochen.
Merz kommt auf die Inhalte des Zustrombegrenzungsgesetzes zu sprechen und sagt, dass die SPD dem doch zustimmen können müsse. Merz unterlässt es nicht, auf die Verantwortung seiner Partei für Missstände in der Migrationspolitik hinzuweisen. Doch verweist er anschließend darauf, dass seiner Meinung nach die SPD und die Grünen nicht bereit seien, etwas an den Defiziten zu ändern.
Schließlich erinnert Merz an den 24. Februar, den Tag nach der Bundestagswahl. Da müsse man gesprächsfähig bleiben. Bis dahin hätten SPD und Grüne „mit ihrer Minderheit“ nicht das Recht zu entscheiden, was auf die Tagesordnung des Bundestages gesetzt werde.
Am Ende eines langen Tages voller Gespräche hinter verschlossenen Türen und Reden im Plenum kommt es schließlich doch noch zur Abstimmung. Sonst werden zweite und dritte Lesung eines Gesetzes üblicherweise in einem Abstimmungsgang erledigt, dieses Mal soll das nacheinander passieren. Doch schon nach der zweiten Lesung ist der Spuk vorbei. Merz, der sich gegen so viel Kritik und auch einige Skepsis in den eigenen Reihen festgelegt hat, bekommt keine Mehrheit. 338 Stimmen gibt es für das Gesetz, 349 dagegen, fünf Parlamentarier enthalten sich. Zwölf Abgeordnete der Union gaben ihre Stimme nicht ab. Merz kritisierte, dass es aus der FDP-Fraktion zwei Nein-Stimmen sowie fünf Enthaltungen gab und 16 Stimmen nicht abgegeben wurden. Damit habe die FDP das Gesetz „mitverhindert“, so Merz.
Dass die AfD-Vorsitzenden Alice Weidel und Tino Chrupalla umgehend auf Merz herumdreschen, ist selbstverständlich. Der Triumph, dass erstmals mit den Stimmen der AfD ein Gesetz im Bundestag beschlossen wurde, ist dahin. Merz lässt die Unionsabgeordneten umgehend zur dritten Fraktionssitzung des Tages antreten. Nach draußen wird folgender Satz des Kanzlerkandidaten getragen: „Ich habe mich gut getragen und gut aufgehoben gefühlt in dieser Fraktion.“ Von „lang anhaltendem Applaus“ wird berichtet.
Ihre Sorgen über einen immer stärkeren Einfluss der AfD hatten Parlamentarier aller Fraktionen außer der AfD bereits am Vorabend im Parlament diskutiert. Da standen zwei Anträge zur Debatte; beide zielten darauf, ein AfD-Verbot juristisch zu prüfen beziehungsweise zu erwirken. Allerdings wurde über die Anträge nicht abgestimmt. Sie wurden in den Innenausschuss verwiesen und dürften bis zur Wahl keine Rolle mehr spielen.