Die russische Armee rückt in der Ukraine seit Monaten vor – zwar langsam, aber so stetig, dass Fachleute im Augenblick keine Hoffnung auf ein baldiges Ende des Vormarsches haben. Insider aus jenen Strukturen, die sich als „Sicherheitskreise“ beschreiben, haben der F.A.S. gesagt, sie erwarteten nicht, dass Russland in absehbarer Zeit seinen Angriff stoppen könnte, weil etwa die Verluste zu hoch wären.
Und weil das so ist, redet jetzt sogar der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj nicht mehr von einer schnellen Rückeroberung der besetzten Gebiete, sondern von Verhandlungen und Friedenstruppen. Die Debatte ist im Gang, und obwohl niemand weiß, was der amerikanische Präsident Donald Trump vorhat, sind mehrere Modelle im Gespräch.
Russland bezahlt nach Darstellung informierter Quellen seine Gewinne zwar mit hohen Verlusten – 1000 bis 1500 Tote und Verletzte jeden Tag. Langfristig dürften die Verluste aber geringer sein, weil etwa drei Fünftel davon geheilt und später wieder eingesetzt werden könnten. Zugleich gelinge es Russland, jeden Monat 30.000 neue Soldaten aufzustellen, sodass das Militär jährlich um 150.000 Personen wachse. In Sicherheitskreisen erwartet man deshalb nicht, dass Präsident Wladimir Putin bald „die Soldaten ausgehen“ werden.
Andererseits glauben die Experten aber auch nicht, dass Putin den jetzigen „Vormarsch in kleinen Schritten“ für wirklich „tiefe Durchbrüche“ nutzen kann. Dafür habe Russland „im Augenblick“ nicht die Personalreserven. Deshalb ist damit zu rechnen, dass der Krieg noch lange dauern könnte.
Keiner weiß, was Trump will
Weil aber für keine Seite ein schneller Sieg in Aussicht ist, wird längst über einen Waffenstillstand diskutiert. Dabei geht es auch um internationale Truppen zum Schutz der Kontaktlinie, doch Zahlen und Konzepte sind noch disparat. Manche reden von zehn- bis zwanzigtausend Soldaten, doch Selenskyj hat unlängst von 200.000 gesprochen.
Den Grund der Unschärfe hat Wolfgang Ischinger, ein alter Fahrensmann der deutschen Diplomatie und Präsident des Stiftungsrats bei der Münchener Sicherheitskonferenz, so beschrieben: „Keiner weiß genau, was die amerikanische Administration will, und es weiß auch niemand, wie man Russland dazu bringen kann, einer starken Friedenstruppe in der Ukraine zuzustimmen.“
Allerdings zeichnen sich erste Umrisse ab: Trump will Wladimir Putin offenbar vor allem wirtschaftlich unter Druck setzen. Er spricht von Sanktionen und Zöllen und fordert von den Ölstaaten der OPEC, viel mehr zu fördern, sodass der Preis sinkt und Russlands Öleinnahmen wegbrechen. „Das wird den Krieg beenden“, hat er zuletzt auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos gesagt.
Die Debatte über eine internationale Militärpräsenz zur Sicherung einer Waffenruhe hat spätestens in dem Augenblick begonnen, als Frankreichs Präsident Emmanuel Macron vor einem Jahr zum ersten Mal von „Bodentruppen“ in der Ukraine sprach – damals noch unter dem heftigen Protest des deutschen Kanzlers. Mittlerweile aber schließen Außenministerin Annalena Baerbock oder Verteidigungsminister Boris Pistorius eine „Friedensmission“ nicht mehr aus, und Olaf Scholz widerspricht nur noch mit dem verhaltenen Einwand, diese Debatte sei „verfrüht“.
Zwei Modelle für eine internationale Truppe
Dennoch ist sie im Gang, und Ischinger erläutert, dass im Augenblick vor allem über „zwei Modelle“ diskutiert werde. Das erste wäre eine „Friedenstruppe zum Schutz der Kontaktlinie“. Sie müsste ein „internationales Mandat“ haben sowie „Klauen und Zähne“, um Angriffe abwehren zu können. Weil so eine Truppe aber eine Front von vielen Hundert Kilometern sichern müsste, wären nach Ischingers Schätzung 50.000 bis 100.000 Soldaten nötig, und neben Europäern müssten auch Länder wie China oder Indien „eine Rolle“ bekommen. Auch Baerbock hat einmal gesagt, für eine Friedenssicherungsmission seien „Europäer, aber auch andere“ nötig.
Allerdings gibt es Bedenken gegen dieses Modell. Ben Hodges, unter Präsident Obama und später für kurze Zeit auch unter Trump „Commanding General“ der amerikanischen Streitkräfte in Europa, wendet ein, so eine Truppe werde nicht nur 100.000 Soldaten, sondern vielleicht das Doppelte erfordern, und am Ende werde sie doch nur Russlands Eroberungen „zementieren“.
Außerdem hält er es für eine „schreckliche Idee“, dass China in Europa „Fuß fassen“ könnte. Der Westen müsse schließlich die Chinesen im Indopazifik eindämmen; da dürfe man nicht das Signal aussenden, „dass wir ohne China nicht einmal unsere eigenen Probleme lösen können“.
Deshalb wird zur Zeit auch über ein anderes Modell diskutiert. Hier würden internationale Truppen nach einem Waffenstillstand nicht an der Front aufgestellt, sondern im ukrainischen Hinterland. Ischinger spricht in diesem Zusammenhang von einer „westlichen Abschreckungstruppe“ von zwanzig- bis dreißigtausend Personen. Andere Kenner der Lage sagen, genau dies sei die Variante, über die man in den USA zurzeit nachdenke. Auch Präsident Macron scheint so eine Konstruktion zu erwägen.
Élie Tenenbaum von der französischen Denkfabrik Ifri, der aus der Sicht deutscher Insider ähnlich denkt wie der Präsident, hat im Herbst zusammen mit Leo Litra vom New Europe Center in Kiew so ein Modell entworfen. Ihrer Schätzung nach wären für eine europäische Abschreckungsmacht mindestens „vier bis fünf Brigaden“ nötig. Weil Brigaden unterschiedlich groß sein können, wären das 12.000 bis 25.000 Soldaten.
Nico Lange, ehemals Leiter des Leitungsstabs im deutschen Verteidigungsministerium, berichtet nach Gesprächen mit dem Umfeld Trumps, für dieses Modell zeichne sich ein „dreiteiliges System“ ab: Erstens würde nach einem Waffenstillstand die Ukraine mit ihrer eigenen Armee die unmittelbare „Frontlinie“ sichern. Zweitens könnte ein „europäisches Abschreckungspotential“ weiter hinten stehen – etwa so, wie das die Bundeswehr in Litauen tun will. „Drittens: Die Amerikaner geben Unterstützung, weil es ohne sie nicht glaubwürdig ist.“
Es geht nicht ohne Amerika
Ganz ähnlich klingt Kurt Volker, Trumps Ukraine-Beauftragter aus dessen erster Amtszeit. Er setzt im Gespräch mit der F.A.S. auf eine „deterrent force“, in deren Rahmen europäische Truppen „weiter hinten“ Stellung beziehen könnten. Sie könnten die Ukraine bei Flugabwehr, Ausbildung und bei der Bereitstellung von Material unterstützen.
Wenn man Kiew dann auch noch „Langstreckenfähigkeiten“ zur Verfügung stelle, um auf Verletzungen des Waffenstillstands zu reagieren, könnte man „Russland damit abschrecken“. In Europa könne man dafür Frankreich, Großbritannien, Dänemark und die Balten gewinnen, dazu Finnland und vielleicht Norwegen. Polen zögere, weil im Mai Präsidentenwahlen anstünden. Danach aber erwarte er auch von dort mehr Bereitschaft.
Wie so eine Abschreckungsmacht aussehen würde, hat General Hodges analysiert. Bevor sie überhaupt eintreffe, müsse ein „integriertes System zur Flug- und Raketenabwehr“ sowie die nötige Logistik und die Fähigkeit zu Langstreckenschlägen geschaffen werden. Dies sei ein „sine qua non“, weil die Soldaten sonst schon im Anmarsch verwundbar wären.
Außerdem müsse das Kontingent so stark sein, dass Russland verstehe: „Diese Truppe kann Vergeltung üben.“ Dafür brauche man eine „reelle, ernsthafte, tödliche Streitmacht“, samt Luft-, Land- und Seekomponenten, Drohnen, Drohnenabwehr „und so weiter“. Andernfalls würden die Russen die Truppe „schon in den ersten Tagen testen“.
Das Hauptproblem dieses Modells ist allerdings: Trump hat bisher keine Neigung gezeigt, amerikanische Truppen dafür bereitzustellen. Wenn aber nur Europäer dabei wären, könnte das Ischinger zufolge „ins Desaster führen“. Putin könne dann darauf spekulieren, „dass Trump die Europäer nicht wirklich schützen würde“.
Er könnte versucht sein, „so eine Truppe anzugreifen, um die NATO zu spalten“. So eine Konstruktion würde Putin also „geradezu einladen, durch einen Angriff einen Keil ins Bündnis zu treiben“. Um das zu verhindern, müssten die USA „so eingebunden sein, dass Putin weiß: Washington würde einen Angriff auf diese Truppe als Angriff auf Amerika betrachten.“
Wie dieses Problem zu lösen wäre, kann noch niemand sagen. Nico Lange hat aus Washington die Erkenntnis mitgebracht, dass Trump amerikanische Truppen in der Ukraine „kategorisch“ ablehne. Deshalb denkt er darüber nach, ob eine Stationierung in Nachbarländern wie Polen und Rumänien oder „gemeinsame Übungen“ eine Lösung sein könnten. Volker erwähnt in diesem Zusammenhang die Möglichkeit von „garantierter Luftunterstützung“ aus Amerika.
Das nukleare Element
Garantien aus Amerika sind vor allem deshalb wichtig, weil Putin immer wieder versucht, die Ukraine und den Westen durch atomare Drohungen einzuschüchtern. Allerdings gibt es geteilte Meinungen darüber, ob eine künftige Truppe deshalb auch das haben sollte, was Ischinger eine „nukleare Abschreckungskomponente“ nennt.
Lange meint, das müsse „nicht unbedingt“ sein, denn schon „eine Kombination aus starker Luftverteidigung und konventionellen Abstandswaffen“ könnte hinreichend Abschreckungswirkung haben. „Wenn zum Beispiel der russische Bomberstützpunkt Engels in Reichweite der Verbündeten wäre, dann wüsste Russland, was es riskiert, wenn es angreift.“
Ischinger dagegen meint, ein „nukleares Abschreckungselement“ sei nötig, und deshalb sei ein Einsatz in der Ukraine nicht möglich ohne die Atommächte „Frankreich, Großbritannien und Amerika“. Auch General Hodges sagt, eine westliche Militärpräsenz brauche „nukleare Abschreckung“.
Allerdings spricht er nicht von der Anwesenheit amerikanischer Atomwaffen wie heute schon auf dem Territorium von NATO-Verbündeten wie Deutschland. Er erinnert stattdessen an eine Situation im Herbst 2022, als Russland zeitweise in der Defensive war und Putin nach Einschätzung amerikanischer Dienste begrenzte Atomschläge erwog. Präsident Joe Biden ließ damals mitteilen, er habe Russland für diesen Fall „katastrophale Konsequenzen“ angedroht.
Wie sehr das Putin beeindruckt hat, bleibt offen. Tatsache ist aber, dass er damals keine Atomwaffen einsetzte. Hodges meint deshalb, zum Schutz einer künftigen Friedensmission müsse die Biden-Formel von den „katastrophalen Konsequenzen“ wiederholt werden. Auch Volker sieht das so. Bei so einer Wortwahl, glaubt er, sei es dann „nicht einmal mehr nötig, Atomwaffen überhaupt noch zu erwähnen“.
Beschlossen ist allerdings noch nichts, und in Berlin weiß noch niemand so recht, was Trump wirklich vorhat. Es gibt Entwürfe und Vorschläge, aber noch keine konkreten Pläne. „Wie so oft in der Diplomatie ist das Wünschbare nicht immer auch das Machbare“, sagt Ischinger. „Und ob solche oder ähnliche Szenarien tatsächlich mit Moskau erfolgreich ausgehandelt und umgesetzt werden könnten, ist völlig offen – selbst wenn die Ukraine und der Westen mit einer Position der Stärke antreten könnten.“