Klimaschutz als Wirtschaftsmiese? Experten sind sich uneins

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Es gibt Sätze, die Politiker noch lange verfolgen. Einer dieser Sätze aus dem Mund von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) lautet: „Wegen der hohen Investitionen in den Klimaschutz wird Deutschland für einige Zeit Wachstumsraten erzielen können, wie zuletzt in den 1950er- und 1960er-Jahren geschehen.“ Er stammt aus dem Frühjahr 2023, als Deutschland gerade den ersten Winter ohne Gas aus Russland hinter sich gebracht hatte.

Scholz wollte Zuversicht verbreiten, doch die Reaktion war vor allem ungläubiges Staunen. Ökonomen belehrten den Kanzler, dass allein der Umstieg von klimaschädlichen auf klimafreundliche Produktionsweisen noch kein Wachstum auslöse. Schließlich werde nur eine Technik durch die andere ersetzt. Vorgaben wie die aus dem Energieeffizienzgesetz seien sogar „Wachstumskiller“, sagte Ifo-Präsident Clemens Fuest damals.

Sowohl Scholz als auch Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) haben lange versucht, die Erzählung von einem grünen Wirtschaftswunder aufrechtzuerhalten. Doch die Realität sieht anders aus. Sowohl 2023 als auch 2024 schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt. Vor allem der Industrie, die für etwa ein Viertel der Wirtschaftsleistung steht, geht es schlecht. Es wird weniger produziert, exportiert, investiert. Rund 10.000 Arbeitsplätze gehen derzeit in der Indus­trie Monat für Monat verloren. Die Stellenstreichpläne von Volkswagen, Bosch und ThyssenKrupp sind nur die bekanntesten Beispiele. Statt von einem Wirtschaftswunder ist in der Politik jetzt von einer dringend nötigen Wirtschaftswende die Rede.

„Klimaschutz kostet eben“

Führt die Transformation hin zur Klimaneutralität zu einer schleichenden Deindustrialisierung? Diese Frage schwingt vielerorts im Wahlkampf mit. Manuel Frondel, der am Essener RWI Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung zu Umweltthemen forscht, sieht durchaus einen Zusammenhang. „Die deutsche Wirtschaftsschwäche ist sicher das Resultat von sehr vielen Faktoren, aber die besonders ambitionierte Klima- und Energiepolitik Deutschlands und der EU tragen einen guten Teil dazu bei“, sagt er.

Die steigenden Preise für Emissionszertifikate hätten maßgeblich dazu beigetragen, dass das Strompreisniveau doppelt so hoch sei wie 2019. Niedrigere Preise erwartet er angesichts des teuren Netzausbaus so schnell nicht. „Klimaschutz kostet eben“, konstatiert Frondel.

Etwas anders sieht das Ottmar Edenhofer, Direktor und Chefökonom des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung: „Die Klimapolitik soll und darf nicht als Sündenbock für lang verschleppte Strukturprobleme der deutschen Wirtschaft herhalten müssen“, sagt er.

Die Industrie kämpfe vor allem mit zu hohen Lohnstückkosten. Die Ursache dafür sieht Edenhofer in einem „ineffizienten Arbeitsmarkt“ und der alternden Gesellschaft. Gründer kämen nur schwierig an Risikokapital. „Richtig ist allerdings: Die energieintensive Industrie muss mit Energiestückkosten wirtschaften, die anderswo deutlich geringer sind.“ Dies werde auch mit dem Ausbau der Erneuerbaren so bleiben.

Was also tun, damit die Industrie in Deutschland noch eine Zukunft hat? „Der wichtigste Rat wäre, das Tempo bei der Energiewende zu drosseln, anstatt es noch weiter zu forcieren und dadurch die Kosten übermäßig in die Höhe zu treiben“, sagt RWI-Ökonom Frondel. „Es fehlt doch an allem: Speichern, Netzen, Geld, Fachkräften.“ Die von Deutschland und der EU verfolgte Vorreiterrolle sei „wirkungslos verpufft“, die klimapolitische Strategie müsse überarbeitet werden.

Er hält ein internationales Abkommen für einen globalen CO2-Preis für erstrebenswert. Solange Donald Trump Präsident der Vereinigten Staaten ist, dürften die Aussichten dafür aber gegen null gehen. „Drill, Baby, drill“ lautet dessen Motto. Statt neue Windkraftanlagen zu bauen, will Trump mehr Öl und Gas fördern.

Klimaforscher Edenhofer plädiert für mehr Ehrlichkeit. „So einfach und kostengünstig wie in der Vergangenheit Kohle, Öl und Gas transportiert werden konnten, ist dies bei Strom und Wasserstoff nicht möglich. Es ist jedoch unbezahlbar, unsere Industrie auf Dauer vor diesem Kostennachteil durch Subventionen zu schützen. Deshalb gilt: Wir kommen nicht um eine Anpassung herum.“

Er schlägt eine neue industrielle Arbeitsteilung vor, in der Deutschland besonders energieintensive Vorprodukte wie Ammoniak, Eisenschwamm und Methanol aus Ländern mit besseren Rahmenbedingungen für die Erzeugung von Ökostrom und Wasserstoff importiert. Edenhofers Modell liefe darauf hinaus, dass in bestimmten Bereichen Arbeitsplätze wegfielen, die Stahl- und Chemiestandorte aber bestehen bleiben könnten, wenn sie sich auf die Weiterverarbeitung der – günstig zugekauften – Vorprodukte konzentrieren.

„Grüne Leitmärkte“ als Chance für Klimafreundlichkeit

Zudem ist Edenhofer ein Anhänger „grüner Leitmärkte“, um die Nachfrage nach klimafreundlichen Produkten zu erhöhen. Einen solchen Leitmarkt kann die Politik zum Beispiel schaffen, indem sie bei Aufträgen der öffentlichen Hand vorgibt, wie viel Prozent des Stahls einer neuen Brücke klimafreundlich hergestellt worden sein muss. Auch der Wissenschaftliche Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums ist ein Verfechter solcher Leitmärkte. In den vergangenen Jahren bestand Industriepolitik dagegen vor allem aus dem Verteilen von Fördermitteln: Zuschüsse für die Umrüstung von Fabriken, Zuschüsse zu den höheren Betriebskosten einer klimafreundlichen Produktion und Zuschüsse zum Kauf klimafreundlicher Produkte wie Elektroautos und Wärmepumpen.

Hildegard Müller, Präsidentin des Verbands der Automobilindustrie (VDA), bekräftigt, dass ihre Branche zum Erreichen der Pariser Klimaziele steht. Auch sie weist darauf hin, dass sich die Strukturen in der Industrie durch den Wechsel von Verbrennern zu Elektroautos verändern werden. Laut einer Schätzung des Analyseinstituts Prognos werden durch die Elektrifizierung des Antriebsstrangs von Autos bis zum Jahr 2035 rund 190.000 Stellen überflüssig werden.

„Entscheidend ist also umso mehr, wo die Wertschöpfung und Jobs der Zukunft zu Hause sind“, betont Müller. Für ihre Branche hält sie vor allem den flächendeckenden Ausbau der Lade- und Wasserstofftankinfrastruktur für entscheidend, ebenso wie niedrigere Steuern und Abgaben auf den Strompreis – nicht nur für die Unternehmen, sondern auch, damit das Laden eines Elektroautos für die Verbraucher im Vergleich zum Tanken attraktiver wird.

Bessere Rahmenbedingungen zum Wirtschaften fordert auch der Verband der Familienunternehmen. „Förderprogramme sind kontraproduktiv, da sie immer nur selektiv begünstigen und den Markt verzerren“, sagt Präsidentin Marie-Christine Ostermann. „Wir Unternehmer brauchen Abschreibungsmöglichkeiten und steuerliche Bedingungen, die dem internationalen Vergleich standhalten können. Allgemeine Steuersenkungen wären das Gebot der Stunde.“

Laut einer Übersicht des Bundesverbands der deutschen Industrie (BDI) mussten Kapitalgesellschaften in Deutschland zuletzt effektiv knapp 27 Prozent Steuern auf ihre Erträge zahlen, in den USA dagegen nur 22 Prozent. Ostermann fordert auch, dass die Lohnzusatzkosten wieder auf 40 Prozent sinken. Aktuell verhinderten die hohen Arbeitskosten Investitionen.

In den wirtschaftspolitischen Plänen der Parteien gibt es zwei unterschiedliche Denkschulen. Sowohl die SPD als auch die Grünen wollen mit einer Steuerprämie in Höhe von zehn Prozent Unternehmen belohnen, die in Deutschland oder der EU investieren. Darüber hinaus wollen beide Parteien einen sogenannten Deutschlandfonds schaffen, der dem Staat – finanziert über neue Schulden – mehr Möglichkeiten verschafft, in die öffentliche Infrastruktur zu investieren.

Davon würden dann mittelbar beispielsweise die Bau- und die Stahlbranche profitieren. Die Grünen wollen außerdem Robert Habecks Industriepolitik fortführen, insbesondere das Instrument der Klimaschutzverträge noch ausweiten. Der Staat erstattet Unternehmen dabei über einen Zeitraum von bis zu 15 Jahren die Mehrkosten einer klimafreundlichen Produktion. Den Zuschlag erhalten dabei die Unternehmen, die am wenigsten Fördergeld brauchen, um eine Tonne CO2 einzusparen.

Die Union will einen anderen Weg gehen, sie setzt auf Steuerentlastungen für alle, in der Hoffnung, dass die Unternehmen die Ersparnis für Investitionen nutzen. Der Umfang von Subventionen soll nach dem Willen der Union dagegen sinken. Weitgehend einig sind sich die Parteien darin, dass die Netzentgelte auf den Strompreis sinken sollen. Über die Frage der Finanzierung – ob mit oder ohne neue Schulden – besteht dagegen keine Einigkeit. Die FDP möchte das im Klimaschutzgesetz verankerte Ziel, dass Deutschland im Jahr 2045 klimaneutral sein soll, um fünf Jahre nach hinten verschieben.

Was dagegen keine Partei möchte: den Beschäftigten in der Industrie sagen, dass sich nicht alle heutigen Arbeitsplätze erhalten lassen. Ökonomen weisen zwar immer wieder darauf hin, dass die Fachkräfte, die in der Auto- oder Stahlindustrie nicht mehr benötigt werden, zum Beispiel in Digital- oder Biotechunternehmen eine neue Aufgabe finden könnten. Doch vor allem die SPD will ihren Wählern das nicht zumuten. Als Reaktion auf die Sparpläne von Volkswagen forderte Scholz sogleich den Erhalt der Arbeitsplätze und Werke. Arbeitsminister Hubertus Heil verlängerte die Dauer des Kurzarbeitergelds. Die Vorstellungen darüber, was der Industrie hilft, gehen zwischen Politik und Wirtschaft weit auseinander.