Start-Chance-Programm: Fehlstart für die Schulen

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Immerhin, die Plakette hängt schon mal. „Wir sind eine Start-ChancenSchule“ steht darauf, außerdem sind die Förderer genannt: das Bundesministerium für Bildung und Forschung und das niedersächsische Kultusministerium. Das quadratische Schild ist im Eingangsbereich der Grundschule am Lerchenberg in Wesendorf angebracht.

Jede Schule in Niedersachsen, die für das Start-Chancen-Programm ausgewählt wurde, habe sie vor einigen Monaten bekommen, erzählt Schulleiter Jörg Bratz. Man muss sich den Zweiundsechzigjährigen als engagierten Schulleiter vorstellen. Als einen, der sich als Vorsitzender des Verbands Leitungen Niedersächsischer Grundschulen (LNGS) einbringt, einen, der sogar seinen geplanten Renteneintritt verschiebt, weil er sich vom Start-Chancen-Programm erhofft, noch mal richtig etwas zu bewegen an der Schule, die er seit mehr als 20 Jahren leitet. Die Freude sei groß gewesen, dass seine Schule ausgewählt worden ist für das Start-Chancen-Programm, erzählt er. „Ich spüre da eine große Verantwortung.“ Doch nun, ein halbes Jahr, nachdem der Startschuss für das Start-Chancen-Programm gefallen ist, spricht Bratz von einem „Enttäuschungsprozess“.

Diese Enttäuschung, so sagt es Bratz, komme auch daher, dass die Erwartungen an das Programm in den Schulen enorm waren. Zur Erinnerung: Das Start-Chancen-Programm ist das wohl wichtigste Projekt der mittlerweile zurückgetretenen Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP). Nicht weniger als das „größte Bildungsprogramm in der Geschichte unseres Landes“ sei es, sagte sie vor rund einem Jahr. „Wir setzen mit dem Programm Impulse für ein moderneres und leistungsfähigeres Bildungswesen und erneuern das Aufstiegsversprechen.“

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.


Hierfür stehen in den kommenden zehn Jahren zwanzig Milliarden Euro bereit, finanziert zu gleichen Teilen von Bund und Ländern. Das Geld soll in Schulen investiert werden, die Unterstützung besonders nötig haben. Ausgewählt wurden sie anhand eines Sozialindexes, der beispielsweise den Anteil an Schülern mit Migrationshintergrund und die Arbeitslosenquote im Einzugsgebiet der Schule berücksichtigt. Etwas mehr als 2000 Schulen sind im vergangenen Jahr bereits an den Start gegangen, bis zum Schuljahr 2026/2027 sollen es 4000 sein. Dabei verteilt sich das Geld auf drei Säulen: Das Budget aus Säule I steht für eine bessere räumliche Ausstattung zur Verfügung, mit der Säule II sollen Maßnahmen zur Schul- und Unterrichtsentwicklung finanziert werden, über die dritte Säule soll mehr Personal eingestellt werden können.

Die Hoffnungen, die auf dem Start-Chancen-Programm ruhen, sind hoch. Sämtliche Vergleichsstudien, ob IGLU, PISA oder der IQB-Bildungstrend, weisen auf dramatische Verschlechterungen in der Lese- und Rechenkompetenz der Schulkinder in Deutschland hin. Wenn das Programm nach zehn Jahren ausläuft, soll die Zahl der Schüler, die die Mindeststandards in Deutsch und Mathe verfehlen, an den Start-Chancen-Schulen halbiert sein.

Das ist ein ehrgeiziges Vorhaben. Schulleiter Bratz findet: Es gibt keine Zeit zu verlieren. Doch genau das passiere gerade. „Das erste Jahr im Start-Chancen-Programm dümpelt so vor sich hin“, sagt er. Seit dem Start des Programms am 1. August vergangenen Jahres hat sich bis auf die Plakette im Eingangsbereich an seiner Schule nichts getan. Es gab zwar mehrere Newsletter und Kick-off-Veranstaltungen, bei denen sich die Schulleiter untereinander vernetzen sollten. Bei einer dieser Veranstaltungen wurden auch die Plaketten ausgehändigt. Aber viele Dinge seien noch nicht klar: etwa wofür genau das Geld ausgegeben werden kann und wie viele Freiheiten die Schulleiter bei der Entscheidung über die Maßnahmen tatsächlich haben.

Eine Herausforderung für die Länder und Kommunen

Über die zweite Säule des Programms steht den Schulen in Niedersachsen jährlich ein Sockelbetrag von 40.000 Euro plus 50 Euro je Schüler zur Verfügung. An Ideen, was er mit diesem Budget verbessern und bewirken will an seiner Grundschule, mangelt es Bratz nicht. Doch ausgeben kann er das Geld bislang nicht: Die Beantragung von Maßnahmen soll über die Schulsoftware erfolgen, die zu diesem Zweck gerade noch umprogrammiert wird. „Hier findet in Kürze die Pilotierung und Erprobung mit einer Gruppe von Programmschulen statt“, so eine Sprecherin des niedersächsischen Kultusministeriums.

Nicht nur in Niedersachsen beklagen die Schulen, dass ihnen entscheidende Informationen fehlen, sie keine konkreten Ausgaben planen können. Für die Länder und Kommunen ist das Start-Chancen-Programm eine enorme Herausforderung. „Die Umsetzung eines derart komplexen Vorhabens mit mehreren Programm- und Zielebenen und einer Laufzeit von zehn Jahren ist tatsächlich als ,Mammutaufgabe‘ zu bezeichnen“, heißt es aus dem niedersächsischen Kultusministerium. Das Start-Chancen-Programm sorgt mitunter auch für Ärger zwischen Bund und Ländern. „Das Start-Chancen-Programm ist wahrlich kein Jahrhundertprogramm für die Bildung, wie es der Bund propagierte“, sagt der hessische Kultusminister Armin Schwarz der F.A.S. „Es kommt nur einem sehr kleinen Teil der Schulen zugute und ist darüber hinaus ein Bürokratiemonster.“

In seinem Bundesland haben die Schulen im Jahr 2024 Mittel aus der Säule II im Umfang von rund 110.000 Euro in Anspruch genommen. Darüber hinaus sind laut Ministerium bislang rund 162.000 Euro für umgesetzte Personalmaßnahmen abgeflossen. Hiervon hat zum Beispiel die Adolf-Reichwein-Schule im hessischen Pohlheim profitiert. „Ich habe mich noch in den Sommerferien um eine FSJlerin bemüht – und auch bekommen“, erzählt Schulleiterin Petra Brüll. Außerdem konnte Brüll zum Dezember eine Sozialarbeiterin über die dritte Säule des Programms einstellen, eine weitere Teilzeitstelle wird in Kürze ebenfalls besetzt.

Viele Schulen haben noch keinen Cent gesehen

Für Brüll, deren integrierte Gesamtschule knapp 700 Kinder und Jugendliche besuchen, ist das gleichwohl ein „Tropfen auf den heißen Stein“, wie sie sagt. Wie an den meisten Schulen ist der Personalmangel auch für Brüll eine der größten Herausforderungen. Der Prozess sei zäh gewesen, sie musste sich durchtelefonieren, sagt sie. Trotzdem ist Brüll anzumerken, wie froh sie ist, dass überhaupt etwas passiert. Auch ein Onlineprogramm für die Fächer Deutsch, Englisch und Mathe hat sie schon mit dem Budget des Start-Chancen-Programms gekauft. Unklar ist Brüll allerdings noch immer, wie viel Geld in der Säule I, der „Bausäule“, zur Verfügung steht. Dabei wäre mehr Platz „in Zeiten von Inklusion“ dringend notwendig, erklärt sie – zum Beispiel wenn einzelne Schüler mit einer Lehrkraft Inhalte parallel zum Unterricht vertiefen wollen. „Es ist nicht gerade hilfreich, wenn man hierfür auf den Flur ausweichen muss.“

Auch wenn in Hessen nicht alles rund läuft – in vielen anderen Bundesländern besteht bislang überhaupt keine Möglichkeit, die Gelder abzurufen, wie eine Umfrage der F.A.S. unter den Kultusministerien zeigt. Weder in Niedersachsen, Sachsen-Anhalt, Sachsen noch Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern oder im Saarland ist bislang Geld aus dem Start-Chancen-Programm an die Schulen geflossen.

Und auch auf Bundesebene stockt es. Für die Säule I des Programms, das für räumliche Umbauten und Verbesserungen gedacht ist, sind bis Ende 2024 840.000 Euro abgeflossen. Dies geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage von Thomas Jarzombek, dem bildungspolitischen Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, hervor. Eigentlich hat der Bund für das erste halbe Jahr des Programms 200 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Das Problem: In den meisten Bundesländern liegt noch keine Förderrichtlinie für die erste Säule des Programms vor, aus der hervorgeht, welche Projekte durch das Start-Chancen-Programm finanziert werden können.

Die Pressebilder sind gemacht

Die vom Bund abgerufenen 840.000 Euro sind vollständig an Bremen geflossen. Auch sonst scheinen in der freien Hansestadt die Dinge schneller voranzugehen als andernorts: Über die Säulen II und III sind bereits 3,3 Millionen Euro direkt an die Schulen ausgegeben worden, heißt es aus der Freien Hansestadt. „Mit diesem Geld sind insbesondere Maßnahmen zur Stärkung der basalen Kompetenzen in Deutsch und Mathe umgesetzt worden“, so eine Sprecherin. Allen Schulen stehe zudem eine persönliche Schulentwicklungsbegleitung zur Verfügung.

In Thüringen hingegen herrscht an vielen Start-Chancen-Schulen Ernüchterung. „Die Plaketten sind an der Fassade, die Pressebilder sind gemacht – und mehr ist da nicht passiert“, sagt Tim Reukauf, Vorsitzender des Thüringer Lehrerverbands. „Hier wird ein wichtiges und notwendiges Projekt verschleppt.“ Es sei normal, dass derartige Programme eine Weile in den Kinderschuhen steckten – „aber dieses ist noch nicht einmal losgekrabbelt“. Den Schulleitern sei nicht klar, wie die Mittel beantragt und abgerufen werden könnten. Eine Anfrage der F.A.S. beim zuständigen Kultusministerium hat ergeben, dass in gewissem Umfang durchaus Maßnahmen umgesetzt worden sind: „Der Abfluss für die bereits im Programm gestarteten Schulen wird auf 400.000 Euro geschätzt, etwa zur Hälfte Personalausgaben und Mittel für Fortbildungen und zur anderen Hälfte Maßnahmen von Freien Bildungsträgern.“ Aktuell gebe es allerdings keine Möglichkeit des Mittelabrufs direkt von den Schulen, da der Landeshaushalt noch nicht verabschiedet wurde.

Wie viele Schulleiter in Deutschland hofft Jörg Bratz von der Grundschule am Lerchenberg in Niedersachsen, dass dieses Jahr endlich mehr Klarheit ins Start-Chancen-Programm bringt. Mit dem Geld möchte er zum Beispiel „Lernbüros“ einrichten, in denen die Kinder selbständig an ihren Aufgaben arbeiten können. Und endlich mehr Leute einstellen.