Als der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts im Mai 2020 über die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung entschied (1 BvR 2835/17), brachten es die Urteilsgründe, mit denen der damalige Regelungskomplex des Bundesnachrichtendienstgesetzes verworfen wurde, auf 160 Druckseiten in der amtlichen Sammlung. Davon entfielen etwa 75 Seiten auf die Verhältnismäßigkeitskontrolle, bei der überbordende abstrakte Maßstäbe der Angemessenheit entwickelt und vor die Klammer gezogen wurden. Das war vielleicht eine Ausnahmeentscheidung. Gleichwohl würde man wohl intuitiv eine schleichende Landnahme einer immer filigraneren Verhältnismäßigkeitsprüfung in der Verfassungsrechtsprechung vermuten. Lässt sich dieses Bauchgefühl aber auch statistisch belegen?
Ein Forschungsteam um das an der Humboldt-Universität zu Berlin angesiedelte Projekt „Leibniz Linguistic Research into Constitutional Law“ hat jüngst versucht, dem auf den Grund zu gehen; Bent Stohlmann und seine Kollegen präsentieren ihre Ergebnisse in der Zeitschrift „Der Staat“ (Bd. 63, H. 2, 2024). Das Projekt möchte „ein umfassend annotiertes Korpus der verfassungsgerichtlichen Entscheidungen“ erstellen, um „anhand dessen quantitative Untersuchungen juristisch-inhaltlicher und sprachlicher Art durchzuführen“.
Eine statistische Auswertung, welche Rolle hierbei die Verhältnismäßigkeit einnimmt und wie sich der Begründungsaufwand über die vier Prüfungsstufen – legitimer Zweck, Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit – verteilt, anhand einer Stichprobe von 300 zufällig ausgewählten Senatsentscheidungen ist hierfür ein Probeballon. Die Untersuchung möchte demonstrieren, dass eine quantitative Rechtsprechungsanalyse wertvolle Erkenntnisse für eine im Kern weiterhin hermeneutische Rechtswissenschaft verspricht, die sich mit Zahlen ebenso schwertut wie mit Empirie.
Angemessenheit braucht Platz
Die Untersuchung will zwar eine relative Zunahme der Entscheidungen, in denen die Verhältnismäßigkeit Thema wird, im Zeitraum seit der Errichtung des Bundesverfassungsgerichts 1951 bis 2020 erkennen. Der relative Anteil des Raumes, den die Verhältnismäßigkeit in den Gründen durchschnittlich einnehme, gehe jedoch zurück. Die Angemessenheit nehme hierbei – gefolgt vom Zweck – die meisten Platz ein, das Gesamtgewicht hänge aber von konkreten Fall ab. Die Befürchtung, die Grundrechtsdogmatik löse sich in der Verhältnismäßigkeitsprüfung auf, sei nach alledem unbegründet.
Aber was prüft das Gericht im Grundrechtsbereich neben Fragen des Schutzbereichs und der Gesetzgebungskompetenz jenseits der Verhältnismäßigkeit überhaupt noch? Dass das Gewicht der Verhältnismäßigkeitskontrolle kasuistisch bleibt, verwundert nicht, denn in kontextbezogenen Relationierungen liegt gerade ihr besonderer Sinn.
Weitere Fragezeichen sind angebracht. Ausgewertet wurden je zur Hälfte Entscheidungen des Ersten und des Zweiten Senats, obwohl Senatssachen im Zweiten Senat ganz überwiegend das Staatsorganisationsrecht betreffen, in dem die Verhältnismäßigkeit dogmatisch eine randständige Rolle spielt.
Dass die Hälfte der zufällig ausgewählten Entscheidungen die Verhältnismäßigkeit nicht zum Thema macht, kann daher kaum überraschen. Die Senatsrechtsprechung wird zudem seit 1998 durch Beschlüsse der mit drei Richtern besetzten Kammern ergänzt, die zahlenmäßig ein Vielfaches der Senatsentscheidungen ausmachen und neben wenigen unzulässigen Richtervorlagen ausschließlich Verfassungsbeschwerden, mithin Grundrechtsfragen, betreffen. Hier werden die Erträge der Grundsatzentscheidungen der Senate nebst konkretisierter Verhältnismäßigkeit fallbezogen fruchtbar gemacht. Die Kammerrechtsprechung auszublenden verzerrt die Wahrnehmung.
Die Bedeutung der Verhältnismäßigkeit lässt sich kaum bewerten, ohne die unterschiedliche Implementation in heterogenen Rechtsgebieten qualitativ und folgensensibel zu betrachten. So hat ein gutes Dutzend Senatsentscheidungen in den letzten zwölf Jahren mit einem Overkill an kleinteiliger Angemessenheitskontrolle das Sicherheitsverfassungsrecht umgepflügt – mit weitreichenden Folgen für die Gesetzgebung.
Andere Bereiche wie das Abgaben-, Hochschul- oder das Rundfunkverfassungsrecht haben Sonderdogmatiken entwickelt. Und manches, was einmal mit einer gestuften Prüfung begann, ist heute kanonisiert, was die Verhältnismäßigkeit nur unsichtbar macht. Schließlich wirkt das Bundesverfassungsgericht maßgeblich durch die Fachgerichtsbarkeit, die Verfassungsrechtsprechung fallbezogen rezipiert. Eine einzige Senatsentscheidung kann so eine immense Breitenwirkung entfalten. Die akzessorische Rolle der Verhältnismäßigkeit im Verwaltungsrecht lässt sich hierbei viel schwerer ermitteln.
Quantitative Methoden können die rechtswissenschaftliche Forschung bereichern. Das wird aber nur gelingen, wenn man eine stärkere Auflösung nach qualitativen Kriterien erreicht. Die These, die Verhältnismäßigkeitsdoktrin befinde sich eher auf dem Rückzug denn auf fortgesetztem Siegeszug, dürfte auf sandigem Boden stehen.