Wie Russland Inder zwingt, in der Ukraine zu kämpfen

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Arbab Husain wollte eigentlich nur etwas Geld verdienen. Doch dann fand er sich mit zwei Freunden in einer kalten Weltregion wieder, wo ihm Kultur, Sprache und Essen fremd vorkamen und die Granaten vom Himmel flogen. Es war Januar, die Tage waren kurz, und es herrschte überwiegend Dunkelheit an der Front in der Ukraine. Der heute 23 Jahre alte Inder aus dem nordindischen Bundesstaat Uttar Pradesh hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Er und seine Freunde Mohammed Asfan und Zahoor Ahmed folgten nur den Anweisungen eines rus­sischen Soldaten, während in der Umgebung ukrainische Drohnen Bomben ab­warfen und Artilleriegeschosse einschlu­gen. Nach zwei bis drei Tagen geriet der kleine Trupp selbst in einen Angriff. Husain sah zuerst eine Explosion. Dann hinter seinen zersprungenen Brillengläsern fast nichts mehr. Sein Gesicht schmerzte von den Granatsplittern, die sich in das Fleisch gebohrt hatten.

Die Russen schickten ihn trotzdem sofort zurück aufs Schlachtfeld. „Sie sagten, geht in diese Richtung, und tötet die Kämpfer auf der anderen Seite”, berichtet Husain. Die Inder waren davon komplett überfordert. „Wir hatten überhaupt keine Ahnung, was geschieht. Woher sollten wir auch? Wir haben eine solche Situation noch nie erlebt.“ Die unfreiwilligen Söldner hatten nur drei Tage rudimen­täres Training bekommen. „Sie gaben uns AK-47, Panzerfäuste und Granaten, Rauchgranaten, Drohnen, all diese Waffen, mit denen sie auch selbst kämpfen“, sagt Husain. Es dauerte nicht lange, bis er von den beiden Freunden getrennt wurde. Bei dem letzten Angriff, den er miterlebte, hatten sie sich in einem Haus verschanzt. Es wurde bei einem Drohnenangriff fast komplett zerstört. Der russische Soldat neben ihm war sofort tot. Husain erlitt schwere Verletzungen an seiner linken Hand und im Gesicht. Im Arm waren Muskeln durchtrennt, seine Lippen „nur noch schwarz und blutig“.

Husain gehörte mit seinen zwei Freunden zu den ersten Indern, die vor einem Jahr in Russland an die Front geschickt worden waren. „Wir suchten nur eine Ar­beit, in Indien fehlt es an Jobs“, sagt der Mann, der einen Bachelorabschluss hat, der F.A.Z. in Neu Delhi. Den jüngsten Angaben des indischen Außenminis­te­riums zufolge sind seit Kriegsbeginn insgesamt 126 indische Söldner für Russland in den Krieg gezogen. Zwölf sind tot, 96 sind wie Husain nach Indien zurückgekehrt und offiziell aus der russischen Armee „entlassen“ worden. 18 sind noch in der Armee tätig, davon gelten 16 als vermisst. Sie wurden alle mit falschen Versprechungen nach Russland gelockt und dann in den Kriegsdienst gezwungen. „Auf Youtube sah ich einen Kanal mit dem Namen ‚Baba Vlogs‘. Es war die Rede davon, dass es wir in Russland die Möglichkeit hätten, mehr als 120.000 Indische Rupien im Monat zu verdienen“, berichtet Husain. Die umgerechnet 1.350  Euro wären ein für indische Verhältnisse stattliches Gehalt gewesen.

Arbab Husains Freunde sind nie heimgekehrt

Den vollmundigen Ankündigungen zufolge sollten die Inder in Russland ein­fache Arbeiten erledigen. Sie sollten für den Zoll Waren abfertigen, Kisten schleppen oder kochen, je nach der jeweiligen Eignung. Doch als die drei in Russland ankamen, merkten sie, dass nichts davon stimmte. Stattdessen wurden ihnen die Pässe abgenommen, sie mussten Verträge unterschreiben, die sie nicht verstanden, bekamen ein Gewehr in die Hand gedrückt und wurden schon nach ein paar Tagen an die Front geschickt. „Sie zwingen dich mit vorgehaltener Waffe. Und wenn du nicht folgst, dann knallen sie dich ab. Sie bringen dich um, ganz klar bringen sie dich um“, sagt Husain. Ihm zufolge war die Zeit an der Front nicht nur wegen der ständigen Angriffe eine Tortur. Es herrschten Tiefsttemperaturen, es fehlte an Nahrungsmitteln, und um Trinkwasser zu bekommen, mussten die Soldaten den Schnee in ei­nem Topf über dem Feuer schmelzen. Die russischen Soldaten sprachen kaum Englisch, und ohne seine beiden Freunde fühlte er sich einsam.

Verlangen vom Außenministerium Antworten: Angehörige von unfreiwilligen Söldnern im Januar in Neu Delhi
Verlangen vom Außenministerium Antworten: Angehörige von unfreiwilligen Söldnern im Januar in Neu DelhiTill Faehnders

Die einzige Chance, um herauszukommen, war eine Verletzung. So wie bei Husain, der die russischen Kommandeure nach dem Drohnenangriff anflehte, zur Behandlung in ein Krankenhaus eingewiesen zu werden. Nachdem er das Einverständnis bekommen hatte, lief er fünf Kilometer durch die Nacht bis zum Krankenhaus. Doch auch dort wollen sie ihn umgehend an die Front zurückschicken. Es wurden ihm zufolge in dem Krankenhaus nur solche Soldaten behandelt, die Gliedmaßen verloren hatten. Husain forderte, wenigstens seine Botschaft kontaktieren zu dürfen. Danach wurde er in ein anderes Krankenhaus für russische Kommandeure gebracht. Von dort aus ge­lang ihm schließlich die Flucht. Er reiste mit dem Taxi über Hunderte Kilometer nach Moskau bis zur indischen Botschaft. Im April 2024 war er dann endlich nach Indien zurückgekommen.

Die beiden Freunde hatten dieses Glück im Unglück nicht. Mohammed Asfan aus Hyderabad wurde in einer Drohnenattacke getötet, Zahoor Ahmed aus Kaschmir wird weiter vermisst. Husain ist deshalb nach Neu Delhi gereist, um mit dem indischen Außenministerium zu sprechen. Er hat sich einer Gruppe von rund einem Dutzend Indern angeschlossen, deren Angehörige und Freunde verschollen sind. Die meisten sind zwischen zwanzig und vierzig, deren Brüder, Onkel und Gefährten in Russland sein sollen. In dicke Jacken und Mützen gehüllt, haben sie sich am India Gate getroffen, dem Triumphbogen und Wahrzeichen der Hauptstadt. „Es ist ein Jahr vergangen, und wir sind frustriert. Es geht vor allem darum, herauszufinden, wo sie sich befinden und ob sie noch am Leben sind“, sagt der 31 Jahre alte Jagdeep Kumar, dessen Bruder Mandeep ebenfalls verschollen ist. „Wenn sie nicht helfen können, dann sollen sie uns das klar sagen, dann probieren etwas anderes.“

Ein Videoblog lockte die Inter nach Russland

Der Plan ist, nach Russland zu reisen, um selbst herauszufinden, was mit den Angehörigen passiert ist. Bisher halten sich die indische Botschaft in Moskau und das Außenministerium in Neu Delhi bedeckt. Die Angehörigen berichten nur von einem Treffen, bei dem das Außenministerium versprach, alle Informationen aus Russland direkt weiterzugeben. Doch seitdem hatten sie nichts mehr gehört. Immerhin sind mittlerweile die „Baba Vlogs“, in denen ein in Dubai ansässiger Mann namens Faisal Khan indische Ar­beiter rekrutierte, in Indien gesperrt. In­dische Ermittler teilten mit, gegen ein Netzwerk aus Bloggern, Influencern und Ar­beitsvermittlern vorgegangen zu sein. Indiens Außenministerium hat außerdem den Ton gegenüber Russland verschärft, nachdem kürzlich der Tod eines 32 Jahre alten Elektrikers aus dem Bundesstaat Ke­rala verkündet wurde. Das indische Außenministerium erklärte, die Sache bei den russischen Behörden „mit Nachdruck“ vorgebracht zu haben.

Aijaz Ahmed aus der Region Kaschmir sucht nach Hinweisen auf den Verleib seines vermissten Bruders Zahoor Ahmed.
Aijaz Ahmed aus der Region Kaschmir sucht nach Hinweisen auf den Verleib seines vermissten Bruders Zahoor Ahmed.Till Fähnders

Durch den anhaltenden Einsatz ahnungsloser Inder an der Front droht eine Eintrübung des bisher engen indisch-russischen Verhältnisses. Obwohl der Westen seit der russischen Invasion Druck auf Neu Delhi ausübt, sich von Moskau zu distanzieren, blieb die Regierung bisher bei ihrer neutralen Haltung. Zugleich hatte Indien den Handel mit Russland deutlich erhöht. Indien gehört zu den größten Importeuren russischen Öls und damit auch zu den wichtigsten Stützen von Wladimir Putins Regime. Ende des vergangenen Jahres wurde über einen bald anstehenden Besuch des russischen Präsidenten in Indien spekuliert. Bisher wurde aber noch kein Datum bekannt gegeben. Dem indischen Außenministerium zufolge wird „auf diplomatischen Kanälen“ über einen Termin gesprochen. Diesen Montag jedenfalls hat der Duma-Vorsitzende Wjatscheslaw Wolodin Neu Delhi besucht.

Schon nach dem Moskau-Besuch des indischen Regierungschefs Narendra Modi im vergangenen Juli hatte Russland angekündigt, alle indischen Sol­daten aus der russischen Armee zu entlassen. Die jüngsten Entwicklungen zeigen aber, dass dies nicht in vollem Umfang geschehen ist. Für die Familien und Freunde der Vermissten ist die Ungewissheit schwer zu ertragen. Zu der Gruppe von Angehörigen, die nach Neu Delhi gereist sind, gehört auch Aijaz Ahmed aus dem indischen Teil der Region Kaschmir. Er ist der Bruder Zahoor Ahmeds, der mit Husain nach Russland gegangen war und nun vermisst wird. „Es ist ein quälendes Gefühl, dass wir nicht wissen, was mit ihm passiert ist. Er könnte noch leben oder schon tot sein“, sagt der 30 Jahre alte Mann. Das letzte Mal habe der Bruder am Silvesterabend 2023 bei der Familie angerufen. „Er sagte nur, er gehe für drei Monate zu einem Training. Aber hat nicht gesagt, was für ein Training“, berichtet der Bruder unter Tränen.

Der Alleinverdiener ging an die Front

Die Eltern, die viel Geld für die Ausbildung ihres Sohnes ausgegeben und auf eine erfolgreiche Karriere gehofft hatten, litten besonders unter der Situation. Das Geld für die Reise hatte sich Ahmed von seiner Familie geliehen. Wie die anderen Inder hatte auch er eine Gebühr von 350.000 Indischen Rupien bezahlt, um nach Russland zu gehen. Der Großteil der umgerechnet fast 4.000 Euro ging in Raten an „Baba Vlogs“. Einige Familien haben mit den Folgen für ihr Einkommen zu kämpfen. Vor einem Jahr ist der 42 Jahre alte Vater von Ajay Yadav nach Russland gegangen, als Alleinverdiener der Familie. Er hatte als Bauer und Koch und für einige Jahre in Malaysia als Gärtner gearbeitet. Vor einem Jahr war er mit dem Bruder seiner Ehefrau nach Russland gegangen. „Der Grund waren die Armut und die Situation unserer Familie. Sie müssen für die Familie aufkommen“, sagt der 23 Jahre alte Sohn.

Im April sei der Vater an die Front gegangen, am 7. Mai wurde er bei einem Granatenangriff am rechten Bein verletzt. Der Vater berichtete bei einem Telefonat von einer Infektion und einer Verlegung in ein Krankenhaus näher an Moskau. „Ich rufe an, wenn ich in dem Krankenhaus bin“, habe er gesagt. Es war das letzte Mal, dass die Familie von ihm hörte. Monatelang gab es kein Lebenszeichen. Im Dezember bekam die Familie schließlich ei­nen Anruf von der indischen Botschaft in Russland. Demnach war der Vater schon am 17. Juni in einem der Krankenhäuser in Russland gestorben. Am 23. Dezember wurde sein Leichnam nach Indien überführt. Yadav zeigt ein Foto der ausgezehrten und dunkel angelaufenen Leiche, die seine Familie empfangen hatte. Der Sohn will nun versuchen, Informationen über seinen Onkel zu erhalten. Er verlangt zudem, dass der Familie das Geld ausgezahlt wird, das dem Vater für seinen Fronteinsatz zustehe. Den Angehörigen zufolge hat bisher kaum jemand eine Entschädigung er­halten.

Viele Familien konnten sich nicht einmal die Reise nach Neu Delhi leisten, für den Termin im Außenministerium. Bevor sie sich auf den Weg zu dem Ministerium machen, versammeln sich die Männer noch zu einem Gruppenfoto mit dem India Gate im Hintergrund. Später berichten sie, dass ein hoher Vertreter des Au­ßenministeriums ihnen bei dem Termin Hilfe angeboten habe. Das Ministerium werde ihnen einen Brief ausstellen, den sie der indischen Botschaft in Moskau geben könnten. Diese werde ihnen bei der Suche nach ihren Angehörigen unter die Arme greifen. „Ein paar Familien planen jetzt, nach Russland zu reisen“, sagt Husain. „Sie werden dort Fragen stellen: Wo sind unsere Angehörigen? Leben sie noch? Und wenn nicht, dann sollten ihre sterblichen Überreste ihren Familien zurückgegeben und eine Entschädigung gezahlt werden“, kündigt er an. Husain selbst wird die Tage an der ukrainischen Front niemals vergessen. Er sagt: „Ich habe jederzeit gedacht, der nächste Moment könnte der letzte meines Lebens sein.“