Die Bilder, die am Samstagabend aus Damaskus dringen, erinnern an den Sturz anderer arabischer Diktatoren: Soldaten verlassen ihre Posten, entledigen sich ihrer Uniformen und streifen sich Zivilkleidung über. Aufnahmen aus mehreren Vororten zeigen Szenen des Aufstands. Es handelt sich um Bastionen der Gegner von Präsident Baschar al-Assad, die brutal belagert und ausgehungert wurden. Orte wie Darayya, von wo ausgemergelte Aufständische über wacklige Verbindungen berichtet hatten, sie würden Gras essen, um zu überleben.
Am frühen Sonntagmorgen erklärten die Rebellen, angeführt von der Islamistenallianz „Hay’at Tahrir al-Scham“ (HTS) in einer Stellungnahme: „An die Vertriebenen aus aller Welt, das freie Syrien erwartet Euch.“ Die Hauptstadt sei unter ihrer Kontrolle. Es wurden Videos vom Internationalen Flughafen verbreitet, in denen Kämpfer triumphierten. Assad, so hieß es in mehreren Berichten, sei aus Damaskus geflohen.
„Alle wissen, dass es für das Regime vorbei ist“, berichtet ein Einwohner der F.A.Z. am Telefon, der wie viele andere den Zusammenbruch des Regimes vor allem durch die Fenster seiner Wohnung beobachtet – die Leute blieben zu Hause, es gebe keinen Strom mehr, kaum noch Internet, die Läden hätten alle geschlossen. „Sie sind aber zu feige, sich zu ergeben“, sagt er über Baschar al-Assad und seine Erfüllungsgehilfen.
Assad zeigt sich nicht
Das Regime hatte bis zuletzt versucht, den fortschreitenden Verfall mit Propaganda zu übertünchen. Die Streitkräfte verkündeten am Samstagabend, sie hätten Hunderte „Terroristen“ getötet, Dutzende ihrer Fahrzeuge zerstört, die Bevölkerung solle der Feindpropaganda keinen Glauben schenken. Die amtliche Nachrichtenagentur meldet, der Präsident gehe seinen Geschäften nach. Aber er zeigte sich nicht. Am Samstagabend hatte es noch Gerüchte gegeben, Assad werde eine Ansprache an die Bevölkerung geben, doch die blieb aus.
Stattdessen gab es Bilder von Jubelfeiern an Orten, die zuvor an die Aufständischen gefallen war. Sie zeigten Gefangene, die aus den Kerkern des Regimes befreit wurden. Auch das berüchtigte Sednaya-Gefängnis, wo das Regime Tausende seiner Gegner organisiert zu Tode folterte, wurde laut übereinstimmenden Berichten von den Rebellen eingenommen. Videos zeigten Oppositionelle, die sich jahrelang vor Assads Schergen verstecken mussten und sich nun wieder auf die Straße trauten. Familien, die nach Jahren der Trennung wieder vereinigt wurden, weil Geflohene es wagten, im Windschatten der Rebellenoffensive zurückzukehren.
Zugleich herrscht Unsicherheit, was die nächsten Tage, Wochen, Monate, dem Land bringen werden. Nicht alle vertrauen darauf, dass HTS-Anführer Abu Muhammad al-Golani, der inzwischen unter seinen bürgerlichen Namen Ahmed Scharaa auftritt, seinem pragmatischen Kurs treu bleibt. Er hat wiederholt erklärt, Racheakte oder Plünderungen seien zu unterlassen.
Auch Alawiten unterstützen Assad nicht mehr
Er hatte sich außerdem lange vor dem Beginn der Offensive darum bemüht, Ängste unter den Minderheiten zu zerstreuen – auch unter den Alawiten, Assads Bevölkerungsgruppe. Aber ausräumen ließ sich die Furcht nicht. Im alawitischen Kernland an der Küste, ist der syrische Gewaltherrscher zugleich so unbeliebt, dass sich der Wunsch, dort eine alawitische Bastion unter der Herrschaft des Assad-Clans zu errichten, in engen Grenzen hält. In einer Stellungnahme einflussreicher alawitischer Persönlichkeiten wurde das Ende Assads sogar öffentlich gutgeheißen: „Lang lebe das freie Syrien“, hieß es da.
Eine weitere große und offene Frage ist die nach einer zukünftigen Ordnung. Die Assad-Gegner sind untereinander zerstritten. Die Brigaden, die aus der Südprovinz Daraa in Richtung Damaskus marschierten, haben wenig für die Islamistenmilizen aus dem Süden übrig. Türkeitreue arabische Gruppen versuchen kurdische, mit der PKK-Organisation verbandelte Freischärler im Nordosten zurückzudrängen. Die Milizen der dort herrschenden kurdisch dominierten Autonomieregierung drängten in den vergangenen Tagen ihrerseits das Regime in der Ostprovinz Deir ez-Zor zurück und brachten Grenzübergänge unter ihre Kontrolle, die einst von irantreuen Kräften kontrolliert worden waren.
Das Regime in Teheran, ein wichtiger Unterstützer des Regimes, hatte schon am Freitag damit begonnen, militärisches Personal aus Syrien abzuziehen. Ranghohe Kommandeure der Quds-Eliteeinheit der Revolutionsgarde und ein Teil der Diplomaten hätten das Land verlassen, berichtete die „New York Times“. In Vorausschau, auf das, was kommen würde, passten die iranischen Staatsmedien ihre Berichterstattung an. Sie nannten die Aufständischen auf einmal nicht mehr Terroristen, sondern bewaffnete Opposition. Die amtliche Nachrichtenagentur Irna berichtete über desertierende syrische Soldaten, was bis vor Kurzem undenkbar gewesen wäre.
Iran zieht sich zurück
Teheran wurde ebenfalls von den Ereignissen überrollt, die mit der Rebellenoffensive im Nordsyrien begannen, die sich zu einem spektakulären Eroberungszug auswuchs, in dem die Städte Aleppo, Hama und Homs an die Aufständischen gefallen waren. Noch vor wenigen Tagen hatte Irans Außenminister Abbas Araghchi demonstrativ gelassen in einem Schawarma-Imbiss in Damaskus gespeist. Schon da musste die Führung in Teheran aber zumindest geahnt haben, dass Assad nicht mehr zu retten war. Das Land, das den Diktator gemeinsam mit Russland über Jahre am Leben gehalten hatte, machte wenig Anstalten, seinen Sturz noch militärisch aufzuhalten. Wenn die syrische Armee nicht kämpfe, hieß es in Teheran, könne man auch nichts machen.
Mit dem Sturz Assads sieht sich Iran nun in direkter Schusslinie Israels und der Vereinigten Staaten. „Nach Gaza haben sie sich Libanon geholt, jetzt haben sie sich Syrien geholt. Das beschränkt sich nicht auf Syrien, denn die ganze Region ist bedroht“, sagte Araghchi. Statt einer Streitkraft hatte Irans Oberster Führer Ali Khamenei am Freitag seinen Berater Ali Laridschani zu Assad nach Damaskus entsandt. Er ist zu Khameneis Mann für die schlechten Nachrichten geworden. Zuvor hatte er schon in Libanon die Abstimmung mit der Hizbullah über die Waffenruhe mit Israel übernommen.
Auch Russland, der zweite große Förderer Assads, konnte seinen Niedergang nicht bremsen. Außenminister Sergej Lawrow trat am Samstagnachmittag auf dem „Doha Forum“, einer großen Konferenz in der qatarischen Hauptstadt zwar noch breitbeinig auf. „Es ist nicht unsere Aufgabe, zu überprüfen, wer besorgt ist und wer nicht“, sagte er auf die Frage, ob das syrische Regime angesichts des Vormarsches seiner Gegner beunruhigt sei. Russland leiste weiter Luftunterstützung erklärte er. Er wollte sich auch nicht darauf einlassen, über zukünftige Entwicklungen zu „rätseln“. Aber Lawrow konnte mit aller Prahlerei nicht überspielen, dass die Ereignisse in Syrien den internationalen Akteuren entglitten sind. Auf den Fluren des „Doha Forums“ frohlockten längst Vertreter der Assad-Gegner, das Regime sei bald am Ende.
Lawrow will „Dialog“ mit der „legitimen Opposition“
Die Stellungnahmen nach dem Treffen, das Lawrow, Araghchi und der türkische Außenminister Hakan Fidan am Samstag in Doha abhielten, zeugte nach Einschätzung arabischer Diplomaten zumindest davon, dass die internationale Syrien-Diplomatie derzeit auf Sicht fährt. Alle könnten derzeit nur abwarten, wie sich die Lage entwickle, hieß es in Doha. Es wurde die territoriale Integrität Syriens und seine Souveränität beschworen. Araghchi und Lawrow forderten einen „Dialog“ mit der „legitimen Opposition“ – womit allerdings nicht die erfolgreichen Rebellenmilizen gemeint waren, sondern jene Kräfte, die sich über Jahre ergebnislose Verhandlungen unter Regie der UN-geführt hatten.
Deren Syrien-Sondergesandter Geir Pedersen hatte noch am frühen Samstagabend zu „Deeskalation“ und einem „geordneten Übergang“ aufgerufen. Auch diese Forderung dürfte sich einen Tag später mit dem Rebelleneinmarsch in Damaskus als veraltet erwiesen haben. So dürfte es nicht zuletzt auf die Syrer ankommen, zu verhindern, dass ihr Land nicht im Chaos versinkt und Versöhnung gelingen kann.
Einen ersten Anfang machten Vertreter des „Rates der syrischen Charta“, einer Initiative von Angehörigen aller Bevölkerungsgruppen aus allen Landesteilen und verschiedenen politischen Lagern, die sich seit Jahren dafür einsetzt, die gesellschaftliche Spaltung durch den Krieg im eigenen Land zu überwinden. Sie erklären in einer Stellungnahme gegenüber der F.A.Z.: „Wir haben gemeinsam über Jahre eine Charta verhandelt und alle Seiten fühlen sich daran gebunden. Jetzt ist die Zeit, sie zu ehren. Wir sind nicht Sieger oder besiegte, nicht Sunniten, Drusen oder Alawiten, sondern Syrer, die Gewalt ablehnen und in Respekt miteinander leben wollen.
HTS-Anführer Golani schien bemüht, Chaos zu vermeiden. Er kündigte an, alle staatlichen Institutionen würden unter der Aufsicht von Assads Ministerpräsidenten bleiben. Dieser hatte sich öffentlich bereit erklärt, mit den Aufständischen zusammenzuarbeiten.