Fans der Volkswirtschaftslehre dürften an Argentinien ihre helle Freude haben. Denn in dem südamerikanischen Land ist fast jeder der rund 45 Millionen Einwohner ein Wirtschaftsexperte. Ohne formale Ausbildung zwar. Aber unfreiwillig ausgebildet in der harten Schule des Lebens.
Das beginnt bei den Supermarktmitarbeitern, die seit vielen Jahren Übung darin haben, mit hoher Geschwindigkeit Preisschilder auszutauschen – manchmal so geschwind, dass sich der Preis für ein Pfund Kaffee oder eine Schokolade schon wieder geändert hat, während der Kunde noch auf dem Weg zur Kasse ist. Das geht weiter bei den Angehörigen der Mittelschicht, die schon immer bei jeder Gelegenheit amerikanische Dollar horteten, weil sie dem argentinischen Peso nicht vertrauten. Und das zeigt sich jeden Abend in den Fernsehnachrichten, in denen den Zuschauern mit beiläufiger Selbstverständlichkeit auch die aktuellen Wechselkurse auf dem Schwarzmarkt präsentiert werden, weil Regierungen aller Couleur den offiziellen Währungsumtausch erschwerten.
Der Grund für all dieses Treiben hat mit der argentinischen Dauerkrise zu tun: Unter den Industrienationen dieser Welt gibt es wohl kein anderes Land, das seit so vielen Jahren unter wirtschaftlicher Stagnation und hoher Inflation leidet. Schuldenkrisen, Währungskrisen und Wirtschaftskrisen wechseln sich dort ab, was erklärt, warum zwangsläufig so gut wie jeder Argentinier ein Wirtschaftsprofi werden musste.
Doch seit ein Mann namens Javier Milei im Dezember 2023 überraschend Präsident wurde, ist manches anders im flächenmäßig achtgrößten Land der Erde. Der 54-Jährige, im Gegensatz zum Großteil seiner Landsleute tatsächlich ein ausgebildeter Ökonom und doch so ganz anders, hat dem Land seit seinem Amtsantritt eine Schocktherapie im wahrsten Sinne des Wortes verordnet. Er hat die Staatsausgaben drastisch gekürzt, Subventionen gestrichen und die Zentralbank angewiesen, das Gelddrucken einzustellen – die Notenpresse war eine der Ursachen für die hohe Teuerungsrate, die bei Mileis Amtsantritt atemberaubende 211 Prozent im Jahr betrug. Jetzt ist die Inflation auf weniger als drei Prozent im Monat gesunken, der Staatshaushalt ohne Berücksichtigung des Schuldendienstes liegt erstmals seit Jahren im Plus. Die Therapie hat aber schwere Nebenwirkungen: Sie geht einher mit einem starken Rückgang der Wirtschaftsleistung und einem zeitweiligen Anstieg der Armut. Zwischenzeitlich galten 55 Prozent der Bevölkerung als arm, gemessen am laufenden Einkommen, inzwischen ist die Quote wieder unter 40 Prozent gefallen, ungefähr das Niveau vor Mileis Amtsantritt.
Mehr Milei wagen?
Bei vielen ausländischen Beobachtern schwingt Bewunderung für das Vorgehen des Präsidenten mit. FDP-Chef Christian Lindner sorgte im deutschen Bundestagswahlkampf sogar für erregte Diskussionen, als er sagte, man müsse „mehr Milei wagen“. Die Bewunderung hat damit zu tun, dass es der Argentinier geschafft hat, ein einprägsames Symbol für seine Politik zu finden: Der Mann mit der exzentrischen Haartolle hat sich im Wahlkampf am liebsten in Lederjacke und mit einer Kettensäge gezeigt, die er zu dröhnender Musik über dem Kopf schwang. So wie eine Kettensäge alles zermalmt, was sich ihr in den Weg stellt, so wollte Milei die staatlichen Ausgaben auf ein Minimum reduzieren, versprach er seinen Anhängern.
Das Erstaunliche ist: Javier Milei hat Wort gehalten, und noch immer stehen mehr als 50 Prozent der Bevölkerung in Meinungsumfragen hinter ihm. „No hay plata“ („Es gibt kein Geld“) hatte er den Argentiniern im Wahlkampf zugerufen. Und viele von ihnen skandieren den Ruf noch immer, obwohl sie am eigenen Leibe erfahren, was das in der Praxis bedeutet.
Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Wie kann das sein? Wie groß muss der Leidensdruck der Menschen sein, dass sie freiwillig solch drakonische Maßnahmen über sich ergehen lassen? So viel sei an dieser Stelle schon verraten: Das Leben in Argentinien ist immer noch hart, keine Frage. Aber es gibt zumindest ein paar Anzeichen dafür, dass Mileis Therapie vielleicht wirklich funktioniert.
Die F.A.S. war einige Tage in Buenos Aires unterwegs und hat mit Menschen wie dem Portugiesischlehrer Carlos Quaroni gesprochen, die Milei eher ablehnend gegenüberstehen. Mit Leuten, die gegen ihn protestieren wie Julieta Chevalier, die in der Hauptstadt ein ganzes Krankenhaus gegen den Präsidenten mobilisiert hat. Mit Milei-Unterstützern wie der Angestellten Erica Sagroni und dem Deutschen Michael Meding, der als erster Ausländer an der Spitze des argentinischen Bergbauverbandes steht. Und mit Mitgliedern der argentinischen Regierung. Bei allen Gesprächen ging es letztlich nur um eine Frage: Was macht Mileis Schocktherapie mit dem Land und seinen Menschen?
Im Ausgehviertel San Telmo wartet Carlos Quaroni, den alle nur „Charly“ nennen. Charly spielt Bass in einer Punkrockband und ist seit vielen Jahren Fan der „Toten Hosen“, die in Argentinien eine besonders treue Anhängerschaft haben. Wer jetzt einen harten Kerl erwartet, sieht sich getäuscht. Charly sitzt an diesem Sonntagnachmittag in einem Traditionscafé des Viertels und trinkt einen Tee. Die Plastikblumen auf dem Tisch haben es ihm angetan, fast zärtlich berührt er die falschen Blätter. „Die werden hier in Argentinien gefertigt, das machen üblicherweise kleine Familienbetriebe“, sagt er. „Damit wird es bald vorbei sein, dann kommen die Blumen aus China.“ Fachleute geben ihm recht: Die isolierte argentinische Wirtschaft hat in manchen Bereichen Scheinblüten hervorgebracht, die die von Milei angestrebte internationale Öffnung kaum überstehen dürften.
Charly selbst hat es besser getroffen: Er verdient sein Geld als Sprachlehrer, seit Kurzem gibt er Mitarbeitern eines Softwarekonzerns Sprachkurse für potentielle Auslandseinsätze – das Unternehmen zahlt mehr als Privatleute. Trotzdem braucht Charly einen Zweitjob. Er bietet kleine Gelegenheitsarbeiten an, hilft zum Beispiel bei Umzügen. Das Leben ist auch für den 49-Jährigen teuer geworden. So hat Milei die Subventionierung der Energiepreise beendet, für Strom zahlt Charly jetzt achtmal so viel wie vorher. „Die Leute können sich kaum noch etwas leisten.“ Buenos Aires ist heute die teuerste Stadt Lateinamerikas.
Charly ist zwar enttäuscht von den linken Regierungen, die vor Javier Milei an der Macht waren, aber er glaubt nicht, dass der neue Präsident die Dinge wirklich ändern wird. „Wir sind gefangen in einem ewigen Zirkel, am Ende geschieht immer das Gleiche hierzulande, das ist die Tragödie.“ Charly ist alt genug, um sich noch an die 1990er-Jahre zu erinnern. Damals hatte Argentinien mit Carlos Menem einen Präsidenten, der auch versprach, den Peso zu stabilisieren. Kurz nachdem er aus dem Amt schied, schlitterte Argentinien um die Jahrtausendwende in den Staatsbankrott.
„Wie soll man sein Leben kalkulieren?“
Anderer Tag, anderes Viertel, andere Meinung: Erica Sagroni glaubt nicht, dass sich die Geschichte wiederholen wird. Sie will unbedingt darüber reden, warum sie Javier Milei ihre Stimme gegeben hat: „Ich habe das alte Regime nicht mehr ertragen. Die konnten es einfach nicht. Berechenbarkeit ist alles für mich. Aber wie soll man sein Leben kalkulieren, wenn man am Abend nicht mehr weiß, ob die Preise vom Morgen noch gelten?“ Sagroni sagt von sich selbst, dass sie eine sehr strukturierte Person sei, die Unsicherheit nicht möge. Seit Jahren spart sie beispielsweise für den Kauf einer Wohnung.
Mit ihrem richtigen Namen möchte sie allerdings nicht in der Zeitung auftauchen. Die 50-jährige Angestellte will politischen Diskussionen an ihrem Arbeitsplatz aus dem Weg gehen, wo manche Kollegen mit dem neuen Präsidenten nichts anfangen können. Und auch in ihrem Bekanntenkreis sind nicht alle von Milei begeistert: Ihr bester Freund ist Arzt, gerade im öffentlichen Gesundheitswesen hat die neue Regierung stark gekürzt. „Ich möchte unsere Freundschaft nicht aufs Spiel setzen.“ In ihrer eigenen Familie hat sie schon erlebt, wozu der Streit über Politik führen kann: „Mein Vater und meine Schwestern reden kaum noch miteinander.“
Interessant ist, dass die 50-Jährige, die im Nobelviertel Palermo arbeitet und mit umgerechnet mehr als 1000 Dollar im Monat deutlich mehr verdient als der argentinische Durchschnittsbürger, politisch zuletzt immer öfter mit den freundlichen Reinigungsdamen einer Meinung war, die ihren Arbeitsplatz sauber halten. „Die stimmen mit mir überein, dass es so wie bisher einfach nicht weitergehen konnte.“ In der Tat zeigen Umfragen, dass gerade in den ärmeren Vierteln die Unterstützung für den neuen Präsidenten bemerkenswert groß ist. Das hat mit der tiefen Enttäuschung zu tun, die die Politik der jahrzehntelang regierenden Peronisten gerade bei den Ärmsten hinterlassen hat.
„Das alte Regime“
Dabei hat die Partei von Alberto Fernandez, des Präsidenten vor Javier Milei, sich öffentlich immer als Interessenvertreter der einfachen Leute inszeniert. Das „alte Regime“, wie Sagroni sie nennt, hat seinen Einfluss allerdings oft auf fragwürdige Weise genutzt. Bekannt ist, dass man Hilfsgelder und Hilfsgüter für die Ärmsten oft an eine Erwartung knüpfte, die zwar unausgesprochen war, aber trotzdem kein Geheimnis: Im Gegenzug für die Hilfe sollten die Menschen bei den nächsten Wahlen den Peronisten ihre Stimme geben. „Das ist korrupt. Und außerdem muss es doch wieder einen Wert haben, ohne Almosen auf den eigenen Füßen zu stehen“, fast Erica Sagroni die Meinung vieler zusammen.
Javier Mileis teilweise aggressive Sprache, dessen Tiraden gegen „Gender-Ideologie“ erst unlängst die Manager auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos befremdeten, kann Sagroni nicht schrecken. „Die anderen wollten Geld drucken vor der Wahl. Das hat mir mehr Angst gemacht als Mileis Rhetorik.“ Zumal sie selbst findet, dass sich die Politik zuvor zu sehr um Fragen wie beispielsweise eine geschlechtergerechte Sprache gekümmert habe. „Das ist doch nun wirklich nicht unser größtes Problem.“ In einem Punkt ist die 50-Jährige aber ebenfalls unmissverständlich: Wenn der Präsident mit seiner Politik am Ende keinen Erfolg hätte und die Inflationsraten wieder stiegen, wäre er ihre Stimme los.
Das deckt sich mit Untersuchungen, die Enrique Perruzotti, Politikprofessor an der Universität Torcuato Di Tella in Buenos Aires, vorgenommen hat. In moderierten Gruppendiskussionen mit Milei-Unterstützern hat er versucht, ihrer Wahlentscheidung auf den Grund zu gehen. „Es war vor allem Wut auf die herrschenden Verhältnisse“, sagt der Professor. „Man wollte die traditionellen Politiker abstrafen – und zwar alle.“
„Da müssen wir jetzt durch“
Dazu gehörten nicht nur die schon erwähnten Peronisten, sondern auch die wirtschaftsfreundlichere Pro-Partei des früheren argentinischen Präsidenten Mauricio Macri, der Argentinien von 2015 bis 2019 regierte. Beide beschimpft der vermeintliche Außenseiter Milei bis heute als „La Casta“ („die Kaste“) und wettert gegen die Politikelite in der Hauptstadt, darin Donald Trump nicht unähnlich. Erfolg konnte Milei damit aber nur haben, weil er dem argentinischen TV-Publikum schon lange als lautstarker Teilnehmer von Fernsehdiskussionen bekannt war und weil er sich zu inszenieren versteht: Seine Auftritte vor Anhängern gleichen Rockkonzerten, wozu passt, dass sich Milei einige Zeit als Musiker in einer Rolling-Stones-Coverband versuchte.
Es ist allerdings nicht nur die Wut auf die anderen, die den neuen Präsidenten groß gemacht hat. Dazu kommt eine Überzeugung, die laut Professor Perruzotti zeigt, wie sehr die Argentinier unter dem bisherigen System leiden. „Viele haben die Einstellung: Wenn es auf konventionellem Wege nicht geht, soll es Milei eben mal unkonventionell versuchen. Sie sagen sich: Da müssen wir jetzt durch.“
Tatsächlich beweist Milei bislang ein erstaunliches politisches Durchsetzungsvermögen. Obwohl er im Kongress auch auf die Unterstützung der im Wahlkampf noch heftig attackierten Pro-Partei angewiesen ist, brachte er einige wichtige Gesetzesvorhaben durchs Parlament, die zum Beispiel die Privatisierung von Staatsbetrieben vorsehen. Wie genau er das macht, kümmert seine Wähler weniger. Sie zeigen kein großes Interesse an den Details, hat Politikwissenschaftler Perruzotti herausgefunden. Dass Milei im Wahlkampf beispielsweise stets lautstark die Abschaffung der Zentralbank propagierte (Stichwort: „Dollarisierung“) und bislang nichts in diese Richtung unternommen hat, ist für seine Anhängerschaft nicht der Rede wert.
Genauso wenig machen sie Mileis krudes Freiheitsverständnis zum Thema. Denn was er in wirtschaftlicher Hinsicht an Freiheiten zulässt, hat ihm zwar in vielen Aspekten den Applaus von Liberalen in aller Welt eingebracht, auch von der deutschen FDP. Gesellschaftlich zeigt er jedoch kaum Verständnis für Andersdenkende, wie seine herablassenden Bemerkungen gegenüber Schwulen und seine einschüchternden Attacken gegenüber Journalisten verdeutlichen.
Mileis Claqueure
Darum braucht Javier Milei Claqueure, die selbst seine Aggressivität als gute Sache verkaufen. An vorderster Front steht dabei sein Pressestaatssekretär Eduardo Serenellini. Der gelernte Fernsehmoderator hatte Milei lange vor dessen Präsidentschaft in seine Sendungen eingeladen, er berichtet stolz, dass der exzentrische Ökonom stets für gute Quoten sorgte. Serenellini empfängt im Regierungssitz Casa Rosada und tut alles, um seinen Chef gut aussehen zu lassen. Das gehört zum Job eines Pressesprechers, aber ist in diesem Fall doch sehr dick aufgetragen. Ein Genie sei Milei, einfach brillant, sagt sein Sprecher. Es sei doch gut, dass sein Chef nie falsch spiele, betont er. Auch wenn das manchmal aggressiv wirke: „Javier macht keinen Unterschied zwischen innen und außen: Er sagt, was er denkt, und tut, was er sagt.“
Beim Verlassen des Büros will der Pressesekretär dem Besucher noch unbedingt eine kleine Plastikfigur zeigen, die prominent auf einem der Tische platziert ist. Es handelt sich um eine Nachbildung von Javier Milei mit der Kettensäge im Anschlag. Auf das Kettenblatt ist dick Mileis berühmtester Ausspruch gedruckt: „Viva la libertad, carajo!“ Zu Deutsch in etwa: Es lebe die Freiheit, verdammt noch mal! Einige Tage nach dem Besuch wird bekannt, dass der Sekretär nicht mehr im Amt ist. Argentinische Zeitungen berichten, Milei habe sich daran gestört, dass es den Mann zu sehr selbst ins Rampenlicht drängte.
Der Staatssekretär steht damit für einen bemerkenswerten Trend: Seit dem Start der neuen Regierung im Dezember 2023 hätten bereits 30 hochrangige Funktionäre ihre Ämter aufgegeben, schreiben argentinische Medien. Wer das positiv interpretieren möchte, weist sogleich darauf hin, dass Mileis Sparwille eben auch vor den engsten Mitarbeitern nicht haltmache. Eine weniger positive Deutung ist, dass Argentiniens mächtigster Mann neben sich niemanden anderen duldet.
Die Technokraten der Macht
Noch immer dabei ist Finanzstaatssekretär Pablo Quirno, dessen Büro fußläufig neben dem Regierungssitz im Zentrum von Buenos Aires liegt. Nach allem, was sich sagen lässt, dürfte Quirno seinen Posten recht sicher haben. Zumindest versäumt es Präsident Milei selten, Quirno und dem ihm vorgesetzten Wirtschaftsminister Luis Caputo in aller Öffentlichkeit für ihre „hervorragende Arbeit“ zu danken. Stolz zeigt der Staatssekretär sein Handy, auf dem zu jeder Tages- und Nachtzeit Nachrichten und Anrufe des Staatschefs via Whatsapp eingehen. Tenor: Eine engere Verbindung ist kaum möglich.
Auch Javier Milei selbst dürfte sie sehr wichtig sein. Denn Quirno und Caputo sind die Technokraten im Hintergrund, die es braucht, um seine Wirtschaftswende in die Praxis umzusetzen. Erfahrung haben sie beide unter dem früheren Präsidenten Macri gesammelt, Quirno war zudem lange in New York für die amerikanische Großbank JP Morgan tätig. Der Finanzstaatssekretär wirkt mit sich und der Welt im Reinen, und tatsächlich gibt es ja echte Erfolge zu feiern: Argentinien, das Land mit der zeitweilig höchsten Inflationsrate der Welt, hat die Teuerung fürs Erste im Griff. Der Staatshaushalt ist ausgeglichen. Und die Löhne im Privatsektor sind nach Abzug der Inflation zuletzt sogar wieder gestiegen.
Quirno sagt dazu: „Javier Milei hatte zwei einfache, aber überzeugende Botschaften an die Menschen: Erstens: No hay plata. Und zweitens: Wir müssen die Motorsäge ansetzen. Nie hat ein argentinischer Präsident so etwas gesagt.“ Ein zufriedenes Lächeln deutet an, dass so viel Unterstützung von höchster Stelle ihm die Arbeit vergleichsweise leicht macht.
Sogar Kritik hört sich der Pragmatiker an, ohne mit der Wimper zu zucken. Die nahezu komplette Einstellung aller öffentlichen Ausgaben für Infrastruktur? „Die öffentlichen Ausgaben für Infrastruktur unterlagen in Argentinien in der Vergangenheit fast immer der totalen Korruption“, sagt Quirno. „Die Vorteile, diesen Betrug zu stoppen, überwiegen die Nachteile bei Weitem.“ Zudem verweist er auf ein neues Regierungsprogramm namens RIGI, das Unternehmen Steuervergünstigungen bei Investitionen in Höhe von mindestens 200 Millionen Dollar in Aussicht stellt. Es könnte dabei helfen, das dringend benötigte Wirtschaftswachstum zu schaffen, das Argentinien jetzt braucht.
Ein neues argentinisches Selbstbewusstsein
Je mehr Hintergrundgespräche im Regierungsviertel man führt, umso deutlicher wird ein neues argentinisches Selbstbewusstsein. Wer zum Beispiel auf die Idee kommt, die aktuelle Stärke des argentinischen Peso für eine Überbewertung zu halten, bekommt zu hören: Vielleicht stecke dahinter ja auch eine Schwäche des Euro und des Dollar. Die internationalen Investoren hätten erkannt, dass Argentinien etwas Gutes für seinen Staatshaushalt tue, anders als manch andere Regierung. Fakt ist allerdings, dass Javier Milei – im Gegensatz zu seinen Ankündigungen – an bestimmten Kapitalverkehrskontrollen für ausländisches Geld bislang festhält, was den Peso in der Tendenz eher aufwerten lässt. Das könnte der eigentliche Grund für die Peso-Stärke sein.
Kein Gesprächspartner geht jedoch so weit, dass er Deutschland nun gar ernsthaft empfehlen würde, von Argentinien zu lernen, wie es FDP-Chef Lindner ursprünglich angeregt hatte. Aber viele Maßnahmen der Regierung kommen bei Unternehmensvertretern gut an. So sagt beispielsweise Michael Meding, der als erster Deutscher den argentinischen Bergbauverband Gemera leitet: „Wenn wir Investoren früher von Projekten in Argentinien erzählt haben, hieß es immer: Tolles Projekt, aber leider in Argentinien.“ Jetzt sei die Reaktion ganz anders: „Tolles Projekt und interessant, dass es in Argentinien ist.“
„Der Mann, der uns die Würde raubt“
Julieta Chevalier muss laut auflachen, als sie davon hört, dass in Deutschland tatsächlich darüber diskutiert wird, mehr Milei zu wagen. Es ist ein bitteres Lachen, denn die 41-Jährige war in den vergangenen Tagen im Dauereinsatz gegen „den Mann, der uns die Würde nimmt“. Gemeint ist der argentinische Präsident. Chevalier führt einen der wenigen Proteste an, die es momentan in Argentinien gegen die Regierung überhaupt noch gibt. Sie leitet den Streik im „Hospital Bonaparte“, einer psychiatrischen Klinik mit langer Tradition, die direkt von den Geldern der Regierung abhängt. Streikposten kontrollieren den Eingang, überall hängen Spruchbänder. „Ein Krankenhaus, das kämpft“, steht darauf zu lesen, oder „Wir haben 200 Mitarbeiter verloren“. So viele Entlassungen hat die Regierung bereits in dem Krankenhaus vollzogen, alle übrigen Mitarbeiter sind unsicher, wie die Zukunft wird. Zuletzt habe es eine Gehaltserhöhung von einem Prozent gegeben, erzählt Chevalier, bei einer monatlichen Inflation von immer noch fast drei Prozent könne man sich ja ausrechnen, was das bedeute.
Chevalier ist enttäuscht, dass es derzeit keine größeren Proteste gegen Milei gibt: „Irgendwie fehlt es an Solidarität.“ Im Oktober 2024 sah es kurz so aus, als würde es doch größere Gegenwehr geben, da nämlich gingen auch die Studenten auf die Straße, weil Universitäten auf Mittel verzichten sollten. Milei erkannte die Gefahr und sah zumindest von einer totalen Kürzung ab. Seither ist Ruhe.
Aus all dem zieht Streikanführerin Chevalier den Schluss: „Die Menschen haben keine Zeit zu protestieren, weil sie nur mit dem eigenen Überleben beschäftigt sind.“ Die Milei-Unterstützerin Erica Sagroni hingegen sieht das ganz anders: „Die Menschen ertragen jetzt viel, weil sie Hoffnung haben, dass es dann tatsächlich irgendwann besser wird.“
Wer recht hat, wird die Zukunft zeigen. Aber im Moment scheint in Buenos Aires die Hoffnung zu überwiegen.