Stephan Vogt scheint die Wintersonne ins Gesicht. Noch ist es mild hier auf 1355 Meter Höhe in der Ostschweiz. Aber mit Licht und Wärme ist es bald vorbei. Vogt steht auf einem Hügel neben einer Berghütte, die Schneeschuhe berühren den Abhang. Vor ihm liegt ein finsteres Tal, das Ziel seiner heutigen Reise, nur fünfzig Meter tiefer gelegen. Gleich geht er ins Reich der Kälte.
Stephan Vogt ist Klimatologe. Und ein bisschen verrückt, kälteverrückt. Er geht am liebsten dahin, wo es wehtut, wo es selbst für kälteerprobte Alpinisten zu schattig ist. Während andere im Winter ins Warme fliegen, unternimmt der Schweizer lieber Ausflüge in die Kälte. Vogt trägt eine Funktionsjacke, Mütze, Siebentagebart, dazu Schneeschuhe und Stöcke. Kryophil nennt er sich in den sozialen Netzwerken, kälteliebend. Er sucht Senken, in denen sich Mitteleuropa wie Sibirien anfühlt. Andere Wetterverrückte jagen Gewitterstürmen hinterher oder kraxeln auf Berggipfel und suchen den Kick im Schneesturm. Vogt mag es ruhig, aber eisig.
Stephan Vogt oberhalb der Senke Hintergräppelen, wo einer der kältesten Punkte der Schweiz liegt – im Winter fällt hier die Temperatur regelmäßig unter minus 30 Grad Celsius.
Hintergräppelen heißt das Kälteloch im Kanton St. Gallen, in das Stephan Vogt jetzt freiwillig hinabsteigt. Es liegt auf einer Hochebene, eingeklemmt zwischen dem Säntis und der Bergkette der Churfirsten. Eine klassische Bergweide, eine Alp, wie die Schweizer sagen. Ein Bach gluckert den Abhang hinunter und verschwindet an der tiefsten Stelle in einem Schluckloch. Unten im Tal fehlt fast jede Spur, die auf Leben hindeutet: keine Bäume, keine Tierspuren, keine Menschenseele. Nur ein paar lebensmüde Sträucher und ein Mast ragen aus dem Schnee heraus.
Der Mast gehört zu einer Wetterstation, die Stephan Vogt hier betreibt, die Station Hintergräppelen. Er hat sich in den Kopf gesetzt, die extremen Kältetäler der Alpen zu finden und zu erforschen. An vier Standorten in der Schweiz hat der 49-Jährige bereits Wetterstationen aufgestellt, um Messdaten zu gewinnen. Minus 42,4 Grad Celsius hat er an einer Station nachgewiesen, minus 50 Grad sind möglich, davon ist er überzeugt. Wahrscheinlich geht es noch tiefer in den Eiskeller. Der Mann hat eine Mission: Er möchte den kältesten Ort der Schweiz finden. Und wenn das der kälteste Ort Mitteleuropas wäre, hätte er nichts dagegen.
Die Messstation von Stephan Vogt in der Senke Hintergräppelen
Messung der Schneetiefe
Aber die Rekordjagd ist nicht das Einzige, was Vogt an diesem Hobby reizt. Ihn fasziniert die bitterkalte Luft in den Kältelöchern der Alpen. Er mag es, wenn der Schnee unter seinen Schneeschuhen klirrt, wenn zentimeterlange Reifkristalle am Boden stehen. Für ihn kann es nicht eisig genug werden, minus dreißig Grad braucht er jeden Winter. Die Kälte ist ein Geschenk, findet er. Sie erschafft wundersame Landschaften.
Wegen dieser Eindrücke ist Vogt heute wieder hier. Er möchte die Kälte spüren und genießen. Abtauchen, nennt Stephan Vogt sein eiskaltes Hobby, Abtauchen in die einsame und erstarrte Welt der Kaltluftseen, wie Wissenschaftler solche Kältelöcher nennen. Wie in einen riesigen Pool aus schwerer, zäher Luft. Seine Ausflüge sind nicht ungefährlich, meistens ist er allein unterwegs, Fehler in arktischer Luft sind fatal. Sein Mobiltelefon trägt er direkt am Körper, damit der Akku durchhält. Einmal trat er aus Versehen in den Bach, der Fuß war sofort nass, und Erfrierungen drohten. Aber auf solche Momente ist er vorbereitet, Ersatzklamotten sind immer griffbereit. Im Notfall zieht er sich um. Vogt kennt alle arktischen Überlebensregeln. Etwa die, dass man nasse Kleider trocknet, indem man sich durch den Pulverschnee rollt. Zu Hause weiß seine Frau immer, wann er losgeht. Und wann er wieder ins Auto steigt.
Stephan Vogt geht mit Schneeschuhen durch das Tal Hintergräppelen.
Die Ausrüstung wählt Stephan Vogt sorgfältig, auf seinen Touren trägt er gerade so viel Kleidung am Körper, dass er nicht stark friert. Leicht fröstelnd marschiert er los. Drei bis vier Schichten sind sinnvoll, je nach Temperatur. Ins Schwitzen sollte er nicht kommen. Baumwolle ist deshalb tabu; alles, was nass wird, ist gefährlich.
Gefahr droht beim heutigen Abstieg in die Kälte nicht. Das Wetter hat Vogts Tauchpläne durchkreuzt. Die klirrende Kälte ist weg. Über Nacht blies der Föhn die eiskalte Haut fort, die sich in den Tagen zuvor über das Hochtal gelegt hatte. Ausgerechnet heute drückte der Föhn warme Luft nach unten. Das Reich der Kälte wurde ausgeräumt und geplündert. „Einfach Pech“, sagt Stephan Vogt lapidar. „Part of the Game.“ Plus sechs Grad zeigt das Handthermometer jetzt oben am Hang, der Abstieg wird weniger eisig als sonst. Nur wenn der Föhn jetzt jäh abbräche, könnten die Temperaturen wieder in den Keller stürzen. Das ist zumindest die Hoffnung. Minus zehn Grad sollten drin sein.
Dann stapft Stephan Vogt den Abhang hinab. Ein paar Minuten dauert es bis zur tiefsten Stelle. Vogt trägt heute nur zwei Schichten, die Sturmhaube hat er im Auto gelassen. Jeder Schritt knirscht im verharschten Schnee. In der Hand hält er das Thermometer, langsam sinkt die Temperatur unter den Gefrierpunkt. Der Schnee knirscht jetzt nicht mehr, er klirrt. Kälte kriecht in jede Ritze.
Beim Hinabsteigen ins Tal sinkt langsam die Temperatur
Dass es unten kälter ist als oben, ist nicht die Regel. Eigentlich müssten die Alpengipfel kälter sein, denn Luft wird normalerweise mit der Höhe kälter, um 0,7 Grad pro hundert Meter. Es sei denn, ein Wetterphänomen tritt ein, das in diesem Winter schon mehrfach für kalte Nasen im Flachland sorgte: die Inversion. Bei Hochdruck im Winterhalbjahr kehren sich die Verhältnisse in der Atmosphäre häufig um: Oben ist es dann wärmer als unten. Wie ein Deckel legt sich Warmluft über die schwere Kaltluft in den Tälern. In diesem Zustand ist die Atmosphäre stabil geschichtet.
In den Hochtälern der Alpen ist die Temperaturumkehr besonders ausgeprägt. Dreißig Grad Unterschied zwischen oben und unten sind bei Kaltluftseen wie Hintergräppelen nicht ungewöhnlich, erklärt Vogt. Nur vierzig Meter Höhenunterschied machen den Unterschied zwischen kalt und gefährlich kalt. Oben am Hang wachsen Fichten, unten im Tal ist es kahl wie in der Tundra.
Ein Kaltluftsee ist eine extreme Form der Inversion, er produziert seine Kälte selbst. Die Kälte kriecht von den umliegenden Hängen in die Senke wie in eine Badewanne und kann nicht mehr abfließen. „Kaltluft verhält sich wie Wasser“, sagt Vogt, sie strömt – der Schwerkraft folgend – nach unten und sammelt sich an der tiefsten Stelle. Deshalb wird es in Hochtälern deutlich kälter als auf den höher gelegenen Gipfeln. Das geschieht zu allen Jahreszeiten, vor allem aber im Winter.
Doch ein Kaltluftsee ist eine Diva. Er braucht perfekte Bedingungen, damit er sich in eine Glitzerwelt verwandelt: Windstille, einen klaren Himmel, frisch gefallenen Schnee. Zudem sollte arktische Luft eingeflossen sein. Dann startet die Kälteproduktion bereits bei niedrigerem Temperaturniveau. Frischer, fluffiger Schnee am Boden schützt den Kaltluftsee tagsüber vor Erwärmung, indem er die Sonnenstrahlen reflektiert, und er fördert in der Nacht die Abstrahlung – sodass die Wärme rasch entweicht. Dreißig Zentimeter Neuschnee seien ideal, sagt Stephan Vogt.
Als er an der tiefsten Stelle des Tals angekommen ist, zeigt das Handthermometers erstmals minus zehn Grad an. Vorsichtig schreitet er das Ufer des Bachs entlang, kniet nieder, hält Ausschau nach Reif und Eiskristallen. Nur an den Rändern des Bachs hat sich Eis in mehreren Schichten gebildet. Weiter unten im Bett entdeckt er Eisnadeln und federartige Eiskristalle, ein paar Kunstwerke der Kälte haben den Föhn überstanden.
Ein Bachlauf verschwindet im Tal Hintergräppelen in einem Loch.
Aufgrund der großen Kälte haben sich in einem mäandernden Bach besondere Reifkristalle und Eisformationen ausgebildet.
Warmlufteinschübe mitten im Winter werden auch in den Alpen häufiger. Das Reich der Kälte geht langsam unter. Als Kind der Achtziger und der großen Schneewinter schmerzt das Vogt besonders. Kälte, Schnee und Eis waren immer Begleiter seines Lebens – und der Hauptgrund, warum das Wetter ihn so in den Bann zog. Mit neun baute er sich seine erste Wetterstation in den Garten, im Januar 1985 maß er eine Rekordkälte von minus 25 Grad, da war es um ihn geschehen. Das Wetter ließ ihn nicht mehr los. Als junger Mann studierte er Erdwissenschaften, später begann er beim nationalen Wetterdienst zu arbeiten.
Stephan Vogt liebt den Winter, aber seine Liebe wird heute immer seltener erwidert. Für knietiefen Schnee und wochenlange Kälte bis ins Flachland reicht es schon lange nicht mehr. Der richtige Winter lebt in Kindheitserinnerungen, die langsam verblassen. Auch deshalb machte er sich auf die Suche nach der Kälte, stöberte auf topographischen Karten systematisch nach geeigneten Senken. Und tatsächlich fand er Orte, die ihn zurück in seine Kindheit versetzen. Orte, aus denen sich die Kälte nicht so leicht vertreiben lässt. Die letzten Refugien des Winters. Vor neun Jahren stellte er im Appenzeller Land seine erste Kältemessstation auf, mittlerweile sind es vier. Das sei rein privates Vergnügen, sagt er. Beruf und Hobby habe er immer getrennt.
Für jeden Wintereinbruch ist er mittlerweile dankbar, jede Kälteperiode genießt er, als ob sie die letzte wäre. „Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, muss der Prophet halt zum Berg kommen“, lautet sein Motto.
Seine drei Kinder teilen seine Passion nicht, der Älteste kam mal mit „Schön, Papa“, aber das war’s dann auch. Stephan Vogt grinst, nicht schlimm sei das, sagt er. Er möchte niemanden missionieren. Ohnehin ist er gerne allein unterwegs. Die Stille, die Einsamkeit. Am liebsten unternimmt er seine Kälteexkursionen in aller Frühe, wenn die Temperatur ihr Minimum erreicht. Mitten in der Nacht bricht er von seinem Wohnort Zürich auf, fährt anderthalb Stunden durch die Nacht, parkt sein Auto an einem Hang, hoch über der Skiregion Oberes Toggenburg. Von dort muss er nur eine halbe Stunde einen weiteren Hang hinaufstapfen, dann steht er schon am Eingang des Kältetals Hintergräppelen.
Die härteste Tour unternahm er im Januar 2017. Als er in das Tal abtauchte, setzten Bart und Augenbrauen sofort Eis an, die Kleidung wurde steif und knisterte wie Plastik, Nähte verwandelten sich in messerscharfe Kanten. Als er seine Wetterstation erreicht hatte, um sie zu warten, streifte er seine Handschuhe ab – und spürte den kalten Hauch erstmals direkt, erinnert er sich. Auf minus 38,2 Grad war das Thermometer an diesem Morgen gestürzt. Das ganze Tal war in Stille erstarrt. Und als die ersten Sonnenstrahlen des Tages auf das Kältetal fielen, blitzte und funkelte es. Solche magischen Momente sind es, die ihn wieder und wieder in die Kältetäler locken. Auch bei Vollmond stieg er schon nach Hintergräppelen hinab.
Stephan Vogt steht nach einem Ausflug in die Kälte oberhalb der Senke.
Noch tiefer fiel das Thermometer vor zwei Jahren an seiner Wetterstation im Berner Oberland – auf minus 42,4 Grad, wurde ihm aus dem abgelegenen Sägistal nach Hause gefunkt. Der Wert machte damals in der Presse die Runde, mancher missbrauchte ihn als Gegenbeweis für die angebliche Klimahysterie. Stephan Vogt kann darüber nur den Kopf schütteln. Wie real der Klimawandel die Kälte in den Alpen bedroht, weiß kaum einer besser als er. In diesem Winter ist Wärme besonders deutlich. Nur einmal sank das Thermometer in Hintergräppelen unter minus dreißig Grad. Der letzte strenge Winter liegt Jahrzehnte zurück.
Noch hofft er. Der Februar ist immer für arktische Überraschungen gut, eine eisige Ostlage wie im Februar 2012 wäre ein Geschenk des Himmels. Mit einer solchen Luftmasse könnte er das wahre Gefrierpotential seiner vier Kältetäler erkennen. Minus fünfzig Grad im Berner Oberland könnten drin sein. Und Stephan Vogt plant schon die nächste Station in einer Senke, möglicherweise die kälteste Stelle der ganzen Alpen, in einer abgelegenen Senke, in die man nur im Sommer kommt. Wo? Das verrät er nicht. Kältegeheimnis.
Auf der Suche nach dem kältesten Ort
Verrückt nach Frost
Von ANDREAS FREY
Hallertau, Funtensee oder Bayerischer Wald? Hobbymeteorologen suchen nach dem Ort, an dem es in Deutschland am eisigsten ist.
Aufgrund der Kälte haben sich in einem mäandernden Bach Reifkristalle gebildet.
Wo wurde in Deutschland die kälteste Temperatur gemessen? Der Deutsche Wetterdienst beantwortet diese Frage eindeutig: Es ist nicht die Zugspitze, Deutschlands höchster Berg, sondern das Städtchen Wolnzach in der Hallertau, eine halbe Autostunde südlich von Ingolstadt. Im Ortsteil Hüll, wo immerhin 35 Menschen leben, sackte am Morgen des 12. Februar 1929 die Quecksilbersäule auf minus 37,8 Grad. Hüll liegt in einer unscheinbaren Senke, in der sich kalte Luft ideal sammeln kann. So erklärt sich der Extremwert.
Es gibt noch eine andere Senke auf deutschem Boden, die als kältester Ort gehandelt wird: der Funtensee im Steinernen Meer, mitten im Berchtesgadener Land, direkt an der Grenze zu Österreich. Minus 45,8 Grad maß der Wetterdienst dort am 25. Januar 2000, an Heiligabend 2001 rutschte eine benachbarte Wetterstation der damaligen Kachelmann-Firma Meteomedia noch ein Zehntelgrad tiefer, auf minus 45,9 Grad. Das Tal ist von Bergen umschlossen, deshalb kann eingeflossene Kaltluft nicht abfließen. Aber warum ist der Funtensee nicht Rekordhalter?
Die einfache Antwort: Weil die Wetterstation am Funtensee nicht dem offiziellen Messnetz des Deutschen Wetterdiensts angehört, liefert sie auch keine offiziellen Werte. Es handele sich um „eine Station mit Experimentalcharakter“, erklärt Lothar Bock, Meteorologe im Klimabüro München. Die Messung sei wegen der harschen Bedingungen nicht immer zuverlässig. Zudem ist ein isolierter und unbewohnter Ort mit seinem Lokalklima eher nicht als repräsentativer Standort geeignet. Offizielle Stationen sollten typisch für ein größeres Gebiet sein. Das sind Kaltluftseen, wie solche Täler genannt werden, nur bedingt.
Das hält manchen Wetterfan nicht davon ab, trotzdem Jagd auf Kältetäler zu machen. Es gibt eine Community, die es sehr spannend findet, unentdeckte Extremfrostsenken zu finden. Die Kältejäger sind weltweit unterwegs. Sehr aktiv sind die Italiener, organisiert etwa im Verein Meteotriveneto, und zwei Wiener Meteorologen, die Kältetäler in Österreich erforschen. Umtriebig ist auch der Schweizer Stephan Vogt. In den Alpen suchen zudem Slowenen und Franzosen nach Kälte. Außerhalb der Alpen gibt es Communitys in Spanien, Ungarn, Rumänien, Polen und der Slowakei. In Amerika hat sich Tim Wright in Utah einen Namen gemacht. Und dann wäre da noch ein Holländer, der ungeahnte Kälte in Dünen misst.
Aufgrund der großen Kälte haben sich in einem mäandernden Bach besondere Reifkristalle und Eisformationen ausgebildet.
Sehr engagiert ist Martin Bohmann aus Eggerszell im Bayerischen Wald. Sein Ziel ist es, den kältesten Flecken der Republik zu finden, eisiger noch als der Funtensee. Bohmann, 34 Jahre alt, ist Speditionskaufmann, kein Meteorologe. Mit 16 stellte er sich seine erste Wetterstation in den Garten und begann mit den Aufzeichnungen in seinem Heimatort. 3000 Euro war ihm damals das Hobby wert, die Messreihe ist bis heute ununterbrochen. Die Sache mit dem Wetter und das Messen hat er sich selbst beigebracht. Heute betreibt Bohmann das Wettermessnetz Ostbayern mit mittlerweile 22 Wetterstationen. Jedes Kälteloch im Bayerischen Wald hat er inspiziert. „Der Bayerische Wald ist ein Paradies für Kaltluftseen“, sagt er. Und Bohmann expandiert weiter, in die Bayerischen Alpen.
Martin Bohmann sucht keine tiefen Löcher, sondern sanfte Schüsseln. Die sind prädestiniert für eisige Temperaturen. Denn die tiefsten Werte werden nicht auf dem Gipfel erreicht, sondern in hoch gelegenen Senken. Kaltluftseen findet man fast in jedem Mittelgebirge, vor allem im Kalk.
Wie kalt es in einem Tal wird, hängt überwiegend von der Geländeform ab. Es gibt offene Senken und geschlossene. Letztere sind für Extremwerte besser geeignet, da Kaltluft nicht abfließen kann. Zudem beeinflusst die Höhenlage einer Senke das Frostpotential. Wie ausgedehnt, tief und mächtig die Senken sind, spielt eine untergeordnete Rolle. Ein hoher Sky-View-Faktor liefert die beste Erklärung für extreme Temperaturen. Mit diesem Wert geben Meteorologen an, wie viel vom Himmel von einem Ort aus sichtbar ist. In einer Ebene ist der Wert maximal, in Schluchten oder Klammen klein. In Senken, in denen viel Himmel zu sehen ist, bilden sich eisigere Kaltluftseen, weil die Wärme nachts besser entweichen kann. Bei ihrer Suche schauen die Kältejäger deshalb vor allem auf diesen Parameter.
Um das kälteste Tal Deutschlands zu finden, hat sich Martin Bohmann mit anderen Kälteliebhabern vernetzt, die ihn bei der Suche unterstützen. Sie halfen ihm, eine Senke zu entdecken, die den Rekordwert vom Funtensee unterbieten könnte: die Eheblößwiesen, eine unbewohnte trichterförmige Senke, eine sogenannte Doline, im Berchtesgadener Land auf 1397 Meter Höhe. Das Problem: Niemand darf mitten im Gebirge einfach eine Wetterstation aufstellen. Erst muss man den Besitzer ausfindig machen, und dann muss er vom Nutzen einer Wetterstation überzeugt werden. Oft gibt es Absagen.
In der Eheblößwiesen ist es Martin Bohmann nach mehreren Anläufen vor anderthalb Jahren gelungen, zwei Wetterstationen zu errichten. Doch noch fehlt die richtige Wetterlage, um das Potential des Kaltluftsees zu beweisen – die Winter waren bislang zu mild. Was ihm Mut macht: Bei kalten Nächten ist es auf der Eheblößwiesen jetzt schon frostiger als am Funtensee. Dabei liegt der Ort etwa 200 Meter niedriger.
Ob es in Zeiten des Klimawandels für neue Minusrekorde in Deutschland noch reicht? Martin Bohmann ist zuversichtlich. Kälteeinbrüche sind seltener, aber nicht ausgeschlossen. Hoffnung schöpft er aus den historischen Extremwerten. Schon zweimal rutschte das Thermometer in Mitteleuropa deutlich unter minus 50 Grad. Im Februar 1991 meldete die Glattalp in der Zentralschweiz einen Tiefstwert von minus 52,5 Grad, noch etwas kälter wurde es nur im Grünloch im Spätwinter 1931. Die Doline in den Ybbstaler Alpen in Niederösterreich liegt auf 1270 Meter Höhe und gilt als kältester Ort Mitteleuropas.
Martin Bohmann ist überzeugt, dass die Temperaturen in den Alpen noch tiefer sinken können. Früher oder später werde es einen neuen Kälterekord geben, sagt er. Am liebsten in einer Station, die er betreibt, versteht sich. Dazu brauche es nur eine „richtig schöne Nordostströmung und fluffigen Neuschnee“. Sibirien kann so nah liegen.