Die Deutschen klagen über zwei Jahre der Rezession, doch im Euroraum steht Deutschland damit nicht allein. In fünf der zwanzig Eurostaaten ist die Wirtschaftsleistung in den vergangenen beiden Jahren geschrumpft. Zu der Gruppe gehören das wirtschaftliche Leichtgewicht Estland, aber auch Irland, Österreich und Finnland. Zusammen tragen sie fast neun Prozent zur Wirtschaftsleistung in der Währungsunion bei. Deutschland ist mit einem Anteil am Bruttoinlandsprodukt von 29 Prozent der größte Staat im Euroraum. Fast 40 Prozent der Eurowirtschaft steckten so in den beiden vergangenen Jahren in der Rezession.
Für die Europäische Zentralbank (EZB) und für das wirtschaftliche Wohlergehen in der Währungsunion ist es damit ausgesprochen wichtig, was in diesen Ländern passiert. Wenn die deutsche Wirtschaft auch in diesem Jahr am Rande der Rezession nahezu stagniert, wie es die meisten Prognosen nahelegen, ist das eine schwere Hypothek für die Geldpolitik und für den Euroraum.
Vor allem wegen der deutschen Schwäche haben sich in den vergangenen Jahren in der Eurounion deutliche Wachstumsunterschiede verfestigt. Den beiden Rezessionsjahren hierzulande stehen anderswo Jahre der starken wirtschaftlichen Expansion gegenüber. Der kleinste der Eurostaaten, Malta, trägt weniger als 0,2 Prozent zur Eurowirtschaft bei, prescht aber mit Wachstumsraten von mehr als fünf Prozent voran. Andere ökonomisch kleine Staaten wie Kroatien und Zypern weisen robustes Wachstum von mehr als drei Prozent auf. Griechenland drohte mit seiner sehr hohen Verschuldung vor rund 15 Jahren noch die Währungsunion zu sprengen. Mit einem stabilen Wachstum von mehr als zwei Prozent aber ist es derzeit ein Stabilitätsfaktor.
Spanien ist der wichtigste Stabilitätsanker
Der wichtigste Stabilitätsfaktor ist aber derzeit Spanien, dessen Wirtschaft zuletzt um rund drei Prozent wuchs und das als viertgrößter Staat gut zehn Prozent zum BIP des Euroraums beiträgt. Die Wachstumsdifferenzen verfestigen sich so auch im Kreis der vier großen Eurostaaten. Frankreichs Wirtschaft wächst seit 2023 stabil um 1,1 Prozent, Italiens Wirtschaft schwächelte zuletzt mit 0,5 Prozent. Unter den großen vier fällt Deutschland mit der Dauerrezession aus dem Rahmen.
Vor der Einführung des Euros 1999 hätten solche Unterschiede der Wachstumsraten heftige Debatten darüber ausgelöst, ob es richtig sei, die Eurostaaten unter das Dach einer Einheitswährung und einer einheitlichen Geldpolitik zu pressen. Seit dem Machtwort des früheren EZB-Präsidenten Mario Draghi von 2012, dass die Bank alles tun werde, was nötig sei, um den Euro zu retten, sind solche Diskussionen über schädliche Wachstumsdivergenzen weitgehend verstummt. „Glauben Sie mir, es wird ausreichen“, sagte Draghi damals.
Deutschland ist schwach, nicht der „Club Med“
Die Kritiker des Euros warnten vor den Wachstumsunterschieden, weil es innerhalb der Währungsunion keine nominalen Wechselkurse mehr gebe, die sich anpassen und die Unterschiede ein wenig abmildern können. Gäbe es den Euro nicht, hätte in der derzeitigen wirtschaftlichen Lage die D-Mark wohl an Wert verloren, und die spanische Peseta hätte aufgewertet. Das geht jetzt nicht mehr. Die gesamte wirtschaftliche Anpassungslast liegt nun innerhalb der Eurostaaten. Anders als noch von vielen vor der Währungsunion und noch während der Eurokrise um Griechenland angenommen, trifft die Anpassungslast derzeit aber nicht traditionelle Krisenkandidaten wie Italien oder Griechenland im „Club Med“ am Mittelmeer, sondern den scheinbaren Hort der wirtschaftlichen Stabilität selbst, Deutschland.
Angesichts der großen Wachstumsunterschiede zwischen den Eurostaaten scheint es merkwürdig, dass der Einlagezinssatz der EZB von 2,75 Prozent für Länder wie Malta mit einem Wachstum von fünf Prozent und für Österreich mit einer Schrumpfung um rund 0,6 Prozent im vergangenen Jahr angemessen sein soll.
Doch sind die derzeitigen Wachstumsunterschiede im Euroraum weniger ein Problem der Geldpolitik der EZB und von Konjunkturverläufen einzelner Eurostaaten, die nicht hinreichend synchron sind. Das größte Problem ist die strukturelle Wachstumsschwäche in Deutschland, dem ökonomischen Zentrum der europäischen Währungsunion.
In der Industrie rutscht Deutschland ab
Deutlich wird das, vergleicht man die Entwicklung der Industrieproduktion in den vier großen Eurostaaten und im Euroraum insgesamt. Während die Produktion im verarbeitenden Gewerbe in Spanien und in Frankreich sich nach dem pandemiebedingten Einbruch auf unterschiedlichem Niveau gut gefangen hat, rutscht die industrielle Erzeugung in Deutschland seit 2017 im Trend und seit 2022 beschleunigt nach unten. Das ist keine gleichförmige Bewegung im steten Auf und Ab der Konjunktur, das ist ein deutsches Sonderproblem.
Die hiesige Schwäche im verarbeitenden Gewerbe zeigt sich auch in einer schon lang andauernden Investitionszurückhaltung. Das war, neben dem Exportrückgang, der wichtigste Grund für die deutsche Rezession im vergangenen Jahr. Darin spiegeln sich die Schwierigkeiten, denen die deutschen Unternehmen sich gegenübersehen: hohe Energiepreise als Folge der Abkehr vom russischen Gas und der Energiewende, ein mit der Ampelregierung zunehmend undurchdringliches Regulierungsdickicht und hohe Steuern.
Zuletzt belasteten auch hohe Lohnsteigerungen, die die Kaufkraft der privaten Haushalte stärken mögen, die den deutschen Standort aber im internationalen Vergleich unattraktiver werden lassen. Hinzu kommt der hohe internationale Wettbewerbsdruck nicht nur aus China, dem vor allem die deutsche Automobilwirtschaft in der jahrelangen Umstellung auf klimafreundlichere Antriebe ausgesetzt ist und der durch mögliche Einfuhrzölle in die Vereinigten Staaten noch erhöht würde.
Daran, wie an der lähmenden wirtschaftspolitischen Unsicherheit in Deutschland, kann die Geldpolitik der EZB nichts ändern. Die großen Wachstumsunterschiede im Euroraum sind so weniger Zeichen einer teils unpassenden Geldpolitik. Das gemeinsame Währungskorsett erzwingt vielmehr, dass Deutschland sich bewegt. Es ist so, wie es manche Kritiker, aber auch manche Befürworter des Euros prognostiziert hatten.