Nach zwei Jahren fehlt noch die Aufarbeitung

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Nach dem verheerenden Erd­beben vor zwei Jahren ist die Rentnerin Hanım von einer provisorischen Unterkunft zur nächsten gezogen. Erst zu Verwandten nach Ankara, dann von Container zu Container in ihrer Heimatstadt Adıyaman. Nun hat der Staat ihr per Lotterie eine Wohnung im Neubaugebiet Örenli zugewiesen. Bisher gilt das für 36.000 Über­lebende des Erdbebens, obwohl nach offiziellen Angaben 200.000 Wohnungen gebaut wurden.

„Es gibt noch Probleme mit der Wasser- und Stromversorgung, aber ansonsten sind wir zufrieden“, sagt die Frau, deren Name wörtlich „Frau“ bedeutet. Ihre größte Sorge ist, dass sie sich die zugewiesene Wohnung gar nicht leisten kann und womöglich wieder ausziehen muss.

Denn die Kaufbedingungen stehen noch nicht fest. Die ersten Raten sind erst in zwei Jahren fällig. Die türkische Regierung hat es so eilig mit der Vergabe der Wohnungen, dass die neuen Besitzer gewissermaßen ein leeres Blatt Papier un­terschreiben. In manchen Fällen sind die Häuser bei der Schlüsselübergabe noch nicht einmal an die Kanalisation angeschlossen. Deshalb sind viele noch nicht eingezogen.

Auch unabhängige Stimmen attestieren Erdoğan Erfolge

Am zweiten Jahrestag des Erdbebens an diesem Donnerstag will Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Aufbauleistung seiner Regierung herausstellen. Selbst unabhängige Stimmen gestehen zu, dass die Bauarbeiten schnell vorankamen, obwohl die Opposition bemängelt, dass Erdoğan anfangs noch mehr Tempo versprochen hatte. „Wir hätten nicht erwartet, dass es so schnell geht“, sagt Yunus Emre Kaçamaz, der Leiter der Architektenkammer von Kahramanmaraş, dem Epizentrum eines der beiden Erdbeben vom 6. Februar 2023.

Der schnelle Wiederaufbau habe jedoch seinen Preis. „Jetzt gibt es zwar neue Gebäude, aber die Stadt hat ihre Seele verloren“, sagt Kaçamaz. „Leider wurde im Stadtzentrum keines der alten Gebäude erhalten.“ Die ganze Stadt bestehe jetzt aus identischen Häusern. „Alle in Pastellfarben.“ Um den Prozess zu beschleunigen, deklarierte die Regierung die zerstörten Innenstädte zu Sonderzonen, in denen Eigentumsrechte ausgehebelt wurden.

So konnten die – ohne Ausschreibung – beauftragten Baufirmen ganze Stadtviertel auf dem Reißbrett planen, ohne die Bewohner in irgendeiner Weise zu beteiligen. Sie konnten dabei auch solche Häuser abreißen, die vollkommen unbeschädigt waren. Ein Fehler, findet Kaçamaz. Er gesteht aber zu, dass der Zeitdruck groß ist, weil mehr als 700.000 Menschen in 20-Quadratmeter-Containern untergebracht waren – und die meisten noch immer dort ausharren. Mit Kindern bei Kälte, Hitze und Regen ist das eine extreme Belastung.

Mit beeindruckenden Zahlen wie diesen versucht die Regierung, die Stimmen von Angehörigen und Anwälten zu übertönen, die weiterhin Rechenschaft und eine juristische Aufarbeitung des Behördenversagens fordern. Etliche Neubauten waren eingestürzt, bei denen offensichtlich die geltenden Bauvorschriften ignoriert wurden. Kein Politiker ist deshalb zurückgetreten, kein Mitarbeiter einer Aufsichtsbehörde wurde bisher verurteilt. In einer Stellungnahme warf eine Opfervereinigung der Regierung „Verrat“ an den Opfern vor, deren Tod durch „Profitgier“ verschuldet worden sei.

Geringes Vertrauen in Aufsichtsbehörden

Laut dem Justizministerium wurden in rund 2000 Fällen Ermittlungen eingeleitet, meist gegen Bauherren und -firmen. Gegen 130 Personen seien bisher Haftstrafen verhängt worden. Die öffentliche Empörung über den Baupfusch war auch deshalb groß, weil das Land schon 1999 ein verheerendes Erdbeben erlebt hatte. Anschließend wurden zwar die Bauvorschriften verschärft – aber offensichtlich nicht durchgesetzt. Pünktlich zum Jahrestag will die Regierung die Bauvorschriften abermals verschärfen: Der Einbau sogenannter Scherwände soll Pflicht werden.

Auch den Vorwurf, die Rettungsmaßnahmen seien anfangs zu langsam gewesen, weist die Katastrophenschutzbehörde Afad mit Verweis auf das Ausmaß der Katastrophe zurück. Das betroffene Gebiet sei dreimal so groß wie Polen, weshalb zwei Millionen Such- und Rettungskräfte nötig gewesen wären, sagt Orhan Tatar, Leiter der Abteilung für Erdbebenrisikominimierung. Da die Türkei das Land mit den meisten aktiven Verwerfungen sei, gebe es nur eine Lösung: erdbebensicheres Bauen.

Das Vertrauen in die Aufsichtsbehörden ist jedoch weiter gering. So äußert die Rentnerin Hanım in Adıyaman Zweifel, ob ihre neue Wohnung, wie versprochen, erdbebenfest sei. Sie ist noch immer traumatisiert von den Erfahrungen, ihre Nachbarn sterben zu sehen und selbst verschüttet worden zu sein. „Ich springe nachts auf, wenn ich ein Vibrieren spüre“, sagt Hanım. In der ganzen Stadt sei „die alte Fröhlichkeit“ verschwunden. Selbst bei Hochzeiten sei da immer diese Traurigkeit.

In die am meisten vom Erdbeben betroffene Stadt Antakya in der Provinz Hatay sind viele der abgewanderten Bewohner noch immer nicht zurückgekehrt. Ein Grund: Wegen des fehlenden Wohnraums sei das Leben im ländlich geprägten Antakya sogar teurer als in der Hauptstadt Ankara, sagt Mustafa Özçelik, der Chef der örtlichen Ingenieurkammer. Die Folge ist ein Mangel an Fachkräften, der wiederum die wirtschaftliche Erholung erschwert.

Der Kammerchef beklagt zudem, dass die historisch und kulturell bedeutende Altstadt von Antakya als reiner Touristenort wiederaufgebaut werde, statt den ursprünglichen Bewohnern eine Rückkehr zu ermöglichen. „Die Regierung will alles vermarkten, das ist ihre Geisteshaltung.“ So werde zwar die alte orthodoxe Kirche in den nächsten vier Jahren wieder aufgebaut. „Aber ihre Gemeinde wird es nicht mehr geben.“