Von Olaf Scholz keine Spur. In einer der letzten Hochburgen der SPD, im Wahlkreis 169 in Nordhessen, ist der Bundeskanzler und Spitzenkandidat der Partei praktisch nicht plakatiert. Zwei oder drei große Bilder von ihm hängen an Bushaltestellen – da, wo die Werbung aus der Parteizentrale in Berlin gebucht und bezahlt wurde.
In den 37 Gemeinden und Städten im Schwalm-Eder-Kreis und im Frankenberger Land haben die Genossen ihren eigenen Mann an unzählige Laternen gehängt: „Erststimme Philipp Rottwilm“ steht da. Von ihm, der hier Bürgermeister einer kleinen Gemeinde ist, sind sie überzeugt. Er ist der Grund, wieso die Genossen bei nur einem Grad über dem Gefrierpunkt am Freitagnachmittag auf Supermarkt-Parkplätzen stehen und Marmeladengläschen mit seinem Konterfei darauf verteilen. Ein ehemaliger SPD-Bürgermeister an einem der Stände sagt: „Wir treten mit einem politisch Toten an“ – er meint Scholz. Bundesweit ist die Wahl für die SPD gelaufen, findet er. Es geht noch darum, die alte SPD-Hochburg zu verteidigen. Aber selbst das ist nicht mehr so leicht.
Beim Neujahrsempfang des DGB Schwalm-Eder im Bürgersaal in Felsberg sind viele in der SPD oder fühlen sich ihr zumindest verbunden. Um zwei Dinge geht es an diesem Abend: die wirtschaftliche Krise des Landes und die Bedrohung der Demokratie. Und irgendwie hängt beides miteinander zusammen. In seiner Rede spricht der DGB-Bezirksvorsitzende von Hessen-Thüringen, Michael Rudolph, von den Fehlern, die die Führung des Volkswagen-Konzerns gemacht habe. Er lobt den Betriebsrat, der durch den Abschluss mit der Führung die Perspektive für das nordhessische Werk gesichert habe. Von Fehlern der SPD-geführten Bundesregierung ist nicht die Rede.
Unter den Facharbeitern bei VW löste die Krise des Autokonzerns im vergangenen Jahr Verunsicherung und Abstiegsängste aus. Nicht jeder wähle deshalb gleich die AfD, aber „das selbstverständliche Kreuz bei der SPD“, das hier noch lange nach den Hartz-Reformen galt, ist seltener geworden, sagt ein Gewerkschafter. „Die Bindung zur SPD ist nicht mehr so da“, sagt am nächsten Tag einer, der bei VW arbeitet und in der SPD ist, am Wahlkampfstand. Seit zehn Jahren arbeitet er für den Konzern, in der SPD ist er wie seine Eltern. Familientradition. Damit sei er aber inzwischen die Ausnahme unter seinen Kollegen.
Unter den Gästen des Neujahrsempfangs sind vor allem pensionierte Lehrer und Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes. Wenn der DGB-Vorsitzende Rudolph es einen „Dammbruch“ nennt, dass die Union Stimmen der AfD in Kauf genommen habe, findet das viel Zustimmung. „Wir werden das nicht still und heimlich hinnehmen“, sagt Rudolph. Die Gewerkschaften seien schon einmal Zeugen einer Machtergreifung gewesen. „Herr Merz, wir sind die Brandmauer“, ruft er. Später reden sie bei Hütt-Bier und Schnittchen viel über „diesen Merz“ und die AfD.
![Haustürwahlkampf: Philipp Rottwilm (rechts) mit Günter Rudolph, dem ehemaligen Vorsitzenden der SPD-Landtagsfraktion Hessen Haustürwahlkampf: Philipp Rottwilm (rechts) mit Günter Rudolph, dem ehemaligen Vorsitzenden der SPD-Landtagsfraktion Hessen](https://adaglobalconcept.com/wp-content/uploads/2025/02/Eine-der-letzten-Hochburgen-der-SPD-liegt-in-Nordhessen.jpg)
Frieder Schütz, 80, ist einer der wenigen, die auch kritisch auf die SPD blicken. Wenn er sich mit anderen unterhalte, höre er immer wieder den Ärger über das Bürgergeld und die Hilfen für Asylsuchende. „Wenn die SPD nur denen hilft, die nicht arbeiten, dann darf sie sich nicht wundern, wenn die, die arbeiten, für die AfD stimmen“, sagt er.
Auch der Bundestagskandidat Philipp Rottwilm ist im Saal. Als sich ein älterer DGB-Mann über die AfD-Wähler ärgert und sagt: „Wenn die von der SPD weggehen, schalten die gleich ihr Hirn aus“, entgegnet Rottwilm: „Ach, hör doch auf.“ Sicherlich könne man einige der AfD-Wähler nicht zurückgewinnen, aber man müsse um das Vertrauen der Wähler kämpfen. Er redet über das, wofür er in Berlin kämpfen will: die Wirtschaft stärken und mehr für den ländlichen Raum tun. Sein Gegenüber nickt und sagt: „Der Philipp, das ist einer, wegen dem man die SPD noch wählt.“
![Wahlkampf beim Bäcker: Philipp Rottwilm (rechts) mit Mario Gerhold, dem Bürgermeister der Gemeinde Körle Wahlkampf beim Bäcker: Philipp Rottwilm (rechts) mit Mario Gerhold, dem Bürgermeister der Gemeinde Körle](https://adaglobalconcept.com/wp-content/uploads/2025/02/1739221312_155_Eine-der-letzten-Hochburgen-der-SPD-liegt-in-Nordhessen.jpg)
Das Selbstverständnis der SPD in Nordhessen ist anders als in weiten Teilen des Landes. Wer hier aufgestellt werden will, muss sich bereits in einer Form profiliert haben, sagt Edgar Franke. Er vertritt den Wahlkreis seit 15 Jahren im Bundestag, viermal wurde er direkt gewählt. Vorher war er zehn Jahre lang Bürgermeister der Stadt Gudensberg. „Wir haben hier in der SPD mehr Bodenhaftung“, sagt er. Für seinen potentiellen Nachfolger Rottwilm findet auch er viel Lob. Seit sieben Jahren ist Rottwilm Bürgermeister der Gemeinde Neuental, in der er aufwuchs und heute mit seiner Familie lebt. „Der ist geerdet. Das riechen die Leute.“
Zum Stallgeruch gehört die Ahlewurst. Rottwilm kann minutenlang über diese nordhessische Spezialität sprechen, von welchem Hausschlachter er seine bezieht und worauf es ankommt – lieber geräuchert als luftgetrocknet, sagt er. In seinem Auftreten und seiner Geschichte steht Rottwilm für eine akademisch geprägte, moderne SPD – er studierte in Oxford und Harvard, wurde in Volkswirtschaftslehre promoviert und arbeitete für die Unternehmensberatung KPMG. Den Schulterschluss mit den Arbeitern und das Kämpfen für die kleinen Leute stellt der eher konservative Sozialdemokrat heraus. Er selbst aber ist kein Aufsteiger; seine Eltern sind Ärzte. Rottwilm erzählt gern, dass er diesen und jenen aus seiner Zeit in Berlin, Frankfurt oder London kennt. Mit seiner Frau, die er in Oxford kennenlernte, entschied er sich bewusst, wieder hierherzuziehen.
![Einst SPD-Stammland: Im Garten eines Wohnhauses in Edermünde weht eine Deutschlandflagge. Einst SPD-Stammland: Im Garten eines Wohnhauses in Edermünde weht eine Deutschlandflagge.](https://adaglobalconcept.com/wp-content/uploads/2025/02/1739221313_712_Eine-der-letzten-Hochburgen-der-SPD-liegt-in-Nordhessen.jpg)
Am Wahlstand vor dem Rewe-Markt in Neuental kommen zwei ältere Herren ins Schwärmen, wenn es um Rottwilm geht. Für die Entwicklung des Gewerbegebiets habe er viel getan, habe die Gemeinde entschuldet und die Ortsvorstände gestärkt. Ein Projekt des Bürgermeisters ist auch die Neugestaltung des Bahnhofsvorplatzes, der ist ziemlich in die Jahre gekommen. Weil die Bahn nichts daran ändern wollte, versuchte die Gemeinde den Platz zu kaufen, um ihn zu erneuern. Jahrelang dauerten laut Rottwilm die Verhandlungen. Als eine Einigung stand, sprang die Bahn doch noch ab.
Nun bekommt die Gemeinde eine Gestattung, dass sie den Platz mit Mitteln des Landes sanieren darf – er gehört aber weiterhin der Bahn. „Da wäre ich gern schon früher in der Bundespolitik gewesen, um was dafür zu tun, dass solche Dinge nicht so lange dauern“, sagt Rottwilm.
![Vor dem Schlachteessen: Rottwilm hält eine Rede beim SPD-Ortsverbands Gudensberg. Vor dem Schlachteessen: Rottwilm hält eine Rede beim SPD-Ortsverbands Gudensberg.](https://adaglobalconcept.com/wp-content/uploads/2025/02/1739221313_92_Eine-der-letzten-Hochburgen-der-SPD-liegt-in-Nordhessen.jpg)
Mit dem Besitzer des Rewe-Marktes, Thorsten Kehr, diskutiert Rottwilm über den Mindestlohn. „Von mir aus kann man 15 Euro zahlen“, sagt Kehr dem Kandidaten. Aber dann müsse man sich darauf einstellen, dass die Produkte teurer werden. „Statt 1,99 Euro kostet die Wurst dann 2,49 Euro“, sagt er. Das werde im Wahlkampf nicht gesagt. Rottwilm hört zu, lobt die Tarifautonomie und argumentiert damit, dass es eine Untergrenze im Lohn geben müsse. Kehr sagt: „Bei 15 Euro pro Stunde haut ihr uns die unteren Tarifgruppen doch einfach weg.“ Kehrs Mutter ist bis heute SPD-Mitglied. Das Parteibuch ist die eine Sache, die sie unbedingt mitnehmen wollte ins Altersheim. Auch wenn Kehr so seine Probleme mit der SPD hat, schätzt er Rottwilm. Der habe ihn beim Bau des neuen Marktes unterstützt.
Um den Wahlkampf durchzuhalten, trinkt Rottwilm einen Smoothie auf dem Rewe-Parkplatz und hüpft danach auf und ab. Die Kälte zehrt an den Wahlkämpfern. Einen Tag musste er aussetzen. Wie viele Wahlkämpfer im Land schleppt er eine Erkältung mit sich herum. Der Stress, die Kälte, wenig Schlaf.
![Ländlich: Blick auf den Ortsteil Besse in der Gemeinde Edermünde im Schwalm-Eder-Kreis Ländlich: Blick auf den Ortsteil Besse in der Gemeinde Edermünde im Schwalm-Eder-Kreis](https://adaglobalconcept.com/wp-content/uploads/2025/02/1739221313_391_Eine-der-letzten-Hochburgen-der-SPD-liegt-in-Nordhessen.jpg)
Seine Konkurrentin von der CDU, Anna-Maria Bischof, ist gerade zu Hause und macht eine kurze Wahlkampfpause, um sich zu regenerieren. Am Telefon hustet sie. Den Wahlkreis will sie unbedingt gewinnen, die zwei Wochen bis zur Wahl halte sie schon durch. Ihre Chancen stehen hier in Nordhessen besser denn je. Umfrageinstitute rechnen Bundestrends auf Wahlkreise runter und geben die Wahrscheinlichkeit an, mit der diese oder jene Partei gewinnt. Auf diesen Karten ist Deutschland unterteilt: Der Osten mehrheitlich blau, dort dürfte die AfD viele Direktmandate gewinnen – der Rest des Landes schwarz für die Union. Und der Wahlkreis 169 in Hessen ist, je nach Institut, grau – unsicher für die CDU oder für die SPD. Ein Wackelkandidat.
Was die CDU beflügelte, war die Landtagswahl 2023 in Hessen. Der nördliche Schwalm-Eder-Kreis wurde zum ersten Mal von einem CDU-Mann direkt gewonnen – mit nur 481 Stimmen Vorsprung. Für den SPD-Kandidaten Rottwilm ist das ein Ansporn, bis zur letzten Minute zu kämpfen.
![Rottwilm war da: Wahlwerbung an der Haustür im Ortsteil Besse in Edermünde im Schwalm-Eder-Kreis Rottwilm war da: Wahlwerbung an der Haustür im Ortsteil Besse in Edermünde im Schwalm-Eder-Kreis](https://adaglobalconcept.com/wp-content/uploads/2025/02/1739221313_826_Eine-der-letzten-Hochburgen-der-SPD-liegt-in-Nordhessen.jpg)
In Edermünde klingelt er am Nachmittag an den Türen eines Neubaugebiets. „Wenn es nur auf ein paar Hundert Stimmen ankommt, dann zählt jede Tür.“ Er wolle sich vorstellen, sagt er immer und immer wieder. So überreicht er Werbung und Kuli. Direktkandidaten neigen dazu, ihre eigene Wirkung zu überschätzen. Das sagt die Wahlforschung. Ist der Trend wie in den aktuellen Umfragen, die Union bei 30 Prozent, die SPD abgeschlagen bei 15, hat Rottwilm kaum eine Chance.
Im Dorfgemeinschaftshaus trifft sich die SPD Gudensberg am Freitagabend zum Schlachteessen. 22 Euro haben die Genossen und die Herren vom Männergesangsverein bezahlt, um am Buffet zwischen gekochter Blut- oder Leberwurst, Mett mit Zwiebeln, Bratwurst, Frikadellen und Wellfleisch zu entscheiden. Rottwilm hält eine etwas zu lange Rede. Als er sagt, „diesen Punkt will ich noch machen“, atmet ein Genosse schwer. Der „Tabubruch“ in Berlin bewegt die Basis hier wenig.
Einer vom Männergesangsverein, der wegen der Wurst da ist, meint, dass er das „Getue in Berlin“ nicht verstehen könne. „Die Migration muss begrenzt werden. Punkt. Aus.“ Scholz hält er für „unfähig“, Merz mag er nicht. Und auch wenn er die SPD ein Leben lang gewählt habe, hadert er. Vielleicht wähle er den jungen Kandidaten. Diesmal dann aber nicht weil, sondern obwohl der in der SPD ist.