Die Pflegeversicherung und die Heimpflege kosten zu viel

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In der Pflegeversicherung jagt eine negative Schlagzeile die nächste. Zuletzt meldete der Ersatzkassenverband VDEK, dass Heimbewohner inzwischen fast 3000 Euro im Monat selbst aufbringen müssten. Davon fließe etwa die Hälfte in die eigentliche Pflege sowie in die Ausbildung der Beschäftigten. Der Rest finanziere die „Hotelkosten“ aus Unterkunft und Verpflegung, aber auch die Investitionen des Heims, die dem Gesetz nach eigentlich die Bundesländer aufzubringen hätten.

In den ersten zwölf Monaten ihres Aufenthalts müssen die Bewohner den neuen Zahlen zufolge eine Eigenbeteiligung von durchschnittlich 2984 Euro im Monat zahlen, elf Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Und das, obwohl zugleich die Beiträge zu den Pflegekassen stark steigen, von denen die Heime in erster Linie leben. 2018 hatten die Beiträge für Versicherte mit Kindern noch 2,55 Prozent betragen, 2019 waren es dann 3,05 und 2023 schon 3,4 Prozent. Zu Beginn dieses Jahres kam die nächste Hiobsbotschaft: Der Satz kletterte auf 3,6 Prozent, das sind 41 Prozent mehr als vor sieben Jahren. Für Kinderlose sind jetzt 4,2 Prozent fällig.

Das Missverhältnis liegt an vielerlei, etwa daran, dass die Pflegeleistungen höher honoriert werden und die Kosten steigen, vor allem fürs Personal. Sogar nichttarifgebundene Einrichtungen müssen ihre Pflegekräfte faktisch nach Tarif entlohnen. Vor allem aber schlagen die ungünstige Demographie und die angespannte Wirtschaftslage durch, die Zahl der Einzahler und die Höhe ihrer Beiträge steigt langsamer als die der Empfänger und der Leistungen. Die anschwellende Arbeitslosigkeit dürfte das Problem verschärfen. Die Schieflage sähe noch schlimmer aus, wenn nicht die Reallöhne deutlich gestiegen wären; an diesen orientieren sich die von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gemeinsam aufgebrachten Sozialabgaben.

Zur wachsenden Fragilität der Pflege passt diese unerwartete Nachricht aus dem vergangenen Mai: Damals musste Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) eingestehen, dass die Zahl der Pflegebedürftigen viel stärker gewachsen sei als erwartet: Eigentlich habe man 2023 der Demographie entsprechend mit einer Zunahme um rund 50.000 Personen gerechnet, tatsächlich seien es aber 360.000 gewesen, siebenmal mehr. Richtig erklären konnte der Minister die Abweichung nicht, möglicherweise habe sie an einem „Sandwich-Effekt“ gelegen: dass zu den alten pflegebedürftigen Menschen die ersten Babyboomer aus den geburtenstarken Jahrgängen hinzugekommen seien. Warum sich dies nicht vorausberechnen ließ, blieb allerdings offen.

15 Prozent mehr Pflegebedürftige

Mit seiner Hilf- und Ahnungslosigkeit steht Lauterbach nicht allein. Das Statistische Bundesamt Destatis, das die Zahl der Pflegebedürftigen alle zwei Jahre ausweist, meldet für Ende 2023 knapp 5,7 Millionen Personen, 730.000 oder 15 Prozent mehr als im Dezember 2021; dieser Anstieg entspricht annähernd der Einwohnerzahl Frankfurts. Hingegen hatte die Vorausberechnung von Destatis aufgrund der Bevölkerungsentwicklung nur einen Aufwuchs um 100.000 Personen prognostiziert, so viele, wie in Cottbus wohnen.

Das Amt erklärt die Diskrepanz damit, dass die berechtigte Gruppe seit Ausweitung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs 2017 stark gewachsen sei. Freilich klingt auch diese Erklärung etwas bemüht, weil die Veränderung 2023 schon sechs Jahre zurücklag und durchaus hätte berücksichtigt werden können. Klar ist, dass der Prozess nicht abreißen wird. Destatis rechnet bis 2030 mit 6,1 Millionen und bis 2050 mit 7,5 Millionen Pflegebedürftigen. Das wären in 25 Jahren, in weniger als einer Generation, ein Drittel mehr als heute.

30 Jahre nach ihrer Einführung im Jahr 1995 hat sich die sogenannte Soziale Pflegeversicherung (SPV) als fünfte Säule der sozialen Absicherung neben der Renten-, Kranken-, Arbeitslosen- und Unfallversicherung fest etabliert. 90 Prozent der Bevölkerung sind Teil der SPV. Auch Privatversicherte müssen pflegepflichtversichert sein. Aber diese fünfte Säule ächzt gewaltig unter dem Gewicht, weil sie immer mehr Leistungen und Kosten tragen muss, obgleich sie eigentlich nur einen Teil der Risiken abstützen sollte („Teilkasko“).

Defizit von fast 1,6 Milliarden Euro im Jahr 2024

Nach vorläufigen Angaben des Spitzenverbands der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) haben die Pflegekassen 2024 ein Defizit von fast 1,6 Milliarden Euro eingefahren. Auch für 2025 wird eine Unterdeckung erwartet – trotz der jüngsten Beitragserhöhung, die 3,7 Milliarden Euro zusätzlich einbringt. Für beide Jahre meldet der Verband, dass die Kosten voraussichtlich um elf Prozent in die Höhe schnellen dürften. Allein die Zahlungen an die Leistungsbezieher seien mit Beginn dieses Jahres um 4,5 Prozent oder 1,8 Milliarden Euro angewachsen. GKV-Verbandschefin Doris Pfeiffer nannte die Situation „so ernst wie noch nie“, möglicherweise müssten einzelne Pflegekassen im Jahresverlauf Liquiditätshilfen aus dem Ausgleichsfonds in Anspruch nehmen. Trotz höherer Beiträge sei die Finanzierungsmisere nicht gelöst, sondern nur aufgeschoben worden.

Was also ist zu tun? Eine gute Idee der Politik war es, 2015 einen Pflegevorsorgefonds bei der Bundesbank einzurichten, der sich gut verzinst hat. In diesen flossen 0,1 Prozentpunkte aus den Pflegebeiträgen, etwa 1,7 bis 1,9 Milliarden Euro im Jahr, als kapitalgedeckte Rücklage für die geburtenstarken Babyboomerjahrgänge. Doch als die laufende Pflegefinanzierung klamm und der neu eingeführte Bundeszuschuss wieder gestrichen wurde, griff Lauterbach in die Kasse: Für 2023 setzte er die Fondsfinanzierung ganz aus, für 2024 bis 2027 verringerte er sie von 1,7 Milliarden auf nur noch 0,7 Milliarden Euro im Jahr.

Da das Geld dennoch nicht ausreicht, sind verschiedene Reformen im Gespräch. Am weitesten geht der Duisburger Gesundheitsökonom Jürgen Wasem, der dem Expertenrat Pflegefinanzen des Verbandes der Privaten Krankenversicherungen (PKV) vorsteht. Sein Konzept „Pflege-Plus“ sieht neben der bisherigen Umlagefinanzierung eine obligate, paritätisch finanzierte kapitalgedeckte Versicherung mit Altersrückstellungen vor. Diese würde die gesetzlichen Leistungen so aufstocken, dass in der vollstationären Betreuung alle pflegebedingten Kosten bis auf einen Eigenanteil von zehn Prozent abgedeckt wären. Die Beiträge betrügen je nach Alter zwischen 39 und 52 Euro im Monat, von 67 Jahren an 26 Euro. Die Hälfte müsste der Arbeitgeber aufbringen. Kinder wären beitragsfrei mitversichert, nicht erwerbstätige Ehepartner zahlten die Hälfte.

Diskussion über Vollkaskoversicherung

Eine solche „Vollkaskoversicherung“ schwebt auch Teilen der CDU vor, darunter dem sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer und dem nordrhein-westfälischen Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann. Anders als in Wasems Konzept würde in dem von ihnen angestrebten „Systemwechsel“ der Bund die Mehrkosten für die pflegebedingten Heimkosten tragen. Viel wäre schon gewonnen, wenn Berlin die versicherungsfremden Leistungen in der Pflege übernähme, argumentieren sie, etwa die Kosten für die Pflegeausbildung, die Milliardenbelastungen aus der Corona-Zeit oder die Sozialbeiträge der pflegenden Angehörigen.

Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz sagte am Sonntag in dem TV-Duell mit Amtsinhaber Olaf Scholz (SPD), er sei „skeptisch“ gegenüber einer Vollversicherung. Besser wäre es, „wenn man in der längeren Perspektive den Menschen eine verpflichtende private zusätzliche Pflegeversicherung auferlegt“. Scholz hingegen sprach sich für eine „Solidaritätsverschränkung“ zwischen privaten und gesetzlichen Versicherungen aus: Ein Single, der 5000 Euro verdiene und gesetzlich versichert sei, zahle solidarisch für die Kranken- und Pflegeabsicherung von weniger Begüterten mit. Ein Privatversicherter mit 8000 Euro tue das indes nicht, was sich ändern müsse.

Im Einklang mit dem SPD-Wahlprogramm propagierte Scholz auch einen „Kostendeckel“ für die Pflegeeigenanteile von maximal 1000 Euro im Monat. Die Idee wird Sockel-Spitze-Tausch genannt: Nicht der Heimbewohner zahlt, was über die begrenzten Leistungen der Kassen hinausgeht, sondern umgekehrt. Schon jetzt ist es so, dass die Pflegekassen je nach Aufenthaltsdauer zwischen 15 und 75 Prozent der pflegebedingten Eigenanteile übernehmen. Trotzdem liegt die Zuzahlung laut VDEK in den ersten beiden Heimjahren mit rund 1500 und 1200 Euro weit oberhalb von Scholz’ Vorstellung.

Das Wissenschaftliche Institut der PKV (WIP) hat in einer noch unveröffentlichten Studie ausgerechnet, dass der Pflegekostendeckel aus dem SPD-Programm rund 9,2 Milliarden Euro im Jahr kosten würde. Zwar will die Partei im Gegenzug die bisherigen Leistungszuschläge mit der 15-bis-75-Prozent-Übernahme streichen. Da es aber einen „Bestandsschutz“ für solche Heimbewohner geben soll, die gemäß der alten Regelung derzeit weniger als 1000 Euro zahlen, sei der Vorschlag ein „nicht ausreichend gegenfinanziertes Wahlversprechen, welches letztendlich auf weiter steigende Beitragssätze hinausläuft“, so das WIP.

Dem Institut zufolge sind schon die von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) eingeführten und von Lauterbach ausgeweiteten Leistungszuschläge ein Fass ohne Boden. 2024 habe die Begrenzung der Eigenanteile die Pflegekassen 6,5 Milliarden Euro gekostet, 48 Prozent mehr als 2023. Wenn sich nichts ändere, sei 2029 mit 13,9 Milliarden im Jahr zu rechnen.