In der Vergangenheit wurden Frauen in der Wissenschaft systematisch übergangen, ihre Mitarbeit oft nicht namentlich benannt. Auch heute noch wird es Frauen in der Forschung häufig nicht leicht gemacht – wenn auch unbewusst.
Das TIME Magazin hat sie 2024 in die Liste der 100 aufstrebenden Führungspersönlichkeiten aufgenommen: Astrophysikerin Ylva Götberg. Die Schwedin entwickelte eine neue Strategie, um nach Doppelsternen zu suchen. Seit 2023 lehrt sie die Grundlagen unseres Kosmos als Assistenzprofessorin am Institute of Science and Technology Austria (ISTA).
Ihr Weg dahin war aber nicht immer leicht. Als sie entschied, ihrer Leidenschaft nachzugehen und Physik zu studieren, stellte sie das mehrfach in Frage – weil sie wusste, sie würde zu einer kleinen Minderheit von Frauen gehören. “Das bringt einen dazu, sich selbst zu hinterfragen: ‚Was mache ich hier eigentlich? Gehöre ich wirklich hierher? Und kann ich es tatsächlich schaffen?‘”, sagt sie.
Bevor Ylva Götberg nach Österreich ging, war sie als NASA Hubble Postdoktorandin an den Carnegie Observatories in Kalifornien tätig. Ihren Doktor machte die gebürtige Schwedin im niederländischen Amsterdam.
Bevor Ylva Götberg nach Österreich ging, war sie als NASA Hubble Postdoktorandin an den Carnegie Observatories in Kalifornien tätig. Ihren Doktor machte die gebürtige Schwedin im niederländischen Amsterdam.
“Frauen wird weniger Glauben und Gehör geschenkt”
Damit ist sie nicht allein. Denn Frauen unterschätzen sich eher, das haben bereits mehrere Studien gezeigt. So schreiben sich Jungs Daten zufolge höhere Kompetenzen in Mathe zu als Mädchen – was sich nicht mit den Schulnoten deckte. Oftmals trauen sich Mädchen wissenschaftliche und technische Berufe, die eher als typisch männlich gelten, weniger zu. “Es gibt einfach viele geschlechtsspezifische Praktiken und Stereotype, die es Frauen immer noch schwieriger machen, insbesondere in den MINT-Fächern”, sagt Professorin und Frauenbeauftragte der Hochschule München, Elke Wolf. Neben den eigenen Zweifeln von Frauen komme hinzu, “dass man Frauen weniger Glauben und weniger Gehör schenkt, sie weniger ermutigt, um eine wissenschaftliche Karriere einzuschlagen”.
Auch dieses Gefühl kennt Ylva Götberg. “Manchmal habe ich mich gefragt, ob die Tatsache, wie ich aussehe, wie ich klinge, die Tatsache, dass ich eine Frau bin, ob das einen Einfluss darauf hat, wie die Leute mir zuhören oder ob sie mir zuhören.” Auch jetzt wo sie selbst unterrichtet, bleibe es herausfordernd. “Es sind oft viele Männer in den Kursen. Wenn ich einen neuen Kurs unterrichte, habe das Gefühl, dass ich viel begründen muss, was ich sage. Und es dauert ein paar Kurse, bis sie anfangen, mir wirklich zuzuhören.” Dass das mit Absicht geschieht, denke sie nicht. Vielmehr vermute sie, dass das Verhalten unbewusst, aber in unserer gesellschaftlichen Struktur verwurzelt sei.
Ihre Mitarbeit wird weniger häufig benannt
“Chilly climate” – so wird eine “etwas frostige und abweisende Atmosphäre, die Frauen erleben, wenn sie in männerdominierten Unternehmen oder Forschungsbereichen arbeiten” genannt, erklärt Wolf. “Dass ihre Aussagen nicht gehört werden, dass sie von anderen übernommen werden und dann als eigene Ideen weitergetragen werden. Das ist schon noch eine Praktik, die Frauen gerade in Milieus erleben, wo sie in der Minderheit sind.”
Der Ursprung dafür könnte in den noch immer verankerte Rollenbildern liegen – und hat auch einen geschichtlichen Hintergrund. Denn erst seit etwa 100 Jahren ist es Frauen in Deutschland überhaupt erlaubt, zu studieren. Zusätzlich wird der Arbeit von Frauen in der Wissenschaft häufiger weniger Beachtung und Glauben geschenkt – der sogenannte Mathilda-Effekt. Und nicht selten erhielten lediglich ihre männlichen Kollegen den Ruhm für gemeinsame Arbeiten.
Ein bekanntes Beispiel: Lise Meitner. Die österreichische Physikerin erforschte zusammen mit dem Chemiker Otto Hahn die Radioaktivität. Für die Entdeckung der Kernspaltung erhielt schließlich nur er den Nobelpreis. Die Liste ähnlicher Fälle ist lang: Rosalind Franklin, Hedy Lamarr, Dorothy Vaughan oder Mary W. Jackson – und andere deren tatsächliches Mitwirken an bedeutenden Arbeiten bis heute kontrovers diskutiert wird, wie bei Einsteins erster Frau Mileva Marić. Auch heute noch werden laut einer Studie Frauen seltener namentlich in wissenschaftlichen Arbeiten genannt – obwohl sie daran beteiligt waren.
Professorinnen verdienen im Schnitt weniger
Die Unterschiede zeigen sich nicht unbedingt sofort – wie bei Tanja Mehlstäubler. Für die Quantenphysikerin und Professorin wurde es spürbarer je höher sie die Karriereleiter hinaufstieg, etwa als sie in Führungsverantwortung kam und es um Verhandlungen ging. “In Verhandlungen schneiden wir Frauen schlechter ab als Männer. Und das merken wir leider immer erst recht spät”, sagt Mehlstäubler von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig. Das zeige sich dann auch in den Gehältern: Wie Daten des Deutschen Hochschulverbands (DHV) 2023 zeigten, verdienten Professorinnen hierzulande auf der höchsten Besoldungsstufe durchschnittlich 660 Euro weniger als ihre männlichen Kollegen.
Tanja Mehlstäubler gehört zu den international führenden Forschenden im Bereich der sogenannten Präzisions-Laserspektroskopie und Ionenfallen für Atomuhren und Quantencomputer. Nach dem Studium in New York hat sie in Paris geforscht. Neben der Leibniz Universität Hannover lehrt sie auch als Gastprofessorin an der Osaka University in Japan.
“Wir haben in Deutschland eigentlich nach wie vor eine starke sogenannte Leaky Pipeline”, sagt Wolf, Sprecherin der Landeskonferenz der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten an bayerischen Hochschulen. “Das bedeutet, dass der Frauenanteil mit zunehmender akademischer Stufe immer kleiner wird.” Das gelte aber nicht gleichermaßen für alle Fachbereiche. “In den technischen und naturwissenschaftlichen Fächern ist diese Pipeline erstaunlicherweise eher etwas flacher. Das heißt, wir verlieren auf dem Weg nicht so viele Frauen, aber dafür fangen da eben auch sehr viel weniger Frauen überhaupt erst an.”
Deutschland unter dem EU-Schnitt
Das zeigt sich etwa an Universitäten und Hochschulen: Während mehr als 50 Prozent der Studienanfänger Frauen sind, ändert sich das auf den höheren Ebenen. So sind unter den Professoren nur noch 28 Prozent Frauen. Ähnlich gering fällt der Frauenanteil in der Forschung aus: Im Bereich Forschung und Entwicklung war 2021 weniger als jede dritte Person eine Frau (29,4 Prozent) – der zweitniedrigste Wert in der EU.
Bewusstsein, Unterstützung und Wertschätzung
Wie könnte sich das ändern? Einfach werde das auf jeden Fall nicht, meint Wolf. “Wie stark diese Normen wirken, ist uns meistens gar nicht bewusst. Und weil wir diese Normen als so etwas Normales ansehen, ist es auch schwer, die Menschen dafür zu sensibilisieren.” Eine Veränderung wäre also ein langer Prozess. Dabei könnte etwa eine bessere Durchmischung einen Unterschied machen. “Was nachweislich zum Abbau von solchen Genderstereotypen beiträgt, ist eben die Erfahrung mit Frauen, die nicht diesen Stereotypen entsprechen: Also wenn ich mit einer Frau zusammenarbeite, die brillante Ideen hat und strategisch agiert, dann kann ich mir im Laufe der Zeit auch vorstellen, dass Frauen das grundsätzlich können”, so Wolf.
Physikerin Mehlstäubler hofft auch auf einen anderen Fokus: “Ich wünsche mir, dass Frauen wertgeschätzt werden und nicht auf ihr Äußeres, sondern auf ihre wissenschaftlichen Erfolge geachtet wird”, sagt Mehlstäubler. Auch auf die leisen Töne in der Wissenschaft solle mehr geschaut werden – und weniger darauf, wer sich am besten verkaufen könne. “Denn Wissenschaft sollte sich durch Neutralität und Sachlichkeit auszeichnen. Das täte uns allen gut.”
Unterstützung sei ebenfalls enorm wichtig – etwa während der Studienzeit, sagt Astrophysikerin Götberg. “Das hat mir sehr geholfen. Eine solche Unterstützung für Gleichaltrige kann einen großen Unterschied machen.” Auch in mehr Bewusstsein für das Thema sieht sie eine Chance. “Ich denke, dass es wirklich etwas ändert, wenn man darüber spricht”, sagt sie. “Dass man nicht nur sagt: ‚Es gibt tolle Frauen da draußen, und sie werden kommen, wenn wir nur lange genug warten.‘” Man müsse sich wirklich aktiv darum bemühen. “Wissenschaft und Forschung schöpfen derzeit nicht ihr volles Potenzial aus, denn es gibt sicherlich viele Frauen, die hervorragende Wissenschaftlerinnen hätten sein können, die uns entgangen sind. Das muss sich ändern.”