Donald Trump versetzt die NATO in den Schockzustand

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„Aus meiner Sicht wäre es besser gewesen, über eine mögliche NATO-Mitgliedschaft der Ukraine oder über mögliche Gebietsverluste des Landes erst am Verhandlungstisch zu sprechen und es nicht vorher vom Tisch zu nehmen“, sagte der SPD-Politiker mit heiserer Stimme. Das hatte er, wie Teilnehmer bestätigten, Hegseth auch in der Sitzung am Mittwoch klar gesagt. Aber was nutzte das jetzt noch, wo die Äußerungen des Amerikaners längst über alle Agenturen gelaufen waren?

Am Donnerstagmorgen ging es Pistorius, wie allen anderen Europäern, nur noch um einen anderen Punkt. „Europa muss bei den Verhandlungen eingebunden sein“, verlangte er, „insbesondere wenn wir, wie es gestern hieß, bei der Friedensordnung (…) die Hauptrolle spielen sollen“. Es dürfte „allen einleuchten“, dass die Europäer „nicht am Katzentisch sitzen können“. Das war freilich mehr Appell als Situationsbeschreibung. Was auch für den Aufruf des Ministers galt, dass Deutschland „als größte Volkswirtschaft in Europa und drittgrößte der Welt“ mit am Tisch sitzen solle. „Aber das müssen andere entscheiden.“

Man konnte spüren, wie es in Pistorius kochte. Was er sich von der Münchner Sicherheitskonferenz an diesem Wochenende im Hinblick auf Friedensverhandlungen erwarte, wurde er noch gefragt. Die Antwort ließ tief blicken. Er habe erst vor drei Tagen ausgeschlossen, dass es dort einen US-Friedensplan geben werde, so Pistorius. Doch lebe man gerade „in Zeiten, in denen wir heute nicht sagen können, womit wir morgen rechnen“.

Verstört waren am Donnerstag auch andere Minister – je näher ihre Länder an Russland liegen und je schlimmer ihre Erfahrungen mit Moskau sind, desto mehr. „Wenn wir nicht in der Lage sind, als ein Team zusammenzuarbeiten, dann werden wir die dunkelsten Zeiten seit dem Zweiten Weltkrieg erleben“, sagte die litauische Verteidigungsministerin Dovile Sakaliene.

Ihr estnischer Kollege Hanno Pevkur rechnete vor, dass sein Land an der NATO-Mission im Irak teilnehme „und im Verhältnis mehr Soldaten verloren hat als die USA“. Und dass es darüber diskutiere, ob es bald vier oder fünf Prozent für Verteidigung ausgebe. „In dieser Familie stehen wir Schulter an Schulter, Rücken an Rücken, um uns wechselseitig zu verteidigen“, fasste Pevkur seine Botschaft zusammen. Auch das klang leicht verzweifelt.

„Frieden durch Stärke“

Der französische Verteidigungsminister zeigte sich nicht über alle Äußerungen des Vortags überrascht. Sébastien Lecornu verwies auf die Gespräche seines eigenen Präsidenten mit Trump bei der Wiedereröffnung der Kathedrale Notre-Dame Anfang Dezember in Paris. Bestätigt fühlte er sich zudem im französischen Streben nach strategischer Autonomie Europas, also einer Abkoppelung von den USA.

Mit der plötzlichen Eröffnung von Friedensverhandlungen über den Kopf auch Frankreichs hinweg, hatte er freilich nicht gerechnet. Entweder gehe es nun um Parameter, die es wirklich ermöglichten, „Frieden durch Stärke“ zu erreichen, sagte Lecornu. „Oder es wird im Gegenteil Frieden durch Schwäche (…), was uns zu dramatischen Sicherheitslagen führen kann, ja sogar zu einer langfristigen Ausweitung des Konflikts.“

Mark Rutte war in einer wenig beneidenswerten Lage, als er im Hauptquartier vor die Presse trat. Als NATO-Generalsekretär muss der Niederländer für alle sprechen. Aber wie geht das, wenn das mit Abstand mächtigste Mitglied etwas ganz anderes will als die anderen 31 Verbündeten?

Rutte versuchte die Herausforderung zu meistern, indem er sich Halbsätze von Hegseth herauspickte – und den Rest einfach ignorierte. Es dürfe kein „Minsk 3.0“ geben, hatte der Amerikaner gesagt, also eine Vereinbarung mit Russland, die Putin dann wieder bricht. Das war nun Ruttes Mantra. „Wir alle wollen, dass die Ukraine in der bestmöglichen Position ist, wenn diese Gespräche beginnen, um sicherzustellen, dass sie erfolgreich abgeschlossen werden können“, so beschrieb er den angeblichen Konsens.

Freilich hatten sich Rutte und die EU-Regierungschefs erst vor Weihnachten geweigert, überhaupt über solche Verhandlungen zu reden, weil die Ukraine gerade nicht in einer Position der Stärke ist. Rutte selbst hatte seit seinem Amtsantritt keine Gelegenheit ausgelassen, um zu sagen, „dass die Ukraine Mitglied der NATO sein wird“.

Noch bevor sich Hegseth am Mittwoch dazu einließ, hatte der Generalsekretär dazu jedoch schon eine bemerkenswerte Wende hingelegt. Erst einmal müsse man einen „dauerhaften“ Frieden mit Russland abschließen, sagte er in einer Pressekonferenz, danach könne man ja mal „brainstormen“, wie es mit der NATO und der Ukraine so weitergehe.

„Es gibt hier keinen Betrug“

Rutte war wohl mehr als andere auf Hegseths Auftritt eingestellt. Intern habe man Zeichen bekommen, hieß es aus seiner Umgebung, dass der Gast ganz schön austeilen werde. Zu den möglichen Szenarien gehörte auch, dass Amerika mal wieder mit dem Austritt aus dem Bündnis droht, wie es Trump 2018 schon einmal getan hatte. So gesehen, war dann nicht einmal der schlimmste Fall eingetreten.

Während die Minister zur ersten Sitzung zusammenkamen, organisierte die Allianz ein Hintergrundgespräch – ausgerechnet zu ihrer Unterstützung der Ukraine. Die Sprecher dürfen nicht identifiziert werden, aber sie sind als NATO-Beamte hinreichend beschrieben. Immer wieder wurden sie mit der Frage konfrontiert, was es denn nun bedeute, dass Amerika den NATO-Beitritt der Ukraine als „unrealistisches Ergebnis einer Verhandlungslösung“ mit Putin betrachtet. Immer wieder kam dieselbe Antwort: Es bleibe bei der Beschlusslage der Allianz.

Gegen Trumps Willen? Die USA würden den Beitritt nur „derzeit“ ausschließen, natürlich habe Putin dabei nichts mitzureden. Aber hatte Hegseth nicht genau das gesagt, und würde ein Friedensvertrag nicht für unbestimmbare Dauer gelten? Die Beamten wirkten so, als seien sie auf einem Außenposten im Feindesland allein gelassen worden. Fast trotzig sagte einer von ihnen in Uniform: Solange man keinen Befehl bekomme, die Unterstützung für Kiew einzustellen, werde man einfach weitermachen.

Hegseth selbst wies den Vorwurf einer Reporterin von sich, dass sein Land nun die Ukraine verrate. Die Welt könne sich glücklich schätzen, dass es Präsident Trump gebe, erwiderte der frühere Fox-News-Kommentator. Nur Trump könne „die Mächte versammeln, die Frieden bringen“. Obendrein habe Amerika „mehr als 300 Milliarden Dollar“ für die Ukraine aufgewendet – eine Zahl, die der Präsident am Vortag genannt hatte, die aber durch nichts belegt ist. „Es gibt hier keinen Betrug“, sagte der Chef des Pentagons, nur Anerkennung der ganzen Welt, dass Amerika sich für einen ausgehandelten Frieden einsetze.

100.000 amerikanische Soldaten

Eigentlich sollte es am Donnerstag in Brüssel weniger um die Ukraine gehen als um höhere Verteidigungsausgaben. Das Thema birgt ja schon genügend Sprengkraft, weil die meisten Staaten künftig Summen aufwenden sollen, die jenseits der politischen Vorstellungskraft liegen.

Pistorius rechnete das für Deutschland vor. Falls das Ziel von zwei auf drei Prozent der Wirtschaftskraft hochgesetzt werde, müsse man allein künftig 120 statt derzeit gut 50 Milliarden Euro für Verteidigung ausgeben. Selbst das war noch untertrieben. Auf Basis der jüngsten Angaben des Statistischen Bundesamts zur Wirtschaftsleistung im abgelaufenen Jahr müssten es sogar 130 Milliarden Euro sein.

Ob sich die USA auf ein solches Ziel einlassen würden, ist aber alles andere als gewiss. Man müsse fünf Prozent erreichen, wie von Trump gefordert, beteuerte Hegseth am Donnerstag abermals. Bisher erschien das den meisten Europäern utopisch. Rutte hat sich von seinen Fachleuten ausrechnen lassen, dass die Verbündeten im Zuge der neuen Verteidigungspläne gut 3,5 Prozent aufwenden müssten, um alle Lücken in den nächsten Jahren zu füllen. Unterstellt ist dabei, dass die USA mit signifikanten Kräften und Fähigkeiten in Europa stationiert bleiben.

Hegseth hatte dagegen klar gesagt, dass die Europäer künftig für ihre eigene „konventionelle Sicherheit“ Verantwortung tragen müssten. Derzeit haben die USA rund 100.000 Soldaten auf dieser Seite des Atlantiks stationiert. Davon könnten sie wohl den größten Teil abziehen. Der Rest würde nur noch für die Aufklärung und den nuklearen Schutzschirm benötigt.

Wenn sich die Amerikaner von jetzt auf gleich aus der Abschreckung in Europa herauszögen, sagte Pistorius, „wäre das der Friedensordnung in Europa und damit in der Welt nicht zuträglich“. Ein Datum hatte Hegseth dafür nicht genannt. Doch zeigte allein dieser Satz des Verteidigungsministers, wie nervös die Allianz gerade ist.