Es gehört zu den bittersüßen Wahrheiten des Lebens, dass es manchmal die Tiefschläge sind, die einen weiterbringen. Die einem bis dato verschlossene Türen öffnen. Die einen für Neues wappnen. Darüber sind Romane geschrieben und Lieder gesungen worden, jeder Coach hat das im Repertoire. Und doch hat es seinen Reiz, den Vorgang in Echtzeit zu beobachten. Erst recht, wenn er sich unter Spitzenmanagern, in den obersten Etagen von Milliardenkonzernen vollzieht.
Die Hauptversammlung von Siemens in dieser Woche bot dafür eine Gelegenheit. Ulf Mark Schneider wurde in den Aufsichtsrat gewählt. In spätestens zwei Jahren soll der frühere Vorstandsvorsitzende von Nestlé und Fresenius den Vorsitz des Gremiums übernehmen.
Viel symbolträchtiger geht es kaum in der deutschen Industrie. Der Konzern, der bald 180 Jahre alt wird, hat einen Ruf wie Donnerhall, gewiss, er bietet Ingenieurskunst in Vollendung, unbedingt. Neben den schnittigen neuen Konkurrenten aus Asien und Kalifornien, den „digital natives“ der Weltwirtschaft, wirkt Siemens mit seinem großen Erbe allen gegenteiligen Beteuerungen des Managements zum Trotz aber auch immer etwas schwerfällig, bürokratisch, stets in Verzettelungsgefahr. Ein Sinnbild für ganz Deutschland.
Ein Senkrechtstarter unter Deutschlands Managern
Nun liegt die Vermutung nahe, dass in einem Unternehmen von solchem Rang, mit mehr als 340.000 Beschäftigten und zuletzt 76 Milliarden Euro Umsatz, die Besetzung von Schlüsselstellen von langer Hand und generalstabsmäßig durchgeplant wird. Ulf Mark Schneider konnte bis vor einem halben Jahr jedoch nicht ahnen, dass er sich den Aktionären nun zur Wahl stellen können würde.
Schneider war ein Senkrechtstarter. In der Schule übersprang er eine Klasse, zum BWL-Studium samt Promotion ging er an die Schweizer Vorzeigehochschule in St. Gallen, ein MBA von der Harvard Business School kam dazu. Schon mit 24 Jahren fing er bei Haniel in Duisburg an, stieg als Finanzfachmann schnell auf. Den ersten Chefposten übernahm er mit 37 bei Fresenius, dem Gesundheitskonzern aus Bad Homburg.
Dort gelang ihm mit vielen klugen Zukäufen sein Meisterstück. Unter seiner Führung stieg das Unternehmen, das eben noch ein Mittelständler gewesen war, in den Dax auf. Es wurde mit den Helios-Kliniken zum größten Krankenhausbetreiber der Republik und baute zügig sein internationales Geschäft aus. Als Schneider nach 13 Jahren ging, war die Firma an der Börse zwanzigmal so viel wert wie bei seinem Antritt.
Es war eine Anerkennung dieser Leistung, aber auch ein Wagnis, dass er danach an die Spitze von Nestlé berufen wurde. Nicht nur weil der Nespresso-, Maggi- und Buitoni-Konzern als Ikone der Schweizer Industrie und größter Lebensmittelhersteller der Welt in einer anderen Liga spielt. Sondern auch, weil ein deutscher Manager ohne jeden Stallgeruch in der gediegen eidgenössischen Zentrale in Vevey am Genfer See automatisch kritisch beäugt wird.
Schiffbruch am Genfer See
Schneider schlug sich mehr als acht Jahre lang wacker. Hin und wieder fehlte ihm die Fortüne. Vor allem aber fehlte ihm auf die Dauer wohl das Vertrauen des mächtigen Verwaltungsratspräsidenten von Nestlé, der pikanterweise sein direkter Vorgänger als Vorstandsvorsitzender gewesen war.
So kam es, dass Ulf Mark Schneider im vergangenen August buchstäblich von heute auf morgen von Nestlé abserviert wurde. Über die Schmutzeleien, die dazu führten, haben sich beide Seiten Stillschweigen verordnet. Verbürgt ist, dass es keine Gremiensitzung gab, in der die bevorstehende Abberufung ein Thema gewesen wäre. Bei seinem letzten großen Interview als Nestlé-Chef, das Schneider der F.A.S. wenige Wochen vorher in Vevey gegeben hatte, war von Amtsmüdigkeit nichts zu spüren. Er hatte auf Anregung der Redaktion sogar seine beiden Hündinnen mitgebracht, weil es in dem Gespräch vor allem um die Tierfuttersparte des Konzerns gehen sollte.
Kurzum: Die Entscheidung gegen ihn fiel auf kurzem Dienstweg, hinter den Kulissen. So einen Tiefschlag hatte es in seinem Berufsleben zuvor nicht einmal annähernd gegeben.
Keine Frage, dass er mit Ende 50 gern darum herumgekommen wäre. Aber was soll man sagen? Dann hätte er für Siemens jetzt schlicht nicht zur Verfügung gestanden, weil ein Vorstandschef nicht anderswo auch noch Aufsichtsratschef sein darf. Er hätte das vermutlich beste Alter verpasst, in dem ein Wechsel aus dem Tagesgeschäft des Vorstands in die Rolle eines Aufsichtsrats stattfinden sollte. Und ihm hätte für die neue Aufgabe eine entscheidende Erfahrung gefehlt.
„Auf hohle Sprüche gibt er nichts“
Einige Kritiker hatten ihre Punkte schnell bei der Hand, als Schneider von Siemens nominiert wurde. Erstens ist er sieben Wochen älter als der bisherige Aufsichtsratsvorsitzende, den er beerben soll. Zweitens fehlt ihm in München wie zuvor in Vevey der Stallgeruch. Drittens ging es bei Nestlé in erster Linie um Lebensmittel, nicht um die aktuellen Siemens-Zauberworte Software, Digitalisierung, Künstliche Intelligenz.
Dieser dritte Einwand zeigt indes bloß, wie tief unter dem Radar der deutschen Öffentlichkeit Schneider bisher weithin geblieben ist. Er war zwar der einzige Deutsche, der einen derart namhaften Konzern wie Nestlé im Ausland führte, es war aber nun mal kein deutsches Unternehmen. Und Fresenius ist mit seinen verschiedenen Sparten schwer zu fassen. Dass ein gleichnamiger, jedoch viel kleinerer Laborbetrieb mit seinem Qualitätssiegel für Lebensmittel und Kosmetika einen viel höheren Bekanntheitsgrad haben dürfte, macht die Sache nur noch schlimmer.
Dazu kommt, dass Schneider kein Lautsprecher und kein Selbstdarsteller ist. Er neigt nicht zu Gefühlsausbrüchen. Er hat auch keinen Drang zum Poltern und zur politischen Grandezza wie früher Martin Brudermüller bei BASF oder Joe Kaeser bei Siemens. Nüchtern, analytisch, blitzgescheit – so beschreiben ihn seine Weggefährten. Bei Fresenius erzählt man sich bis heute mit leichtem Schaudern davon, wie kühl Schneider es in Konferenz- und Vortragsräumen stets haben wollte.
Ein Milliardendeal als Charakterprobe
„Auf hohle Sprüche oder schöne Geschichten hat er nie etwas gegeben“, sagt Franceso De Meo, der als Chef der Klinikkette Helios acht Jahre lang neben Schneider im Fresenius-Vorstand saß. Dessen Vertrauen habe man sich mühsam verdienen müssen, und zwar mit messbaren Erfolgen. Im Gegenzug sei auf Schneider aber auch stets Verlass gewesen. „Das war seine Art zu führen. Wer lieferte, der bekam Freiräume.“
In Bad Homburg kursiert eine weitere Anekdote aus der Schneider-Zeit, die nun plötzlich aktuell ist. Sie geht so: Der langjährige Fresenius-Chef Gerd Krick hatte den aufstrebenden Jungmanager gerade als seinen Nachfolger installiert und sich selbst in den Aufsichtsrat verabschiedet, als er Schneider bei einem Mittagessen sagte, dieser dürfe ihn in seiner neuen Rolle selbstverständlich jederzeit um Rat fragen. Er möge es bloß nicht zu oft tun.
Die Botschaft kam an. Wann immer Schneider später über die bestmögliche „Governance“ sprach, die Rollenverteilung zwischen Vorstand und Aufsicht, klang jenes Beispiel als Ideal durch. Sofern er sich an sein altes Vorbild hält, bekommt Siemens keinen Schatten-Vorstandschef, der aus dem Aufsichtsrat heraus alles besser zu wissen glaubt. Das Verhältnis birgt prinzipiell jede Menge Zündstoff: Der Vorstand soll neue Märkte erschließen, tolle Produkte nach vorn bringen, Gewinne erzielen, Tag für Tag mit Vollgas. Der Aufsichtsrat soll mit gebührendem Abstand darauf achten, dass dabei alle Regeln eingehalten, die Interessen von Aktionären und Beschäftigten gewahrt werden. Das ist keine Vollzeitbeschäftigung, es gibt dafür auch viel weniger Geld – aber die Kontrolleure sitzen letztlich am längeren Hebel.
Eine spektakuläre Übernahme, die Schneider bei Fresenius über die Bühne brachte, war der Kauf von mehr als 40 Standorten des Wettbewerbers Rhön-Klinikum für rund 3,3 Milliarden Euro. Ein wahrer Verhandlungsmarathon ging voran, weil Konkurrenten den Abschluss zu vereiteln suchten. Auf der anderen Seite des Verhandlungstischs saß damals der Rhön-Gründer Eugen Münch, einer der Pioniere des privaten Krankenhausgeschäfts in Deutschland. „Ich habe selten einen Menschen erlebt, der Sachverhalte so schnell kapierte“, erinnert er sich. „Herausragend war, dass er nie versucht hat zu tricksen oder hintenrum zu spielen. Er war geradeaus, auch wenn mal etwas nicht so klappte wie erhofft.“
Get mad about it, and get over it
So formt sich ein Charakterbild. Ein weit verzweigter, nicht immer nur mit Transparenz glänzender Konzern wie Siemens dürfte davon durchaus profitieren. Von Schneiders Arbeitsethos sowieso. Müßiggang war seine Sache nie. Nach dem Rauswurf bei Nestlé, heißt es nun aus seinem Umfeld, habe er sich und der Familie ein paar gemeinsame Ferientage extra gegönnt, mehr nicht. Sosehr ihn der Abgang gewurmt habe, so schnell und gründlich habe er sich der Suche nach einem neuen Job gewidmet. Aus Frust die Schweiz zu verlassen oder gar das Hundefutter zu wechseln hätte nicht dem Anspruch genügt, mit dem Scheitern professionell umzugehen.
Get mad about it, and get over it. Schneider hat für viele Lebenssituationen solche knackigen englischen Redewendungen parat. Das ist bei ihm nicht aufgesetzt. Er ist seit seiner Jugend ein bekennender USA-Fan, nicht einmal Donald Trump kann daran etwas ändern. Vor mehr als 20 Jahren erhielt er nach Arbeitsvisum und Green Card auch die amerikanische Staatsbürgerschaft. Er war mit einer Amerikanerin verheiratet, und weil sein erster Vorname auf Englisch schwierig auszusprechen ist, nutzt er heute vorzugsweise den zweiten.
War gerade von Jobsuche die Rede? Es ging eher ums Aussuchen. Schneider selbst will zurzeit weder darüber noch über seine Ideen für Siemens öffentlich reden. In München macht man aber kein Geheimnis daraus, dass der amtierende Aufsichtsratschef Jim Hagemann Snabe ihn schon länger auf seiner Liste hatte und gleich am Tag nach der Bekanntgabe des Rauswurfs anrief, um Schneider als Nachfolger zu gewinnen.
Beide kennen und schätzen einander seit Langem. Schneider war mit Fresenius einst ein wichtiger Kunde von Snabe, als dieser noch den Softwarekonzern SAP führte. Später gehörten beide dem Kuratorium des Weltwirtschaftsforums in Davos an.
Effizienz für Smoothies und Fabriken
Das führt zur Frage, was den Ex-Chef eines Pizza- und Tierfutterherstellers rein fachlich für ein Unternehmen qualifiziert, das sich vom Irgendwas-mit-Ingenieuren-Konglomerat zum Hightech-Anbieter mit Digitalisierungsdrang zu wandeln versucht. Antwort: Schneider ist ein Technikfreak. Er schwärmt privat von schnellen Autos wie von neuen Smartphones. Und beruflich war er, ob bei der Fertigung von Dialysegeräten für Fresenius oder bei der Verpackung von Kaffeekapseln für Nestlé, stets hinter neuer Technik und schlauer Software her, um Abläufe effizienter zu machen, und sei es im Promillebereich. Wobei die beiden Lebenssphären sich bisweilen überlappten. Schneiders Augen leuchteten, als er einmal davon erzählte, wie er die morgendliche Küchenroutine für das Herstellen von Smoothies optimiert, sprich um einige Minuten verkürzt habe.
Zwischenbilanz: So gewinnt man viel Respekt, aber nicht viele Herzen. Zur Siemens-Hauptversammlung, die Snabe mit offenem Kragen und verschmitztem Lächeln leitete, schickte Schneider eine Videobotschaft mit Krawatte und geschlossenem Sakko. Tadellos, aber kühl.
Die Aktionäre haben ihm das nicht übelgenommen und ihn mit mehr als 99 Prozent gewählt. Aber Schneider kann auch ganz anders. Mit den Jahren hat er, um im Bild zu bleiben, die Temperatur merklich steigen lassen. Er ist offener, lockerer, souveräner geworden – wenn nicht im Video, dann doch im persönlichen Austausch.
Vielleicht hat es damit zu tun, dass er in zweiter Ehe und vergleichsweise spät Vater wurde. Zum Vorteil gereicht es ihm allemal.
Und wie war das mit dem Tiefschlag, der einen erst für etwas Neues wappnet? Besser als ein im Bruch endender Konflikt mit dem Chef des Kontrollgremiums eines Großkonzerns kann einen ja wohl nichts darauf vorbereiten, selbst der Chef des Kontrollgremiums eines Großkonzerns zu werden. Zufälle gibt’s.