So etwas hat es noch nicht gegeben, jedenfalls nicht in der Bundesrepublik, seit sie vor gut 75 Jahren ihr erstes Parlament wählte. Es kann passieren, was will, ob es eine Wirtschaftskrise ist oder eine Serie von Attentaten, ob zum ersten Mal eine Bundestagsmehrheit mithilfe von Rechtspopulisten zustande kommt oder der US-Präsident das westliche Bündnis faktisch aufkündigt: An den Umfragewerten für die Parteien ändert das praktisch nichts. Die Institute hätten sich in den vergangenen zwölf Monaten die Mühe sparen können, die Wähler zu befragen. Sie hätten ihre Tabellen vom Februar 2024 einfach nur im Copy-Paste-Verfahren reproduzieren müssen, um die Werte für den Februar 2025 zu ermitteln. Die Veränderungen bewegen sich im Bereich der statistischen Fehlertoleranz.
Das wirft mehr als in jeder Kampagne zuvor die Frage auf, wovon die Leute ihre Wahlentscheidung eigentlich abhängig machen. Kurz nach der weltpolitischen Wende von 1989/90, als alle anderen Probleme gelöst erschienen und der Kapitalismus auch über den alten Westen hinaus seinen globalen Siegeszug antrat, schien die Antwort festzustehen: „It’s the economy, stupid“ („Es ist die Wirtschaft, Dummkopf“), verkündete 1992 der legendäre Wahlkampfberater der US-Demokraten James Carville.
Er verhalf damit seinem Kandidaten Bill Clinton zum Wahlsieg über George Bush senior. Ein halbes Jahrzehnt später folgten Tony Blair im Vereinigten Königreich und Gerhard Schröder in Deutschland. Schröders Adaption des Satzes lautete, es gebe keine linke oder rechte, sondern nur gute oder schlechte Wirtschaftspolitik. Später war Wahlkampfstratege Carville aber nicht mehr so erfolgreich, mit seiner Kampagne für John Kerry unterlag er George Bush junior. Und unklar bleibt auch, ob die Leute unter „Wirtschaft“ ihre individuelle ökonomische Lage meinten oder die Gesamtsituation des Landes – auch wenn in der Zeit vor der demographischen Wende Letztere gewiss stärker auf Erstere durchschlug als heute.
„Absolut zentral ist die Problemlösungskompetenz“
Stimmt die These vom Primat der Ökonomie also überhaupt, damals schon oder erst recht in der aktuellen Situation? „Absolut zentral ist die Problemlösungskompetenz, die ich der Partei unterstelle“, sagt der Politologe Karl-Rudolf Korte, Direktor der NRW School of Governance und Autor eines Buchs über „Wählermärkte“.
Demnach wählen die Leute diejenige Partei, der sie auf dem für sie wichtigsten Themenfeld die größte Durchsetzungsfähigkeit zutrauen. Das wäre also klassischerweise für die CDU die Wirtschaft, für die SPD der Sozialstaat, für die Grünen die Umweltpolitik oder für die AfD die Migration. Die Entscheidung hängt demnach weniger von persönlichen Sympathien oder einzelnen Führungsfiguren ab als von der Frage, welches Problem die Wähler jeweils als vordringlich empfinden.
Aber heißt das, dass zum Beispiel ökonomisch orientierte Wähler daheim sitzen und mit der Taschenrechner-Funktion ihres Smartphones ausrechnen, welche Partei für sie persönlich das größte finanzielle Plus im Angebot hat? Wohl kaum. Darauf setzen die Parteien zwar in ihren Programmen. Union und FDP versprechen Steuersenkungen, die Sozialdemokraten stellen stabile Renten in Aussicht und die Grünen neuerdings billigen Strom, die AfD will die Altersbezüge gar auf das österreichische Niveau anheben. „Mehr für Dich“, plakatiert die SPD ganz direkt, andere Parteien machen es kaum subtiler.

Die Wähler allerdings lassen sich davon nur mäßig beeindrucken, glaubt nicht nur Politikwissenschaftler Korte. Man braucht schon sehr spezielle Kenntnisse des Steuer- und Sozialrechts, um das individuelle Plus abzuschätzen, wenn etwa die Schwelle für den Spitzensteuersatz steigt oder die Rente auf einem bestimmten Niveau stabilisiert wird. Hinzu kommt eine gehörige Skepsis, ob es hinterher auch so kommt.
Dass etwa die üppigen Sozialstaatsversprechen der Linken kaum zu bezahlen sind, dürfte dem Publikum mehrheitlich sehr bewusst sein, sonst hätte die Partei schon früher größere Umfrageerfolge erzielt und nicht erst aufgrund der Debatte um Migration und Rechtsextremismus. Und auch die Versprechen der mittigeren Parteien wurden hinterher selten wahr, zumal die deutschen Koalitionszwänge stets argumentative Auswege offen lassen, warum sich das eigene Programm leider nicht im Maßstab 1:1 umsetzen ließ.
Langfristige Parteibindungen gelockert
Früher lagen die Dinge übersichtlicher. Da klang es fast schon übertrieben, von einer Wahl-„Entscheidung“ zu sprechen. Für welche der beiden großen Volksparteien die Leute stimmten, für CDU oder SPD, das erklärte sich in der frühen Bundesrepublik vielfach noch von selbst, aus der Zugehörigkeit zu „sozialmoralischen Milieus“, wie es der Soziologe M. Rainer Lepsius mit Blick auf Kaiserreich oder Weimarer Republik formuliert hatte. Ein Industriearbeiter aus dem Ruhrgebiet wählte selbstverständlich die SPD, eine katholische Hausfrau vom Lande natürlich die CDU.
In den Vereinigten Staaten war es vor allem der Soziologe Seymour M. Lipset, der einst konstatierte, die Wählerschaft spalte sich seit dem 19. Jahrhundert entlang der großen Konfliktlinien von Kapital und Arbeit, Kirche und Staat, Stadt und Land, Zentrum und Peripherie, deren Dauerhaftigkeit er betonte. Nun war Lipset allerdings auch der Meinung, ökonomische Entwicklung führe auf lange Sicht zwangsläufig zu Demokratisierung. Dieser umfassende Ansatz seiner Modernisierungstheorie hat durch die jüngere Entwicklung, nicht nur in China, einiges an Plausibilität eingebüßt
Aber ist deshalb auch seine Theorie der Wahlentscheidungen obsolet? Gewiss haben sich langfristige Parteibindungen gelockert, die Wahlergebnisse sind schon seit längerer Zeit volatiler geworden, und das Parteiensystem hat sich ausdifferenziert.
Kommunikation im persönlichen Umfeld
Obsolet sind Milieubindungen aber nicht geworden, das zeigt schon der Blick auf bestimmte Wohnviertel. Wer in Freiburg, Berlin-Kreuzberg oder einem Wiener Altbaubezirk namens Neubau wohnt, wählt immer noch mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit die Grünen. Wer hingegen im sächsischen Erzgebirge lebt oder im thüringischen Landkreis Sonneberg, der stimmt mit sehr viel höherer Wahrscheinlichkeit für die AfD.
Vielleicht hilft hier ein Hinweis des weltweiten Pioniers der Wahlforschung weiter. Paul Lazarsfeld veröffentlichte 1944 eine damals bahnbrechende Studie über „Wahlen und Wähler“ in den Vereinigten Staaten. Auch er sah das Stimmverhalten zwar im Zusammenhang mit dem sozioökonomischen Status, der Konfessionszugehörigkeit und der Größe des Wohnortes, er fügte allerdings einen wesentlichen Aspekt hinzu: die Kommunikation im persönlichen Umfeld, die all diese Einflüsse verstärken, im Einzelfall aber auch abschwächen konnte.
Das ist ein Aspekt, der heute stärker durchschlägt denn je, auch wenn sich dieses Umfeld zu beträchtlichen Teilen in die Wolke der sozialen Medien verlagert hat. Es ist heute leichter denn je, anderen Meinungen als der jeweils eigenen zu entgehen. Und ob man für oder gegen die Wärmepumpe eintritt, ein restriktiveres Asylsystem befürwortet oder ablehnt, Windräder als Zukunftsversprechen begrüßt oder als Landschaftsverschandelung verteufelt: Das hängt sehr viel weniger von Fachkenntnissen über Heizsysteme, Ausländerrecht oder Vogelschutz ab als von dem Milieu, in dem man sich online wie offline bewegt – und von den Ansichten, die dort als naturgegeben betrachtet werden.
Überwunden geglaubte Unterschiede leben wieder auf
Nur dass sich diese Linien eben nicht mehr nach den Magneten der alten Volksparteien CDU und SPD ausrichten. Das hat auch mit den Folgen jener Bildungsexpansion zu tun, deren Opfer vor allem die Sozialdemokraten geworden sind. Gar nicht so sehr, weil einem verbreiteten Klischee zufolge die Studienräte die Oberhand gewonnen hätten. Sondern weil die Akademisierung der Gesellschaft den Berufstätigen ohne Abitur und Hochschulabschluss den Status der beherrschenden gesellschaftlichen Majorität genommen hat. Der amtierende Bundeskanzler Olaf Scholz hat das Problem erkannt und 2021 mit seinem „Respekt“-Wahlkampf adressiert; sein jüngster Versuch, in seiner Rede auf dem Wahlparteitag so oft wie möglich das Wort „normal“ einzustreuen, wirkte allerdings einigermaßen hilflos.
Dass es diese zwei großen Lager nicht mehr gibt, bedeutet aber nicht, dass die Wählerschaft bindungslos fluktuiert. Gruppenzugehörigkeit gibt es noch immer, nur dass sie sich stärker ausdifferenziert hat. Eine Orientierung bieten die zehn Milieus, in die das Sinus-Institut die deutsche Bevölkerung seit den späten Siebzigerjahren unterteilt, ursprünglich für Zwecke des kommerziellen Marketings. Sie lassen sich zwar nicht so eindeutig den sieben Parteien mit Aussicht auf Einzug in den Bundestag zuordnen wie früher die beiden Volksparteien den Arbeitern oder Katholiken. Aber es liegt auf der Hand, dass sich etwa Ökologen und Postmaterialisten stärker zu den Grünen hingezogen fühlen oder Konsumorientierte zur CDU. Schon an diesen Beispielen zeigt sich, dass in einer Wohlstandsgesellschaft kulturelle Distinktionen teils wichtiger geworden sind als rein materielle Statusunterschiede.
Auch überwunden geglaubte Unterschiede leben wieder auf. Nachdem Auto und Gefriertruhe die materiellen Unterschiede zwischen Stadt und Land zumindest in Deutschland weitgehend eingeebnet hatten, scheint dieser Gegensatz neuerdings wieder aufzuleben. Das betrifft aber vor allem den Unterschied zwischen wachsenden und schrumpfenden Regionen. Im internationalen Vergleich korreliert kaum ein Faktor so stark mit der Stimmabgabe für rechtspopulistische Parteien wie die Abwanderungsrate in der eigenen Region. Von der „Angst vor dem Aussterben“ sprach der bulgarische Politologe Ivan Krastev. Er stammt aus dem am stärksten schrumpfenden Land Europas, wenn man Ostdeutschland nicht mitzählt.
Hinzu kommt aktuell die Unzufriedenheit mit dem Personalangebot. Kurz vor der Wahl 2017 führte Angela Merkel bei der Kanzlerpräferenz laut Forschungsgruppe Wahlen mit 56 Prozent vor Martin Schulz mit 32 Prozent. Heute kommt der Favorit Merz gerade mal auf den Wert des damaligen Wahlverlierers, die anderen liegen abgeschlagen dahinter.
Aber kann das allein den aktuellen Stillstand erklären? „Eine umfassende Theorie des Wahlverhaltens ist nicht in Sicht“, konstatierte der Politologe Korte schon im letzten Wahljahr 2021. Der „komplexe Prozess der Wahlentscheidung in seinen unterschiedlichen Facetten“ werde wohl nie komplett zu entschlüsseln sein.