Deutschland vor der Bundestagswahl: Schrumpfen oder wachsen?

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Im August 2022, wenige Monate nach Russlands Angriff auf die Ukraine, schrieb die britische Zeitschrift „The Economist“ bewundernd über „The new Germany“. Dank Putin sei Europas wichtigstes Land aufgewacht. Mit seiner „Zeitenwende“-Rede habe Kanzler Scholz die Agenda für die nächsten Jahre gesetzt. Es biete sich nun die seltene Chance, im Konsens versäumte Reformen zugunsten der Wirtschaft und Verteidigung durchzusetzen. Der Leitartikel endet freilich mit einer Warnung: Die größte Gefahr liege darin, dass das Momentum verloren gehe und Deutschland in Vorsicht und Starre zurückfalle.

Wie berechtigt sie war, zeigt der Bruch der Ampelkoalition über die Erfordernisse einer „Wirtschaftswende“. SPD, Grünen und FDP fehlte die Kraft, ihren ideologischen Konflikt über den richtigen wirtschaftspolitischen Kurs zu überbrücken. Kern des Streits: Rot und Grün wollten schuldenfinanziert neue Staatshilfen lockermachen gegen die Wirtschaftskrise. Ihr Augenmerk lag auf einer Industriepolitik, die gezielt politisch erwünschte Geschäftsmodelle fördert. Die FDP verteidigte dagegen die Regeln der Schuldenbremse, die keine neue Notlage rechtfertigten, und warb dafür, die Rahmenbedingungen für alle Unternehmen zu verbessern durch Lösen hausgemachter Wachstumsblockaden.

Der Richtungsstreit, bei dem die Union aufseiten der FDP steht, durchzieht auch den Wahlkampf: Welche Politik braucht es, damit die deutsche Wirtschaft nach zwei Schrumpfungsjahren wieder Tritt fasst? Zwar hat sich die Migrationsdebatte in den Vordergrund geschoben durch die Morde in Aschaffenburg, die mutmaßlich ein abzuschiebender Asylbewerber beging. Aber auch im ungelösten Problem der irregulären Migration liegt ein politisch verursachter Standortnachteil für die deutsche Wirtschaft. Sie ist durch den Ruhestand der Millionen Babyboomer auf qualifizierte Zuwanderer angewiesen. Doch belasten der zu lange hingenommene Kontrollverlust an den Grenzen und die daraus resultierenden Integrationsschwierigkeiten auch die nötige, klug gesteuerte Fachkräftezuwanderung.

Wettbewerbsfähigkeit leidet unter geopolitischen Krisen

Der bittere Befund: Fünf Jahre nach der Pandemie liegt die deutsche Wirtschaftsleistung kaum höher als vor Ausbruch des Virus. Das Bruttoinlandsprodukt ist zweimal nacheinander geschrumpft, nach 0,3 Prozent 2023 blieb auch 2024 ein Minus von 0,2 Prozent – trotz wachsenden Welthandels. Das deutet auf sinkende Wettbewerbsfähigkeit der exportorientierten Industrie, die ein Viertel der Wertschöpfung liefert. Offenkundig leidet sie unter geopolitischen Krisen und Spannungen stärker als ihre Wettbewerber in der Welt.

Da liegt es nahe, die Ursachen nicht allein in Managementfehlern zu suchen, sondern in strukturellen Standortnachteilen. Auf der Hand liegen die langjährigen staatlichen Versäumnisse in der Modernisierung der Verkehrsachsen und der Verwaltung. Schlagend sind die Belege für eine überzogene Regulierung der Unternehmen, wobei deutsche Politik auf EU-Vorgaben immer noch eins draufsetzt. Und zur schon früher hohen Belastung durch Steuern und Sozialabgaben kommen nun hohe Energiekosten. Sie sind vor allem Resultat des Sonderwegs einer stark subventionierten Energiewende, die günstigen CO2-freien Strom aus eigenen AKWs unbeirrt abgeschaltet hat – selbst als klar wurde, dass russisches Gas schnell ersetzt werden muss durch teures LNG. Zum Fachkräftemangel trägt ein Bildungssystem bei, das zu viele Abgänger ohne hinreichende Qualifikation verlassen. Laut Berufsbildungsbericht hat jeder fünfte Erwachsene unter 35 Jahren hierzulande keinen Berufsabschluss.

Am Hochofen: Thyssenkrupp-Arbeiter in Schutzkleidung
Am Hochofen: Thyssenkrupp-Arbeiter in SchutzkleidungLucas Bäuml

Vielen privaten Investoren ist die Lust vergangen, ihr Kapital in Deutschland zu riskieren. Seit zwei Jahren sinken die Ausrüstungsinvestitionen, ein Wachstumstreiber. Die Produktivität bleibt hartnäckig schwach. Den Verlust an Wettbewerbsfähigkeit dokumentieren Standortrankings. Deutschland fiel binnen zehn Jahren vom sechsten auf den 24. Platz unter 67 Ländern ab, die die renommierte Schweizer Wirtschaftshochschule IMD jährlich vergleicht. Die Anpassungsprobleme der Industrie schlagen sich monatlich im Verlust von rund 10.000 gut entlohnten Arbeitsplätzen nieder. So macht das Schlagwort von der „Deindustrialisierung“ die Runde. Die Arbeitslosenzahl ist im Januar auf fast drei Millionen gestiegen, darunter erstmals seit der Pandemie wieder mehr als eine Million Langzeitarbeitslose. Lässt die Aufnahmefähigkeit des Arbeitsmarkts für geringer Qualifizierte nach, erschwert das die auch Integration Geflüchteter.

Kein Wunder, dass sich große Hoffnungen auf einen politischen Wechsel richten nach der vorgezogenen Wahl am 23. Februar. Knapp die Hälfte der Bevölkerung verknüpft mit einem Regierungswechsel bessere Chancen auf wirtschaftliche Erholung. Noch größer sind die Erwartungen unter Führungskräften, zeigen Umfragen der Meinungsforscher aus Allensbach für die F.A.Z. „Diese Hoffnung hängt in Wirtschaft wie Bevölkerung an einen Wahlsieg der Union; in Bezug auf das Vertrauen in ihre Kompetenz, den Standort zu stärken, hat sie fast ein Alleinstellungsmerkmal. 50 Prozent trauen ihr am ehesten zu, den Standort und die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken“, schrieb Allensbach-Chefin Köcher. Allerdings mache sich „sofort Ernüchterung“ breit, werde von einem Wechsel zu einer bestimmten Koalition gesprochen. Dass die Union höchstwahrscheinlich auf einen Partner der gescheiterten Ampel angewiesen sei, dämpfe die Hoffnungen auf eine bessere Politik.

Staatliche Subventionen zur Kostensenkung

Was muss sich ändern, damit die Wirtschaftswende gelingt? Auf den ersten Blick besteht unter den möglichen Koalitionspartnern der Mitte in zentralen Punkten große Einigkeit: Nötig seien niedrigere Strompreise, eine steuerliche Entlastung der Unternehmen, weniger Berichtspflichten und Bürokratie, straffe Genehmigungsverfahren durch digitale Verwaltungen und funktionsfähige Verkehrsachsen. Doch auch die Ampelparteien waren sich über diese Ziele weitgehend einig, nicht aber über die Instrumente und eine tragfähige Finanzierung. Ob Reformen einen dauerhaften Wachstumsimpuls setzen oder schnell verpuffen, hängt aber entscheidend von der Wahl der Mittel ab. Es geht darum, das Vertrauen der Investoren langfristig zurückzugewinnen durch verlässlichen Abbau von Hürden und glaubhafte Entlastungen.

Beispiel Strompreise: Der schnellste Weg, die Kosten der Unternehmen zu senken, führt über weitere staatliche Subventionen. Tragfähiger wäre es, die Kostentreiber der Energiewende anzugehen. So sind die Netzentgelte durch einen besonders teuren Netzausbau hoch. Milliarden kostet jährlich die nötige Abriegelung der Netze, wenn zu viel Wind und Solarstrom fließen. Dringend reformbedürftig wäre die irrwitzige Fehlanreize setzende EEG-Einspeisevergütung für grünen Strom. Indem die Ampel die Einspeisevergütung von den Stromkunden in den Bundeshaushalt genommen hat, hat sie die Kosten – 2024 fast 20 Milliarden Euro – nur auf die Steuerzahler verlagert. Daneben bezuschusst der Bund energieintensive Betriebe, die grüne Transformation der Indus­trie, Heizungsumbau oder E-Autoabsatz und vieles mehr. Die Subventionen erschweren im Bund das Einhalten des verfassungsmäßigen Rahmens der Schuldenbremse. Trotzdem versprechen Union, SPD oder Grüne nach der Wahl noch die Bezuschussung der Netzentgelte.

Ökonomisch sinnvoller wäre es, die Strompreise durch eine Ausweitung des Energieangebots zu senken und dazu den heimischen Energiemix zu ändern (etwa durch die Zulassung des Frackings). Verzicht auf teure Erdverkabelung könnte den Netzausbau günstiger machen. Es ist also nicht die Schuldenbremse, die der Klimatransformation der Wirtschaft im Wege steht, wie SPD und Grüne kritisieren. Im Gegenteil zwingt die zum Schutz nachfolgender Generationen im Grundgesetz Artikel 115 verankerte Schuldenbremse, die Probleme der Energiewende an der Wurzel zu packen. Dazu gibt es gute Vorschläge, etwa die Angleichung des deutschen Klimaziels an die EU. Bisher soll Deutschland schon 2045 klimaneutral wirtschaften, fünf Jahre früher als der Rest der EU. Auch zu viel Tempo kann die Suche nach kostengünstigen Lösungen verhindern.

Rot-grüner Anreiz wäre schneller wirksam

Beispiel Steuersenkungen: Im internationalen Vergleich rangiert die Steuerlast deutscher Unternehmen im Spitzenfeld. Zur Entlastung stehen sich im Wahlkampf zwei Konzepte gegenüber: Union und FDP werben für eine stufenweise Senkung der Steuersätze um mindestens fünf Prozentpunkte, die potentiell allen Unternehmen zugutekäme. Durch die Streckung sollen die Steuerausfälle mit der Schuldenbremse vereinbar sein. Dagegen setzen SPD und Grüne auf eine zehnprozentige Steuerprämie für Investitionen. Mit einer Befristung auf fünf Jahre machen die Grünen deutlich, dass sie keine dauerhafte Entlastung der Unternehmen wollen. Zudem dürfte die Prämie an weitere politische Vorgaben geknüpft werden, um die Kosten zu begrenzen – auch wenn beide Parteien die Schuldenbremse stark lockern wollen.

Beiden Entlastungskonzepten können Ökonomen etwas abgewinnen. Schneller wirksam wäre wohl der rot-grüne Anreiz, allerdings bürokratischer und verbunden mit Vorzieh- und Mitnahmeeffekten. Hingegen signalisierte die Senkung der Steuersätze Investoren klar, dass ihre Gewinne dauerhaft niedriger belastet werden. Damit steht eine verlässliche Verbesserung der Wettbewerbsbedingungen in Aussicht – fiskalisch solide untermauert, wenn die Regierung zudem der Schuldenbremse festhält und Steuerausfälle notfalls durch Sparmaßnahmen auffängt.

Beispiel Bürokratieabbau: Die Lieferkettengesetze sind zum Synonym geworden für das, was in Brüssel und Berlin schiefläuft: Ansässige Unternehmen werden politisch in Haftung genommen, um die hohen moralischen, sozialen und umweltpolitischen EU-Normen in aller Welt durchzusetzen. Das bürdet Unternehmen enorme Kosten für Umbau und Kontrolle ihrer Lieferanten auf, zwingt sie, einen Wust an Berichtspflichten zu erfüllen und Berater zu finanzieren, um rechtssicher zu agieren.

In der Produktion von LMS: Arbeiter mit einem produzierten Stoßfänger
In der Produktion von LMS: Arbeiter mit einem produzierten StoßfängerLucas Bäuml

Das ist nur einer von unzähligen Eingriffen, die die Wirtschaft derart fesseln, dass Verbände für die Forderung nach Bürokratieabbau jüngst in Berlin demonstrierten. Doch auch in der Politik ist die Einsicht gereift, dass überbordende Bürokratie der Wettbewerbsfähigkeit massiv schadet und staatlich kaum noch administrierbar ist. Aufhorchen ließ eine Zahl im Draghi-Bericht letzten Sommer: Danach hat EU in den vergangenen fünf Jahren mehr als 13.000 Rechtsakte verabschiedet, während es in den USA auf Bundeseben nur 5000 waren. Doch dem Brüsseler Versprechen, Berichtspflichten um 25 Prozent zu senken, misstraut die Wirtschaft ebenso wie vollmundigen Bekenntnissen deutscher Wahlkämpfer, zu dürftig sind die Ergebnisse diverser Bürokratieabbaugesetze.

Die Skepsis ist berechtigt, denn am Aufbau der Regulierung sind vier Ebenen eifrig beteiligt: Kommunen, Länder, Bund und „Brüssel“. Da die föderalen Zuständigkeiten zersplittert sind, wird vieles mehrfach geregelt, dazu widersprüchlich, müssen Unternehmen und Bürger mit regional unterschiedlichen Vorgaben zurechtkommen. Die Fülle der Normen überfordert auch Behörden, Antrags- und Genehmigungsstau sind eine Folge.

Auch die Erwartung, mittels Digitalisierung werde das Viel-Ebenen-Gestrüpp effizient beherrschbar, hat einen Dämpfer bekommen: Ohne Straffung der Verfahren, Klärung oder Bündelung von Kompetenzen und Abbau von Regeln bringt auch Digitalisierung keine durchgreifende Erleichterung. Darauf hat der Normenkon­trollrat jetzt aufmerksam gemacht. Sein pragmatischer Vorschlag: Aufgabenvollzug und technische Umsetzung für konkrete Verwaltungsleistungen sollten – ohne Änderung föderaler Zuständigkeiten – in „Kompetenzzentren“ gebündelt werden.

Gemischte Erfahrungen mit Föderalismuskommissionen

Die Alternative läge darin, eine neue Föderalismuskommission einzuberufen, in der Bund und Länder Zuständigkeiten und finanzielle Verantwortung klären. In den Wirtschaftsverbänden gibt es erste Stimmen, die diese Anstrengung für notwendig halten, um die Standortschwächen aus der föderalen Blockade zu beheben. Der frühere Finanzminister Steinbrück (SPD) hat mit Gleichgesinnten im Herbst eine überparteiliche „Initiative handlungsfähiger Staat“ ins Leben gerufen, die unter Schirmherrschaft des Bundespräsidenten Ideen für eine Staatsreform entwickeln soll – auch wenn allen klar ist, dass es wenig Chancen auf schnelle Erfolge gibt, während sich andere Länder mit großem Tempo modernisieren.

Die deutschen Erfahrungen mit Föderalismuskommissionen sind gemischt. Die letzte brachte (ebenfalls mit Steinbrücks Hilfe) 2009 die Schuldenbremse in die Verfassung, über die nun heftig gestritten wird. So hadern die Länder damit, dass die Bremse dem Bund jährlich einen kleinen Kreditspielraum zugesteht, während sie ihre Haushalte ohne Schulden ausgleichen müssen. Das ist auch deswegen schwierig, weil sie kaum eigene Steuerhoheit haben. Die damalige Föderalismuskommission sollte ihnen – ähnlich der Schweiz – bedeutende Steuergesetzgebungskompetenzen geben. Doch ihre Begeisterung über die Eigenständigkeit schwand, als ihnen klar wurde, dass sie dann für Steuererhöhungen vor ihren Bürgern allein geradestehen müssten, resümierte der Verfassungsrechtler Ferdinand Kirchhof später.

Die Idee einer Neuordnung der föderalen Verantwortung spielt im Wahlkampf keine Rolle, debattiert wird lieber über die Lockerung der Schuldenbremse. Doch neues Wirtschaftswachstum und mehr Wettbewerbsfähigkeit hängen nicht am Öffnen des Schuldendeckels. Über Umschichtungen im Haushalt, Sozialreformen und moderate Anhebung der Mehrwertsteuer kann die nächste Bundesregierung, wie Ifo-Präsident Fuest in der F.A.Z. vorgerechnet hat, genügend Ressourcen mobilisieren für die vorrangigen Aufgaben: Stärkung der Wirtschaft und Ausbau der Verteidigung. Die Wettbewerbsblockaden, die aus unklaren Zuständigkeiten und fehlender Finanzverantwortung im Föderalsystem resultieren, kann der Bund hingegen nicht allein lösen. Hier braucht es eine neue Kraftanstrengung mit den Ländern, um die Verfassung so zu ändern, dass der Föderalismus Deutschland nicht schwächer, sondern stärker macht.