Dazu gehören nicht nur Tiktok-Videos

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Es gibt tatsächlich noch Dinge, die für die Linken-Vorsitzende nicht ganz perfekt laufen in diesem Wahlkampf. Ein klirrend kalter Samstagnachmittag ist es im Wahlkreis von Ines Schwerdtner in Berlin-Lichtenberg. Sie geht an den Häuserriegeln entlang und klingelt an einer Tür nach der anderen, und wenn sie in den Flur hineingekommen ist, geht es an den Wohnungstüren weiter. Doch so richtig mag niemand mit ihr heute über die Linke sprechen, wenn die Türen sich überhaupt mal öffnen. Schwerdtner aber zieht lächelnd weiter, lässt ein paar Flyer zurück und zeigt auch so, dass die Linke noch da ist. Und dass nicht nur in Lichtenberg.

Denn die Partei, die Schwerdtner zusammen mit Jan van Aken führt, schreibt seit Wochen die kleine Aufstiegsgeschichte am Rande des großen Wahlkampfdramas, die immer mehr Menschen fasziniert. Fast mutet es an wie in kitschigen Drehbüchern: Der Außenseiter, lange abgeschrieben und doch wieder zurück aus der Todeszone der Umfragen, immer weiter geht es gut gelaunt bergauf bis zum Höhepunkt am Sonntag. Ein anderer Ton, andere Gesichter. Eine Spitzenkandidatin, Heidi Reichinnek, die auf Tiktok Erfolge und Reichweiten feiert, wie man es lange nur von der AfD kannte, und drei Parteigranden, die es noch einmal wissen wollen.

„Lichtenberg bleibt rot“

Dazu viele neue Linke – am Dienstag wurde mit 91.000 Mitgliedern der nächste Rekord verkündet. Fünf Prozent und mehr sind es in den Umfragen, Anfang der Woche war die Linke klare Nummer eins bei der Testwahl für Jugendliche. Doch gehört zu dem Wiederaufstieg der Partei noch mehr als nur knallige Filmchen in den sozialen Medien. Zum Beispiel an Türen klopfen.

Bevor Schwerdtner selbst loszieht an diesem Samstag, steht sie also in den Räumen eines Bürgervereins in Lichtenberg, um die Wahlkampfhelfer zu begrüßen. Sie sieht, was der Aufschwung der Linken bedeutet: Der Laden platzt aus allen Nähten, so viele sind gekommen, neue Mitglieder auch. Schwerdtner grüßt auf Deutsch und Englisch, sogar aus dem Ausland sind Genossen angereist, um zu helfen – und zu erfahren, wie das mit dem Aufschwung so geht. Es werde ein harter Kampf gegen die AfD, ruft sie, die tritt hier mit Beatrix von Storch an und sah lange wie der sichere Sieger aus. Schwerdtner ruft: „Lichtenberg bleibt rot.“

Ines Schwerdtner stimmt die Freiwilligen auf den Haustürwahlkampf ein
Ines Schwerdtner stimmt die Freiwilligen auf den Haustürwahlkampf einJens Gyarmaty

Die Linke und früher die PDS haben hier seit 1994 stets gewonnen, seit 2002 holte Gesine Lötzsch den Wahlkreis. Alter Osten, viel Platte und viel Armut. Im vergangenen Jahr kündigte Lötzsch ihren Rückzug an und kritisierte die damalige Parteispitze hart. Schwerdtner unterstützt sie nun aber, seit Oktober ist sie Vorsitzende. Da lagen schon die Abspaltung von Sahra Wagenknecht hinter der Partei, eine desaströse Europawahl und drei enttäuschende Landtagswahlen im Osten. Es war der Tiefpunkt.

Die 35 Jahre alte Schwerdtner und der 63 Jahre alte van Aken haben zusammen mit der Spitze der geschrumpften Linken-Gruppe im Bundestag um Reichinnek und Sören Pellmann vor allem eines geschafft: die Selbstzerfleischung gestoppt. Die Gruppenführung kommt nicht nur mit der Parteiführung aus, sie stimmen sich sogar ab – lange Zeit schwer vorstellbar für Linke. Wenn jetzt von Parteigranden mal Anmerkungen kommen zu Programmpunkten oder Flyern, erreichen sie die Vorsitzenden per SMS und nicht mehr über die Öffentlichkeit. Auch etwas ganz Neues.

Auf den Parteitagen gelang es van Aken und Schwerdtner sogar, ihrer vor allem bei Themen wie Israel und Russland besonders streitfreudigen Partei Kompromisse abzuringen, die sie zumindest mal nicht weiter angreifbar machen: Der Antisemitismus-Streit ist erst mal beigelegt, und Friedenspartei will man sein und keine Waffen liefern, aber ohne dass man sich allzu russlandfreundlich positioniert, wie es auch Linke gerne der Wagenknecht-Partei vorwerfen.

Konzentration auf wenige Kernthemen

Das war der erste Schritt. Die Konzentration auf wenige Kernthemen für den Wahlkampf der zweite: Mietendeckel und die Kosten für das Leben senken, indem zum Beispiel die Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel gestrichen wird. Und wie bei den Kernthemen konzentrierte die Parteispitze die Kräfte der Linken auf aussichtsreiche Wahlkreise, um mit mindestens drei Direktmandaten den Einzug in den Bundestag abzusichern. Dazu passt, dass Gregor Gysi, Bodo Ramelow und Dietmar Bartsch sich als „Mission Silberlocke“ in den Kampf um Wahlkreise eingemischt haben. Gysi und Ramelow könnten tatsächlich zwei Siege liefern, bei Bartsch wird es in Rostock schwierig – zu stark ist die AfD. Pellmann will seinen Wahlkreis in Leipzig verteidigen. Und Schwerdtner könnte in Lichtenberg ­gewinnen.

So kommt gerade viel zusammen zum Vorteil für die Linken. Reichinnek erreicht über die sozialen Medien junge Menschen in ungeahntem Ausmaße, die wahrscheinlich gar nicht mehr wissen, was die PDS eigentlich war. Ihre Rede als Reaktion auf den mit AfD-Stimmen beschlossenen Mi­gra­tions­antrag der Union im Bundestag wurde millionenfach aufgerufen. Die Linke investiert bei der Wahlkampagne mit 700.000 Euro vom 6,8-Millionen-Euro-Budget mehr als jemals zuvor in Social Media. Sogar die Silberlocken machen bei den Videos mit und erreichen zugleich noch Menschen, die damals schon PDS gewählt hatten. Und in den Wahlkreisen, auf die man sich konzentriert, wird an einer Tür nach der anderen geklopft – auch dank der vielen neuen Mitglieder.

„An der Straße werde ich nicht auf Tiktok-Videos von uns angesprochen“, sagt Schwerdtner. Das Geheimnis hier sei, das man das „Ground Game“ mache, viele Türen schaffe und das Material verteile. Sie sagt: „Hier zählt die Masse, das ist hier in Lichtenberg oldschool.“ Die neue Sichtbarkeit über die sozialen Medien, das helfe vielleicht bei enttäuschten Sozialdemokraten oder Grünen in anderen Teilen des Landes.

In kleinen Teams laufen die Freiwilligen in Berlin von Haus zu Haus
In kleinen Teams laufen die Freiwilligen in Berlin von Haus zu HausJens Gyarmaty

Schwerdtner hat von ihrer Vorgängerin Lötzsch gelernt, wie man im Wahlkreis gewinnen kann: „Eine, die sich kümmert“ steht auf ihren Wahlplakaten. Das klingt auch „oldschool“. „Die Leute wollen nicht von mir das Programm vorgetragen bekommen“, sagt Schwerdtner. Wenn sie sage ,Kommen Sie in meine Sozialsprechstunde‘, hörten die Bürger zu. Wenn Schwerdtner sage, dass sie ihr Gehalt als Vorsitzende deckele, imponiere das. „Das könnten für uns auch außerhalb von Berlin Ansätze sein, Nichtwähler wieder zu gewinnen oder sogar AfD-Wähler zurückzuholen“, sagt sie. „Das verstehen jetzt auch die jungen Aktivisten. Die wollen nicht nur demonstrieren, die wollen auch helfen.“ Kurz vor der Wahl vermeldet Schwerdtners Büro: An mehr als 60.000 Türen hat man in Lichtenberg schon geklopft.

Ines Schwerdtner klopft an Haustüren in Berlin-Lichtenberg
Ines Schwerdtner klopft an Haustüren in Berlin-LichtenbergJens Gyarmaty

„Gerade rechtzeitig kam der Aufwind im Wahlkampf noch, und jetzt wollen viele Menschen auch Teil davon sein“, sagt Schwerdtner. Man merke, wie die Amtseinführung von US-Präsident Donald Trump oder „der Tabubruch mit der AfD von Merz im Bundestag immer wieder mehr Leute zu uns bringt“. Die Linke gibt sich migrationsfreundlich. Schwerdtner sagt: „Wir sind jetzt die Brandmauer für viele, vor allem junge Menschen.“

Ähnlich sieht es auch einer der Silberlocken. Dietmar Bartsch sitzt am Montagnachmittag im Alten Stadthaus in Cottbus, zusammen mit den anderen beiden Silberlocken soll er hier auftreten. Er hat schon vieles erlebt in dieser Partei und ihren Vorgängern. So einen Hype wie bei diesem Wahlkampf aber auch noch nicht, sagt er. Selbst in der Tankstelle wird er jetzt schon nach einem Autogramm gefragt. „Wir haben es offensichtlich geschafft, eine Vertretungslücke auszufüllen“, sagt Bartsch. Es sei klar, dass der nächste Kanzler Friedrich Merz heißen werde und er entweder mit den Grünen oder der SPD regiere. „Wir sind völlig unverdächtig, gemeinsame Sache mit Merz zu machen“, sagt er. „Das hilft uns.“

Wiedereinzug oder Abgrund

Mit dem Aufschwung kommen auch neue Aufgaben, zumindest nach dem Wahltag. „Die vielen neuen Mitglieder werden uns nach der Wahl sicher auch herausfordern“, sagt Schwerdtner. „Jetzt ist es aber eine große Chance.“ Auch enttäuschte Mitglieder der einstigen Grünen Jugend entdecken ihr Herz für die Linken oder treten sogar ein. „Wahlkampf ist ein guter Zeitpunkt, um die Leute einzubinden“, sagt Schwerdtner. „Du bist seit einer Woche Mitglied, und wir können sagen: Komm mit uns auf die Straße.“

Bartsch sagt: „Wenn wir am nächsten Sonntag erfolgreich sind, stoßen wir eine Tür auf, und dahinter liegen viele Herausforderungen für Partei und Fraktion, die sie lösen müssen und werden.“ Wenn man aber diese Tür nicht aufstoßen und aus dem Bundestag scheiden würde, „dann wäre es meines Erachtens für uns nur noch Richtung Sekte gegangen“. Also Wiedereinzug oder Abgrund.

Dann muss Bartsch schon los. Bevor es auf die Bühne geht, treten die drei Silberlocken kurz hinaus auf den Marktplatz in die Kälte: So viele Menschen sind gekommen, dass im Saal nicht alle Platz gefunden haben, es kann ja nicht alles perfekt laufen. Die mehr als hundert, die noch warten, will man wenigstens kurz persönlich begrüßen. Als die drei dann auf der Bühne in der Halle von ihrer Mission und dem Aufschwung der Linken berichten, stehen immer noch viele in der Kälte und verfolgen das über Lautsprecher.